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MELDUNG/558: Buchneuerscheinung über neue mediale Formen der Auseinandersetzung mit dem Holocaust (idw)


Westfälische Wilhelms-Universität Münster - 05.05.2014

Münstersche Wissenschaftlerin über neue mediale Formen der Auseinandersetzung mit dem Holocaust



Literaturwissenschaftlerin Kirstin Frieden veröffentlicht ihre Doktorarbeit zum Wandel der Holocaust-Erinnerungskultur in einer Zeit, in der der endgültige Wegfall der Zeit- und Augenzeugengeneration kurz bevorsteht. In ihrem Buch untersucht sie, wie junge Generationen mittels klassischer aber auch moderner Ausdrucksformen wie Youtube-Videos und Facebook-Profilen am Erinnerungsprozess teilhaben.

Die Tabus sind überwunden, die Schuld ist abgegolten, "Political Correctness" bedeutet keinen Maulkorb mehr. Immer wieder wird behauptet, dass die "junge Generation", gemeint sind die nach 1965 Geborenen, die erste sei, die sich ohne Last der nationalsozialistischen Vergangenheit annehmen und frei über sie sprechen kann. Aber ist das wirklich der Fall? "Nein", sagt Dr. Kirstin Frieden, Absolventin der Graduiertenschule "Practices of Literature" des Fachbereichs Philologie der Universität Münster. "Wir haben immer noch ein Sprachproblem."

Für ihre Doktorarbeit hat die Literaturwissenschaftlerin untersucht, welchen Wandel die Holocaust-Erinnerungskultur in einer Zeit durchläuft, in der der endgültige Wegfall der Zeit- und Augenzeugengeneration kurz bevorsteht. Dabei beschäftigt sie sich insbesondere mit dem Unbehagen, das die "junge Generation" gegenüber den teils doktrinären Sprachkonventionen der Erinnerungskultur ihrer Eltern- und Großelterngenerationen empfindet. "Durch zeitliche und emotionale Entfernung hat diese Generation keine direkte genealogische und teilweise durch ihre multikulturelle Herkunft auch keine nationale Bindung mehr an die Zeit des Nationalsozialismus", erläutert Kirstin Frieden. "Sie begreift sich nicht mehr automatisch als Folgegeneration einer Täter- beziehungsweise Opfergeneration."

Auf der Suche nach neuen Modalitäten eines Sprechens und Verhandelns über den Holocaust verlässt Kirstin Frieden die klassischen literaturwissenschaftlichen Pfade. "Die medialen Ausdrucks- und Partizipationsweisen der 'jungen Generation' reichen von der klassischen Literatur über Performances und Comedy bis hin zu YouTube-Videos oder Facebook-Profilen", berichtet die Germanistin und Historikerin. So untersucht sie in ihrer Arbeit zum Beispiel das von einem jungen Historiker posthum angelegte Facebook-Profil des sechsjährigen polnischen Holocaust-Opfers Henio Zytomirskis. "Auf der Profilseite hat sich neben einer regen Diskussion über das 'political'- und 'memorial'-korrekte Erinnern auch eine Art 'Alltagskommunikation' mit dem Holocaust-Opfer ergeben", erzählt Kirstin Frieden. Die überwiegend jungen Facebook-Freunde Henios hätten dabei einen unbefangen-natürlichen Umgang mit diesem Stellvertreter für das millionenfache Leid gezeigt. "Durch die Interaktivität kann eine solche 'Erinnerungsperformance', wie ich es genannt habe, ein Erleben von Geschichte - im Sinne von 'Performing the Past' - und eine ganz neue Möglichkeit der Empathie erzeugen."

Gibt es also eine Lösung für das konstatierte Sprachproblem? Eher einen Lösungsentwurf, meint Kirstin Frieden. Sich bewusst zu machen, dass es das Problem der "belasteten Sprache" gibt und man noch entfernt ist von einem wirklich tabufreien, unbelasteten Umgang mit der deutschen Vergangenheit, sei ein wichtiger Schritt, um Dogmen aufzubrechen und Perspektiven für eine künftige Erinnerungskultur zu schaffen. Lang gepflegte Gedenktraditionen und -routinen immer wieder neu zu verhandeln und ihnen neue mediale Auseinandersetzungsformen an die Seite zu stellen, ist eine Herausforderung, die Kirstin Frieden als "work in progress" betrachtet - und der sie sich in ihrer Arbeit stellt.


Kirstin Frieden:
Neuverhandlungen des Holocaust.
Mediale Transformationen des Gedächtnisparadigmas.
Bielefeld 2014, transcript Verlag.
ISBN 978-3837626278


Weitere Informationen Sie unter:
http://www.uni-muenster.de/Practices-of-Literature/personen/schmidt.html
- Homepage von Dr. Kirstin Frieden

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution72

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Juliane Albrecht, 05.05.2014
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Mai 2014