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FRAGEN/043: Formatiert fürs Leben - Interview mit Filmemacher Inigo Westmeier (arte Magazin)


arte Magazin - November 2014
Das tägliche arte-Programm, 1. bis 30.11.2014

Formatiert fürs Leben

Interview mit dem Filmemacher Inigo Westmeier von Sonja Blaschke



Filmemacher Inigo Westmeier hat es geschafft, an einem Ort zu drehen, der sonst westlichen Augen verborgen bleibt: in der weltweit größten Kung-Fu-Schule in China, wo eiserne Disziplin herrscht.
Interview über das filmische Abenteuer


Der Drache ist lang und golden, sagt Xin. Sie glaubt, das Tier aus der chinesischen Mythologie bringe ihr bei Wettkämpfen Glück. Xin ist neun Jahre alt, Elitekämpferin und eine der drei Protagonistinnen aus Inigo Westmeiers preisgekröntem Dokumentarfilm "Drachenmädchen". Weit von zu Hause entfernt und mit Drill lernen die Mädchen und Jungen in der Shaolin-Tagou-Schule vor allem eines: zu kämpfen. Die Ausbildung soll ihnen später die Arbeit als Polizisten oder Soldaten ermöglichen - und damit ein besseres Leben als das ihrer Eltern. "Der Film war Kung-Fu", sagt Westmeier, was wörtlich übersetzt "harte Arbeit" bedeutet. Zehn Jahre dauerte es von der Idee bis zum Film. Einblicke in eine sonst verschlossene Welt.


ARTE: Die Anfangsszene Ihres Films ist beeindruckend: Zehntausende Schüler stürmen den Appellplatz und exerzieren synchron Übungen. Gehört dieser Aufmarsch zum Schulalltag?

Inigo Westmeier: Diese Massenchoreografie zeigen die Kinder einmal im Monat bei Staatsbesuchen und ich hatte diesen gerade verpasst. Die Schulleitung ließ die Klassen extra für mich noch einmal antreten. Die Abmachung war, dass ich dafür allen Jungen und Mädchen eine Flasche Wasser spendiere. Ich bestellte also 26.000 Flaschen, die zwei Tage später per LKW geliefert wurden.


ARTE: Wie haben Sie aus so vielen Schülern die drei Mädchen ausgewählt, die Sie im Film begleiten?

Inigo Westmeier: Wir haben zwei Castingtage veranschlagt. Am ersten Morgen sagten die Vertreter der Schule: "Wir haben etwas vorbereitet. Hier sind die ersten 2.000 Schülerinnen." Alle Mädchen hatten den gleichen Trainingsanzug, die gleiche Frisur. Die Schule hatte sich das so vorgestellt: Ich stelle Fragen und die Mädchen, die dazu etwas sagen wollen, treten in einer Reihe vor.


ARTE: Und wie hatten Sie sich das vorgestellt?

Inigo Westmeier: Ich habe gesagt: "Stopp, das geht so nicht", und habe dann alle Schülerinnen einzeln befragt. In Deutschland hatte ich gemeinsam mit einer Psychologin Fragen erarbeitet. Eine davon war zum Beispiel: "Wenn jetzt eine Fee käme und du dir drei Dinge wünschen könntest, was wären die?" Ein Mädchen, das ich zwar dann nicht ausgewählt habe, gab eine sehr rührende Antwort: "Käse." Ich dachte, die will mich veralbern, doch sie erklärte mir daraufhin: "Wenn ich mir Käse leisten kann, kann ich mir jegliches Essen leisten."


ARTE: Warum fiel die Wahl letztlich auf die Mädchen Xin, Chen und Huang?

Inigo Westmeier: Xin - die Neunjährige, die im Eliteteam trainiert - hatte mich schon auf meiner ersten Recherchereise fasziniert: Da stand ein kleines Mädchen, das rosa Ohrenschützer und in der Hand ein riesiges Schwert trug! Chen, die ständig mit den hohen Anforderungen hadert, hat beim Casting ganz ehrlich und unbefangen gesprochen. Und Huang ist mir beim Kickbox-Training aufgefallen, bei dem die Kinder sich Tritte in den Bauch verpassen mussten. Huang war die Einzige, der man sofort ansah, wie sinnlos sie diese Übung findet.


ARTE: Huang ist auch das Mädchen, das aus der Schule ausreißt. Sie sagt: "Ich fühle mich durch den strikt getakteten Tagesablauf wie in einem Vogelkäfig gefangen." Ist sie ein Einzelfall?

Inigo Westmeier: Die Schulleitung selbst sagt: "Wer gehen will, kann gehen." Huang erzählt im Film, sie kenne zehn Ausreißer, die alle wieder von der Schule eingefangen wurden. Wer flieht, komme meist nicht weit, denn viele der ehemaligen Schüler wohnen in der nahegelegenen Stadt. Huang ist über die Mauer geklettert und ins weit entfernte Schanghai zu ihren Eltern getrampt. Ihre Mitschülerinnen haben mir geholfen, sie aufzuspüren.


ARTE: Unter welchen Bedingungen leben die Kinder in der Schule?

Inigo Westmeier: Die Schule ist im Winter unbeheizt. Während ich meine Polarjacke trug, waren die Mädchen lediglich mit einem dünnen Trainingsanzug bekleidet. "So ist es eben", sagen sie und nehmen es hin. Hart ist es trotzdem. In einer Szene, die nicht in der Endversion ist, erzählte ein Mädchen, dass sie nachts häufig geweint habe. Wegen der Kälte froren die Tränen um ihre Augen fest. Sie hat sichtbare Narben davongetragen.


