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INTERNATIONAL/176: Türkei - Nach den Wahlen wird Pressefreiheit weiter eingeschränkt (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 04. Dezember 2015

Türkei: Nach den Wahlen wird Pressefreiheit weiter eingeschränkt

von Joris Leverink


Bild: © Joris Leverink/IPS

Zeitungskiosk im Istanbuler Stadtteil Kadiköy
Bild: © Joris Leverink/IPS

ANKARA, Türkei (IPS) - Wieder stehen in der Türkei Journalisten vor Gericht. Drei Redakteure der Tageszeitung BirGün müssen sich seit dem 1. Dezember vor Gericht verantworten, weil sie Präsident Recep Tayyip Erdogan beleidigt haben sollen. Dieser wurde erst vor einem Monat erneut in seinem Amt bestätigt. Seitdem hat es bereits mehrere Fälle eingeschränkter Pressefreiheit gegeben.

Nur wenige Tage nach der Wahl am 1. November beeilte sich Beyza Kural, Reporterin der unabhängigen Presseagentur Bianet, zur Universität Istanbul zu gelangen, um über Auseinandersetzungen zwischen Studenten und der Polizei zu berichten. Vor Ort geriet Kural selbst in die Schusslinie: Ohne erkennbaren Grund wurde sie von einer Gruppe ziviler Polizeibeamter umringt und drangsaliert. Die Beamten legten ihr Handschellen an. Nur knapp entrann sie einer Verhaftung, weil mehrere Journalistenkollegen vor Ort intervenierten.

Videoaufnahmen zeigen, wie einer der Polizisten der Reporterin zurief: "Von jetzt an wird nichts mehr so sein wie es war! Das werden wir dir schon noch beibringen!" Das Video wurde innerhalb kürzester Zeit über soziale Medien wie Facebook und Twitter und unabhängige Medienplattformen weiterverbreitet. Für viele waren die Worte ein weiteres Indiz dafür, was sie bereits seit längerem befürchtet hatten: Nach dem Wahlsieg der Erdogan-Partei AKP würden es unabhängige Stimmen in den Medien noch schwerer haben Gehör zu finden, weil sie ständige Repressalien durch den Staat zu erwarten hätten.


Vorwurf: Spionage und Terrorismus

Die Vermutung wurde durch weitere Vorkommnisse in den Wochen nach der Wahl gestützt: Seit dem 26. November sind Can Dündar, Chefredakteur der führenden türkischen Tageszeitung Cumhuriyet, und sein Büroleiter in Ankara, Erdem Gül, in Haft. Ihnen werden Spionage und Terrorismus vorgeworfen, nachdem sie im Mai dieses Jahres über Vorwürfe gegen die türkischen Geheimdienste berichtet hatten, Waffen an islamistische Gruppen in Syrien zu liefern. Eine Woche vor der Verhaftung war die oppositionelle Tageszeitung Cumhuriyet von der internationalen Journalistenorganisation Reporter ohne Grenzen als Medium des Jahres ausgezeichnet worden. Die Organisation fordert nun von Erdogan, die Redakteure freizulassen.

Dazu kommt der am 1. Dezember begonnene Gerichtsprozess gegen drei Redakteure der Tageszeitung BirGün. Im Februar hatte die Zeitung in einer Schlagzeile Erdogan als "Dieb" und "Mörder" bezeichnet. Sie reagierten damit darauf, dass Teilnehmer regierungskritischer Demonstrationen wegen ähnlicher Aussagen in der Türkei vor Gericht gestellt worden waren.

