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INTERNATIONAL/177: Kriegsführung 2.0 (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2015 - Nr. 109

Kriegsführung 2.0

von Nico Prucha


Die Medienstrategie der Terrormiliz »Islamischer Staat« ist erfolgreich: Durch die professionelle Nutzung der sozialen Medien instrumentalisiert sie viele Menschen - und wird dadurch auch für westliche Staaten gefährlich.


Der selbsternannte »Islamische Staat« (IS) hat im Juni 2014 Gebiete in Syrien und im Irak besetzt. In einer Art Blitzkrieg nahm er mehrere Städte ein und rief ein »Kalifat« aus. Das Bild der angeblich 800 IS-Kämpfer, die die irakische Armee in Mosul in die Flucht schlugen, schlachtete der IS in den sozialen Medien propagandistisch aus. Während und nach dieser Bodenoffensive wurden über offizielle Twitter-Accounts Kriegsberichte, Bilder und Videos veröffentlicht, zeitweise unmittelbar nach oder während der Kampfhandlungen. Ali Fisher, ein Datenanalyst und Social Media-Spezialist, geht davon aus, dass während der Juni-Offensive im Jahr 2014 von 20 IS-Twitter-Accounts über eine viertel Million Tweets abgesetzt beziehungsweise vom IS oder von Sympathisanten und Unterstützern retweeted wurden (Fisher/Bartlett 2015).

»Twitter ist eine wichtige Plattform für den IS, weil arabische und europäische Kämpfer durch ihre Mobiltelefone eine direkte Kommunikationslinie mit ihren Freunden und Verwandten unterhalten.«


Die Netzwerke des IS sind belastbar und sicher gegen Zugriffe von außen

Der IS ist eine revolutionäre Gruppe, die es versteht, eine professionelle und ideologisch kohärente Medienstrategie zu verfolgen. Er bedient sich wie keine andere Terror- beziehungsweise Interessensgruppe systematisch des Internets, um seine Botschaften erfolgreich weltweit und multilingual zu vermarkten. Social Media, primär Twitter, wird vom IS als die wichtigste Plattform eingestuft. Im Sekundentakt wird die Propaganda des IS verbreitet. Twitter ist unter anderem deswegen dafür besonders gut geeignet, weil arabische und europäische Kämpfer für den IS (»Foreign Fighters«) durch ihre Mobiltelefone eine direkte Kommunikationslinie mit ihren Freunden und Verwandten in ihren Herkunftsländern unterhalten. Die Netzwerke des IS sind belastbar und widerstandsfähig - sowohl ideologisch als auch technisch gegen einen möglichen Einfluss von außen oder gegen Interferenzen mit dem Ziel, die radikalen Accounts dauerhaft zu löschen. Die ISNetzwerke auf der Twitter-Plattform beispielsweise agieren wie ein Schwarm. Selbst wenn mehrere Accounts gelöscht werden, sind in der Regel ausreichend viele Unterstützer-Accounts weiterhin aktiv, die sofort neue Accounts bewerben. Sobald »offizielle« IS-Accounts entfernt werden, passt der IS seine Vermarktungsstrategie an und veröffentlicht neue Videos ausschließlich über hashtags (#) auf Twitter, die unabhängig von Accounts verwendet werden (Fisher/Prucha 2014; Prucha 2010). Hinzu kommt, dass arabischsprachige Accounts den westlichen Social-Media-Betreibern weniger vertraut sind und entsprechend seltener deaktiviert werden.

Die Medien-Abteilungen des IS und anderer militanter Bewegungen und jeder einzelne designierte »Medien Mujahid« transportieren und projizieren auf vielen Ebenen strategischen Einfluss und vermitteln weltweit ein Wahrheitsmonopol. Das bedeutet, dass sich jeder Muslim, der als außerhalb dieser engen »Wahrheit« definiert wird, auf dem »Pfad der Lüge« befindet, und demnach als Abtrünniger oder Ungläubiger exkommuniziert wird (Prucha 2010). Das Wahrheitsmonopol lässt zudem nur eine bestimmte Auslegung und Umsetzung der beiden Hauptquellen des Islams, des Korans und der Sunna, zu und beansprucht die absolute Autorität über islamische Gewohnheiten und Traditionen.