ARTE: Wie sieht der Alltag der Kinder aus?

Inigo Westmeier: Sie stehen um fünf Uhr morgens auf, dann geht es zum Sportplatz. Dort trainieren sie bis um zehn Uhr abends - Laufen, Krafttraining, Showkampf. Zwischendrin gibt es kleine Pausen zum Essen. Schulisch ist wenig geboten. Das Ganze ist eher eine Ausbildung zum Kampfroboter. Bei den Massen an Schülern ist es aber auch wichtig, dass die Kinder die Befehle befolgen. Wenn sie zum Beispiel nicht rechtzeitig den Essenssaal verlassen, gerät der ganze Apparat durcheinander, weil schon die nächste Gruppe nachkommt.


ARTE: Welche Kinder gehen auf diese Schule?

Inigo Westmeier: Die Schüler kommen häufig aus sehr armen Familien. Die Eltern geben alles dafür, um die Schulgebühr von 300 Euro im Jahr aufzubringen. Oft arbeiten sie so viel, dass sie noch nicht einmal Zeit für die seltenen Telefonate mit ihren Kindern haben. Manchmal schicken Eltern aber auch Kinder dorthin, die als unartig gelten und Disziplin lernen sollen.


ARTE: Wie kam Ihnen die Idee, einen Film über diese Kung-Fu-Schule zu machen?

Inigo Westmeier: Ich habe selbst Kung-Fu gemacht. Einmal war in einem Kurs ein siebenjähriger Kung-Fu-Kämpfer zu Besuch, der einfach so die Wand hinaufgelaufen ist! Ich arbeitete damals als Kameramann und dachte: "Wow, und das ohne digitale Effekte." Auf einer Recherchereise in China stieß ich dann auf die Shaolin-Tagou-Schule. Zuerst dachte ich, sie sei zu groß für den Dreh, fand sie schließlich aber gerade wegen dieser Massen spannend.


ARTE: Wie haben Sie es geschafft, in die verschlossene Welt dieses Schulsystems vorzudringen?

Inigo Westmeier: Mit viel Geduld und Ausdauer. Wir wurden immer von zwei Aufpassern begleitet, der eine war vom Staat und der andere von der Schule. Ich war sehr offen, habe ihnen anfangs alles gezeigt, was wir gedreht hatten. Nach ein paar Tagen wollten sie nicht mehr jede Einstellung sehen.


ARTE: Wo gab es Schwierigkeiten?

Inigo Westmeier: Vor allem bei Kleinigkeiten. Als ich etwa im Essensraum filmen wollte, sagte einer der Aufpasser: "Das geht nicht, das Bild ist zu grau." Ich erwiderte: "Aber so sieht es hier aus - alles ist aus Beton!" Letztlich bekamen wir doch grünes Licht. Manchmal hatten wir auch schon alles im Kasten, bis von oberster Stelle das "Nein" kam.


ARTE: In einer Szene sagt Xin: "Tränen sind ein Ausdruck von Unfähigkeit." Ein erschreckend abgeklärter Satz für ein neunjähriges Mädchen ...

Inigo Westmeier: Von klein auf wachsen die Kinder dort mit einer anderen Denkweise auf. Wir denken: "Die ganze Welt wartet auf mich." Die Kinder in China wissen: "Später wollen Tausende den Job, den ich auch will." Und was wäre die Alternative zur harten Ausbildung? Für Mädchen wie Xin gäbe es nur die Möglichkeit, wie der Vater auf dem Dorf Melonen zu verkaufen. Ich habe im Film bewusst auf eine Bewertung dieses Systems verzichtet.


ARTE: Sehen Sie eine Gefahr in dieser Erziehung?

Inigo Westmeier: Natürlich macht das Autoritäre die eigene Kreativität und die Herzen kaputt. Mein Anliegen war aber, hinter die Fassade zu schauen. Denn bei all dem Drill erkennt man immer wieder, dass das doch Kinder und keine Maschinen sind - etwa wenn sie sich im Flur kichernd mit Wasser bespritzen.


Inigo Westmeier, 1973 in Brüssel geboren, studierte in Moskau und Ludwigsburg Kamera und Bildgestaltung. Sein Regiedebüt "Drachenmädchen" wurde in Deutschland und international mehrfach prämiert

ARTE DOKUMENTARFILM
DRACHENMÄDCHEN
Freitag, 14.11.14

ARTE PLUS
KUNG-FU
Der Kampfsport Kung-Fu (Mandarin: harte Arbeit) wurde etwa 500 n. Chr. Von buddhistischen Mönchen im Shaolin-Ursprungskloster in der Provinz Henan entwickelt. Deren philosophischen Lehren sollten durch körperliche Ertüchtigung ergänzt werden. Im Kung-Fu werden Waffen eingesetzt, die die fünf Elemente symbolisieren: der Stock das Holz, der Speer das Feuer, die Faust die Erde, der Säbel das Metall und das Schwert das Wasser


Das Arte-Magzin im Internet:
http://www.arte.tv/sites/de/das-arte-magazin/

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Quelle:
arte Magazin November 2014 - Das tägliche arte-Programm,
1.11.-30.11.14, Seite 32-35
Herausgeber: ARTE G.E.I.E.
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E-Mail: magazin@arte.tv
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Dezember 2014


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