Auf die Kritik am Umgang der Regierung mit Medienvertretern reagierte der türkische Premierminister Ahmet Davutoglu in einem Interview mit CNN am 10. November: "Die Freiheit der Presse und der Intellektuellen ist für mich unverzichtbar." Davutoglu war in den 1990er Jahren selbst Zeitungskolumnist gewesen. Dennoch waren seine Worte für viele Kritiker des Regimes reine Ironie. Nicht nur erinnerten sie sich an die Beinahe-Festnahme von Beyza Kural, sondern auch an die Polizeiaktion vom 28. Oktober, als sich Beamte am frühen Morgen gewaltsam den Zugang zu den Redaktionsräumen der Ipek-Mediengruppe verschafften und mehrere oppositionelle Zeitungen und Fernsehstationen abschalteten.

Die Aktion dauerte mehrere Stunden an. Die Polizei setzte Tränengas und Wasserwerfer ein, um die Menschenmenge, die sich im Versuch, das Eindringen der Polizei zu verhindern, vor den Redaktionsräumen versammelt hatte, zu vertreiben. Als sich die Polizisten schließlich Zugang verschafft hatten, unterbrachen sie als erstes die Live-Übertragung der Aktion. Schließlich wurde die gesamte Mediengruppe unter die Kontrolle von durch die Regierung eingesetzte Verwaltungsmitarbeiter gesetzt.


Welches Level an Demokratie gilt in der Türkei?

"Ob die Regierung noch auf die Unstimmigkeit zwischen ihren Worten und Taten eingehen wird? Oder wird sie einfach feststellen, dass dieses Level an Demokratie für die Türkei ausreichend ist?" fragte Cafer Solgun, Kolumnist der türkischen Tageszeitung Today's Zaman in einem seiner Zeitungsbeiträge.

Johann Bihr, Leiter des Osteuropa- und Zentralasien-Büros von Reporter ohne Grenzen, erklärte nach der Aktion: "Die Verfolgung kritischer Medien hat im Vorfeld der Wahlen beunruhigende Ausmaße angenommen. Der Versuch, die Ipek-Mediengruppe verstummen zu lassen, ist nur das jüngste Beispiel dafür."

Tatsächlich wurde die Pressefreiheit in der Türkei bereits in den vergangenen Jahren immer weiter eingeschränkt. Laut der Nichtregierungsorganisation Freedom House mit Sitz in Washington gilt die Presse in dem Land als "nicht frei". Die Rangliste der Pressefreiheit 2015 der Organisation Reporter ohne Grenzen hat die Türkei auf Platz 149 von 180 gesetzt.

Die Zeitung Bianet, deren Reporterin Kural beinahe ein weiteres Opfer der Zensur geworden wäre, hat detailliert Fälle dokumentiert, in denen die Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei beschnitten wurde. Demnach wurden allein von Juli bis September 2015 101 Webseiten, 40 Twitterkonten und 178 Zeitungsberichte zensiert. 21 Journalisten, drei Medienorgane und ein Zeitungsverlag seien angegriffen worden, 28 Journalisten angeklagt und 24 Journalisten sowie neun Zeitungsgroßhändler inhaftiert worden.

Bianet zufolge trifft die Einschränkung der Meinungsfreiheit nicht nur Journalisten. Im gleichen Zeitraum seien 61 Menschen angeklagt, verklagt oder inhaftiert worden, weil sie den Präsidenten beleidigt haben sollen. Nur wenige Tage vor der Wahl sei ein 14-jähriger Schuljunge für eine Nacht in Polizeigewahrsam genommen worden, weil er Erdogan auf Facebook beleidigt haben soll. Am nächsten Tag sei er entlassen worden, weil er zu jung für eine Verhaftung war.

Der Umgang der türkischen Regierung mit der Presse ist mittlerweile weltbekannt. So schrieb der Sprachwissenschaftler und Globalisierungskritiker Noam Chomsky kürzlich in einem Artikel für die Washington Post: "Journalismus wird [in der Türkei] umgebracht." (Ende/IPS/jk/04.12.2015)


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http://www.ipsnews.net/2015/12/nothing-will-be-the-same-for-turkish-press-after-recent-elections/

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IPS-Tagesdienst vom 04. Dezember 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Dezember 2015

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