Dass es überhaupt dazu kommen konnte, dass der IS und seine »Wahrheit« weltweit gehört wird, liegt vor allem an der politischen Instabilität im Nahen Osten. Im Zuge des politischen Chaos veröffentlichte der IS über verschiedene Social-Media-Kanäle sowie Internet-Foren Bilder und Filme von Kampfeinsätzen, Hinrichtungen von Geiseln und Gefangenen sowie von Maßnahmen zum Aufbau eines »Staats«. Darin legen die IS-Kämpfer ihre Waffen ab, um die Infrastruktur des »Kalifats« aufzubauen. Diese neuartige Form der Propaganda, die sich an ein globales Publikum richtet, hat gravierende Folgen: Vor allem junge Muslime unterschiedlicher Herkunft in europäischen und arabischen Gesellschaften fühlen sich dazu aufgerufen, dem Anführer des IS, Abu Bakr al-Baghdadi, den Treueeid zu schwören und sich dem Kampf und dem Staatsaufbau anzuschließen.


Social Media: Ein effektives Werkzeug für die Propagandisten des Terrors

Der Zuzug ausländischer Kämpfer aus europäischen Staaten, Nordamerika, Australien und aus dem arabischen Raum ist nach wie vor ungebrochen: Etwa 4.000 westliche Staatsangehörige sollen sich in den vom IS kontrollierten Gebieten aufhalten (Neumann 2015). Oftmals treten diese sogenannten Foreign Fighters als Akteure vor der Kamera auf und tragen somit zur Verbreitung der Propaganda bei. Die hohe Frequenz an professionell hergestellten Propagandafilmen (auch auf Deutsch) stellt ein großes Gefährdungspotenzial dar: Zum einen werden dadurch auswanderungswillige Sympathisantinnen und Sympathisanten angeworben, zum anderen wird die IS-Propaganda von rechtsradikalen und rechtskonservativen Kreisen in westlichen Staaten benutzt, um gezielte Ressentiments gegen »den« Islam per se zu streuen. Zudem versucht der IS, Einzelattentäter im Westen zu erreichen (siehe auch S. 25 in diesem Heft) und die Anschläge, welche diese in ihren Heimatländern durchführen, als »Strafaktion« und Vergeltung für die westlich-geführten Luftangriffe gegen den IS im Nahen Osten darzustellen.

Die dschihadistische Subkultur (siehe Glossar, S. 35 [in der Originalpublikation]) im Internet ist von einer Art Mitmachkultur geprägt: Social Media-Nutzerinnen und -Nutzer können selbst kreierte Inhalte teilen und verbreiten. Dieser »User created content« baut nicht zuletzt auf die erfolgreiche Vermarktung der »zivilen Seite des IS« auf - mit diesem Genre wird der IS in Videoproduktionen immer wieder als funktionierender »Staat« hervorgehoben. Dort, wo der Schutz der (sunnitischen) Zivilbevölkerung nicht von einer Hilfsorganisation oder von der internationalen Koalition verantwortet wird, tritt der IS als Retter und Heilsbringer zugleich auf. Die Fotos und Videos stellen das »Leben im Kalifat« dar: den Aufbau von Infrastruktur wie Gas, Wasser oder Strom, die Beseitigung von Kriegsschäden, die Wiederherstellung des öffentlichen Lebens oder Manifestationen der Religion innerhalb des öffentlichen Raums. Dabei werden beispielsweise öffentliche Gebete dargestellt - etwas, das in Syrien unter der Herrschaft Baschar al-Assads stets problematisch war, da sich das Regime einerseits oft als säkular präsentierte und es andererseits vor allem Islamisten waren, die traditionell die Hauptopposition stellten.

Die IS-Lesart der Scharia, der islamischen Regeln für das Leben der gläubigen Musliminnen und Muslime, lässt den »Staat« als Modell in Erscheinung treten, in dem klare Gesetze und Regeln gelten und wofür es sich zu kämpfen lohnt. Der IS stellt sich in seinen Videos und den dort präsentierten Aussagen der Lokalbevölkerung als »ein Staat dar, der Sicherheit und Gerechtigkeit für alle Menschen« bringt. Diese Botschaft ist nach dem Versagen diverser politischer Ideologien und Strömungen in der arabischen Welt besonders attraktiv.

