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PRESSE/150: Erst stirbt die Presse - und dann die Politik (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2013

Erst stirbt die Presse - und dann die Politik
Über den Zustand der bürgerlichen Öffentlichkeit

Von Mathias Greffrath



Noch ist es keine Epidemie, nur hin und wieder verschwindet ein Titel: Die "Frankfurter Rundschau", jahrzehntelang sozialdemokratisches Leitmedium, ist pleite; zum Ende des vorigen Jahres wurde die "Financial Times Deutschland" eingestellt. Der WAZ-Konzern, finanziell übergesund, schließt die "Westfälische Rundschau". 2012 waren ebenfalls die "Nürnberger Abendzeitung", eine der ältesten Boulevard-Zeitungen, und die kleine "Deister-Leine-Zeitung" im niedersächsischen Barsinghausen mit einer Auflage um die 4.000 am Ende. Und so weiter, und so weiter.


Der Zeitungstod schleicht, aber das kontinuierlich. Von 1992 bis heute sank die Zahl der Zeitungen von 426 auf 331, ihre Gesamtauflage im letzten Jahrzehnt von 27 auf 21 Millionen Exemplare. Hinzu kommt: Immer mehr Artikel - neuerdings "content" genannt - werden in Zentralredaktionen verfasst. Die Aachener Zeitung und die Aachener Nachrichten, der Weserkurier und die Bremer Nachrichten, das Hamburger Abendblatt und die Berliner Morgenpost sind über viele Seiten identisch. Die Vielfalt im Meinungskapitalismus ist oft nur noch eine Vielfalt der Etiketten und der Verpackung, wie beim Bier, wie bei der Elektronik aus China.

Der Schwund erfasst alle: Vor allem die Regional- und Heimatzeitungen verlieren ihre Geschäftsgrundlage, aber auch den großen überregionalen Tageszeitungen bricht der Anzeigenmarkt weg, ebenso wie ihr bildungsbürgerliches Stammpublikum: Die FAZ, diese klassische bürgerliche Zeitung - vorne staatstragend, in der Mitte marktgläubig, im Feuilleton kapitalismuskritisch -, machte im letzten Jahr Verluste von mehr als 10 Millionen Euro.

Müssen wir also, wenn die Zeitungskrise anhält, um die Demokratie fürchten - wie es entlassene Journalisten, insolvente Verleger, Philosophen, Medienpolitiker rufen? Die freie Presse stand am Anfang der Demokratie; läutet ihr Schwinden deren Ende ein? Zeitungen bildeten einst Rammböcke gegen den Feudalabsolutismus, die Kaffeehäuser des 18. Jahrhunderts waren den Regierenden ein Dorn im Auge, nicht weil dort getrunken, sondern gelesen wurde. Der Aufstieg der Zeitungen beschleunigte sich rasant in den Jahren der Französischen Revolution. "Vom Regenten und Minister an bis herab zum Holzspalter auf der Straße und dem Bauern in der Dorfschenke, von der Dame an der Toilette bis zur Scheuer-Magd in der Küche, liest jetzt alles Zeitungen" jubelte 1792 der Herausgeber des Weimarer Journal des Luxus und der Moden.

Eine Öffentlichkeit für alle - das war die Utopie der Aufklärung. Aber die entstehende Demokratie begrenzte das kritische Ethos des Journalismus von Anfang an durch das Grundrecht aller bürgerlichen Grundrechte: die Garantie des unternehmerischen Eigentums. Pressefreiheit, das ist zuvörderst Verlegerfreiheit, oder, so fasste es der große konservative Publizist Paul Sethe, einer der Gründungsherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zusammen, "die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten". Sethe schrieb das 1965 - damals fing man in der alten Bundesrepublik an, über das Monopol der Bild-Zeitung zu diskutieren.


Die Entstehung des dualen Systems

Die Presse ist in Gänze nie der Garant der Demokratie gewesen. Missbrauch der Meinungsfreiheit zum Machterwerb und Verflachung als politische Waffe - das sind die dunklen Seiten der Pressegeschichte. RWE, Bergbauverein, Vereinigte Stahlwerke, Commerzbank und Krupp finanzierten die Hugenberg-Presse, die 50 % des Marktes in der Weimarer Republik kontrollierte und den Aufstieg Hitlers herbeischrieb. Die mit Gewerkschaftsbeiträgen bezahlte Arbeiterpresse dagegen schaffte es nie in die nationale Arena, und die anspruchsvollen Zeitungen der Weimarer Republik, Berliner Tageblatt und Frankfurter Zeitung, waren bürgerlich gespalten zwischen bourgeois und citoyen, zwischen Staatstreue, Wirtschaftsliberalismus und linksliberalem Feuilleton - so wie die FAZ es noch heute ist.

Aus diesen Erfahrungen und der Erfahrung mit dem Nazi-Rundfunk entstand das duale Mediensystem der Bundesrepublik: privatwirtschaftliche Presse und öffentlich-rechtlicher Rundfunk sollten sich korrigieren und ergänzen. Es war eine Zeitlang das beste Mediensystem der Welt. Zur Hälfte kam es dem Marxschen Ideal nahe, das da lautet: "Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein." Hinzu kam: Viele der Nachkriegsverleger waren nicht nur Kaufleute, sondern passionierte Publizisten, an Qualität interessierte Genies der Querfinanzierung: der Stern machte die ZEIT möglich, die Abendzeitung die Süddeutsche - na ja: und Bild die Welt.

Seit den 80er Jahren bröckelt dieses System. Die privaten Rundfunksender schwächten die regionalen Zeitungen, die kommerziellen Fernsehprogramme senkten das Niveau ins Bodenlose, Anzeigenblätter förderten die Umsonst-Mentalität, lange vor dem Internet. An die Stelle von Verlegerfamilien rückten Investoren, und die Erben der Gründungspatriarchen wollten Kasse machen: Herausnehmer statt Herausgeber. Mit dem Internet beschleunigte sich der Wandel rasant. Die Erträge aus den Spezialanzeigenmärkten - Stellenvermittlung, Veranstaltungen, Kleinanzeigen - wanderten ins Netz und untergruben die finanzielle Basis der Verlage.

Nun wurden Berater, Markt- und Meinungsforscher mobilisiert, um die Zeitungen an den "Präferenzen der Leser" zu orientieren. Das ökonomische Kalkül setzte sich in die redaktionelle Arbeit hinein fort, in Themenwahl und personeller Verschlankung. So verloren die Zeitungen an politischer und kultureller Kontur, darin ein Spiegelbild der Volksparteien: keine riskanten Entscheidungen mehr, keine polarisierenden Meinungen, vielmehr der Drang zur möglichst breiten Mitte. Die Zeitungen wurden einander immer ähnlicher.


Qualitätspresse und Demokratie

Nötig aber wäre ein intellektueller Streit über politische Alternativen. Denn die drängenden Herausforderungen unserer Epoche und die anhaltende Unwilligkeit, oder Unfähigkeit der Politik, der Arbeitslosigkeit, der Krise der Sozialsysteme, dem Klimawandel, der Reichtumsschere, der Bildungsmisere, dem Altenproblem mit kräftigen Reformen zu begegnen - all das erfordert eigentlich eine Presse, die sich nicht den wöchentlichen Erregungen über schummelnde Ministerinnen oder die Freunde von Bundespräsidenten überlässt, sondern die mehr oder weniger informierten, interessierten, begründeten oder manipulativen Stellungnahmen der Bürger, der Lobbies, der Verbände "zu konkurrierenden öffentlichen Meinungen bündelt", zu Alternativen zuspitzt, über die die Politik dann entscheiden kann. "Wenn es um Gas, Elektrizität oder Wasser geht", schrieb Jürgen Habermas, "ist der Staat verpflichtet, die Energieversorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Sollte er dazu nicht ebenso verpflichtet sein, wenn es um jene andere Art von 'Energie' geht, ohne deren Zufluss Störungen auftreten, die den demokratischen Staat selbst beschädigen?"

In dieser Situation schlagen besorgte Beobachter Staatshilfe für die Qualitätspresse vor, Zeitungsverleger eine komplette Streichung der Mehrwertsteuer auf Zeitungen; der Journalistenverband regt an, über Stiftungsmodelle oder direkte Subventionen für Redaktionen nachzudenken.


Polemik gegen Haushaltsabgabe

Die gegenwärtige Diskussion über den Haushaltsbeitrag für das öffentlich-rechtliche System verpasst eine große Chance. Sie könnte dazu genutzt werden, um über die Zukunft der Medien insgesamt, der Presse, des Internet und des öffentlichrechtlichen Fernsehens und Rundfunks zu diskutieren, und über einen Ordnungsrahmen, in dem die Stärken der verschiedenen publizistischen Erzeugnisse zusammenwirken können: die Schnelligkeit (Spezialisierungsfähigkeit, Mobilisierungskraft) und "Umsonstheit" des Internets; die Qualität der Heimat-, Stadt- und Regionalzeitung, ein Forum zu sein für das, was alle Bürger einer Stadt wissen sollten (ein "heimischer Raum" in einer komplexen Welt); und die überregionale Zeitung mit ihrem universellen, bildenden und politikprovozierenden Horizont. Man hätte über Bezahlmodelle diskutieren können (ohne die im Internet kein Qualitätsjournalismus möglich sein wird, und darüber, ob die Umsonst-Mentalität eigentlich mit Demokratie kompatibel ist). Und darüber, welche Aufgaben ein auf Dauer gesichertes öffentlich-rechtliches System übernehmen könnte: etwa das Archiv der Nation zu werden und seine Schätze öffentlich und kostenfrei zur Verfügung zu stellen; oder, wie die BBC, den lokalen Radiosendern - und vielleicht auch Verlegern - seine Produkte zu überlassen.

Über all das hätte man reden können. Und auch über die Polemik gegen die Haushaltsabgabe und den angeblichen Hochmut der Journalisten, die das Wort "Demokratieabgabe" in die Runde warfen. Dazu müsste man allerdings richtig rechnen: dann kommt man nämlich zu dem Ergebnis, dass wir ab jetzt pro Haushalt und Monat 17,98 Euro für's öffentliche Radio und Fernsehen zahlen müssen, egal, ob wir es nutzen oder nicht. Das stimmt. Aber wenn wir, im Gegenzug, die Werbeumsätze der Kommerzmedien durch die Zahl der Haushalte teilen, kommen wir zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass wir pro Haushalt im Durchschnitt 24,91 Euro für die privaten Sender zahlen, egal, ob wir den Dudelfunk oder SAT1 oder die Pornokanäle hören oder sehen. Ebenso ist es mit den Zeitungen und Zeitschriften im Land: Egal, ob sie Geist oder Unrat enthalten, egal, ob wir sie lesen oder nicht - wir subventionieren sie pro Haushalt mit 18,88 Euro. Mit jedem Einkauf von Produkten, für die in diesen Medien geworben wird. Man entscheide bitte selbst, ob das Verhältnis von Demokratieabgabe und Wachstumsstimulationszwangssteuer ausgewogen ist.


Mathias Greffrath (* 1945) ist Soziologe und Autor. Er arbeitet u.a. für Rundfunkanstalten, die ZEIT, die Süddeutsche Zeitung und die taz.
greffrath@aol.com

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2013, S. 58 - 60
herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer, Bascha Mika und Peter Struck (†)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Mai 2013