Die Verzahnung und vor allem die kurzen Intervalle, in denen der IS durch seine Führungsebene sowie durch die Kriegsund Medien-Minister mit »offiziellen« Pressesendungen und Statements auf politische Entscheidungen westlicher und arabischer Staaten und des Iran reagiert, tragen zu dem Gesamtbild bei. Die professionelle und gut organisierte Handhabung von blutigen und »state-building« (Aufbau eines neuen Staats) Propagandafilmen für ein globales Publikum - verbunden mit dem Anspruch, die einzig wahre sunnitische Vertretung zu sein - wird den IS weiterhin als Faktor im Irak und in Syrien und vor allem als weltweite Gefahr erhalten.

Die Taktik des IS ist bisher aufgegangen. Nach der gezielten Veröffentlichung englischsprachiger Filme mit arabischen Untertiteln, die die Hinrichtung amerikanischer und britischer Journalistinnen und Journalisten sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter humanitärer Hilfsorganisationen Mitte 2014 zeigten, hat der Westen schließlich Luftangriffe initiiert. Somit kämpft der IS in einer apokalyptischen Selbstwahrnehmung als »Vertreter Gottes« gegen verschiedene lokale und internationale Feinde einschließlich des schiitischen Iran. Die gezielte und taktische Nutzung der sozialen Medien wird voraussichtlich weiter zunehmen und somit zur Legitimierung des IS und dessen Attraktivität für Sympathisanten in der ganzen Welt weiter beitragen.

Der IS hat in seiner Existenz innerhalb Syriens und als Fortsatz der Vorgängerorganisation im Irak in kurzer Zeit das erreicht, wofür das weltweit operierende Terrornetzwerk Al-Qaida vorgibt, seit Jahrzehnten zu kämpfen: durch den bewaffneten Kampf die Macht lokaler Regime zu brechen und dadurch den »befreiten« Sunniten einen »islamischen Staat« zu ermöglichen. Dieser wird seit der Aufgabe des »Kalifats« im Jahr 1924 von Islamisten und militanten Dschihadisten glorifiziert und idealisiert.


DER AUTOR

Nico Prucha hat Arabistik studiert und ist Mitarbeiter im »International Center for the Study of Radicalisation« (ICSR) des Department of War Studies am King's College London. Er ist im Rahmen des »VOX Pol Projekts« Research Fellow am ICSR und erforscht primär die arabischsprachigen Videos und Schriften sunnitischer Extremistengruppen.
Kontakt: nico.prucha@univie.ac.at


Literatur

FISHER, ALI / BARTLETT, JAMIE (2015): How to beat the media mujahideen, Demos Quarterly, February 2015. Im Internet verfügbar unter:
http://quarterly.demos.co.uk/article/issue-5/how-to-beat-the-media-mujahideen (Zugriff: 13.05.2015)

FISHER, ALI / PRUCHA, NICO (2014/1): Eye of the swarm: The rise of ISIS and the media mujahideen, USC Center on Public Diplomacy, July 8, 2014. Im Internet verfügbar unter:
http://uscpublicdiplomacy.org/blog/eye-swarmrise-isis-and-media-mujahedeen (Zugriff: 13.05.2015)

FISHER, ALI / PRUCHA, NICO (2014/2): ISIS is winning the online jihad against the West, The Daily Beast, October 1, 2014. Im Internet verfügbar unter:
www.thedailybeast.com/articles/2014/10/01/isis-is-winning-the-onlinejihad-against-the-west.html (Zugriff: 13.05.2015)

NEUMANN, PETER (2015): Foreign fighters total in Syria/Iraq now 20,000, ICSR, King's College London. Im Internet verfügbar unter:
http://icsr.info/2015/01/foreign-fighter-total-syriairaq-now-exceeds-20000-surpassesafghanistan-conflict-1980s (Zugriff: 13.05.2015)

PRUCHA, NICO (2010): Die Stimme des Dschihad »Sawt al-gihad«: al-Qa'idas erstes Online-Magazin. Hamburg


DJI Impulse 1/2015 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2015 - Nr. 109, S. 22-24
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
Nockherstraße 2, 81541 München
Telefon: 089/623 06-140, Fax: 089/623 06-265
Internet: www.dji.de/impulse
 
DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos bestellt und auf Wunsch auch abonniert werden unter impulse@dji.de.


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Dezember 2015

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