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PRESSE/163: Flüchtlingspolitik in deutschen Zeitungen - Mehr als eine Wirklichkeit (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 142/Dezember 2013
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Mehr als eine Wirklichkeit

Deutsche Zeitungen bilden die Flüchtlingspolitik sehr unterschiedlich ab

von Valeska Cordier



Kurz gefasst: Zeitungen stellten die deutsche Diskussion um die Änderung des Bleiberechts für Flüchtlinge im Jahr 2006 auf sehr unterschiedliche Weise dar. Es wurden verschiedene Themen- und Argumentationsschwerpunkte gesetzt. Akteure, die in den einen Medien ein Sprachrohr für ihre Anliegen fanden, wurden in anderen fast gänzlich ignoriert.

In den vergangenen Monaten wurde in den Medien viel über steigende Flüchtlingszahlen in Europa, teilweise katastrophale Zustände in den Erstaufnahme-Einrichtungen und die unbefriedigende Asylgesetzgebung berichtet. Oft gerät dabei in den Hintergrund, dass das deutsche Zuwanderungs- und Aufenthaltsrecht weit mehr beinhaltet als die Vergabe von Asyltiteln. 2012 lebten in Deutschland über 85.000 Menschen, die zwar kein Asyl erhalten haben, aber aus unterschiedlichen Gründen nicht abgeschoben werden (können). Sie leben mit einer Duldung, einem Aufenthaltsstatus, der rechtlich gesehen keiner ist und lediglich die Aussetzung ihrer Abschiebung bedeutet.

Die meisten Menschen in Deutschland haben kaum direkten Kontakt zur ausländischen Bevölkerung im Allgemeinen und zu Flüchtlingen und Asylbewerbern im Besonderen. Medien spielen daher in gesellschaftlichen Diskursen gerade in Bezug auf Migrationsthemen eine wichtige Rolle - diese soll hier genauer betrachtet werden. Untersucht wurde die Berichterstattung von drei großen deutschen Tageszeitungen über den Bleiberechtsbeschluss der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren (IMK) von 2006. Mit diesem Beschluss sollte einem unbefriedigenden Zustand im Ausländerrecht Rechnung getragen werden: Zu diesem Zeitpunkt lebten rund 200.000 sogenannte Geduldete in Deutschland, viele von ihnen bereits länger als fünf Jahre, ein Drittel sogar länger als zehn Jahre.

Duldungen werden zunächst für einen Zeitraum von drei bis sechs Monaten ausgesprochen und sind nach Ablauf der Fristen erneuerbar, sofern die Gründe für das Aussetzen der Abschiebung fortbestehen. Nach 18 Monaten endet die gesetzliche Maximaldauer einer Duldung und den Betroffenen muss ein legaler Aufenthaltstitel angeboten werden. Soweit die rechtliche Theorie. In vielen Fällen kann ein Aufenthaltstitel jedoch nicht vergeben werden, da sich die Identität der "Geduldeten" nicht überprüfen beziehungsweise deren Angaben sich nicht verifizieren lassen.

Durch die sogenannten Kettenduldungen, die sich aus dieser Gesetzeslage ergeben, leben viele Flüchtlinge quasi in einer Warteschleife ohne Aussicht auf einen selbstständigen Neuanfang und eine erfolgreiche Integration. Da mit diesem Status zahlreiche Auflagen und Einschränkungen verbunden sind, sind die Betroffenen über sehr lange Zeiträume einer starken psychischen Belastung ausgesetzt.

Diesen Zustand nahm die IMK zum Anlass, einen Beschluss zu fassen, der langjährig "Geduldeten" einen sicheren Aufenthaltsstatus ermöglichen sollte. Wer zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Regelung mehr als sechs Jahre mit minderjährigen Kindern beziehungsweise acht Jahre ohne Kinder in Deutschland lebte, sollte ein dauerhaftes Bleiberecht bekommen, wenn er oder sie innerhalb von zwei Jahren ein dauerhaftes Beschäftigungsverhältnis nachweisen konnte.

Der Beschluss der IMK war für die geduldeten Flüchtlinge in Deutschland von großer Bedeutung, die Verabschiedung und Umsetzung wurde von den Medien eng begleitet. Allerdings vermitteln und konstruieren Medien Themen auf verschiedene Art und Weise, je nach ihrem politisch-ideologischen Grundverständnis und ihrer redaktionellen Ausrichtung.

Die Berichterstattung in der tageszeitung (taz), der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) und der Süddeutschen Zeitung (SZ) habe ich über den Zeitraum von 14 Monaten untersucht. Diese Zeitungen zählen zu den deutschen Leitmedien und bilden eine gewisse Bandbreite normativer und inhaltlicher Standpunkte ab. Zu Themen wie Bleiberecht, Abschiebungen und Duldungen wurden im Untersuchungszeitraum (Januar 2006 bis Februar 2007) insgesamt 402 Artikel erfasst, von denen 275 Artikel einer quantitativen Analyse bezüglich mehrerer Faktoren unterzogen wurden: thematische Schwerpunkte, zitierte Akteure und Argumentationsmuster. Aus weiteren 127 Artikeln, die sich mit individuellen Flüchtlingsschicksalen beschäftigten, wurde die Auswahl einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen.

Zwischen den Zeitungen ergeben sich zunächst deutliche Unterschiede, was die messbare Aufmerksamkeit für die genannten Themen betrifft. So berichtet die taz über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg mehr als doppelt so oft über die Debatte rund um den Bleiberechtsbeschluss wie FAZ und SZ. Allerdings gilt für alle drei Medien, je näher der Beschluss der IMK im November 2006 rückte, desto intensiver und vielfältiger wurde die Berichterstattung.

Bei der Auswahl der thematischen Schwerpunkte lassen sich ebenfalls Unterschiede zwischen den Zeitungen ausmachen. So dominiert zwar durchweg die Debatte um den IMK-Beschluss selbst, jedoch in unterschiedlichen Relationen (vgl. Grafik). Überraschend ist, dass die Kritik an dem Beschluss und seiner Umsetzung in allen drei Zeitungen rund ein Viertel der Berichterstattung einnimmt. Betrachtet man die Themenauswahl über den zeitlichen Verlauf hinweg, fällt jedoch auf, dass die taz gleichmäßiger über die verschiedenen Themen berichtet, während in SZ und FAZ kritische Subthemen eher in der Mitte des Untersuchungszeitraums zu finden sind. Auf dem Höhepunkt der Debatte um den Beschluss und dessen Umsetzung findet Kritik kaum noch ihren Weg auf die Agenda. Bei der Berichterstattung über individuelle Flüchtlingsschicksale fällt auf, dass die taz über mehr als doppelt so viele Einzelfälle berichtet wie die anderen beiden Zeitungen und diese Fälle auch intensiver begleitet.

Bei der Analyse der zu Wort kommenden Akteure wurden die unterschiedlichen politischen und administrativen Ebenen ebenso erfasst wie die wichtigsten politischen Parteien und zivilgesellschaftlichen Akteure. Dominiert wird der Diskurs um den Beschluss von Vertretern der zuständigen Kommunalbehörden sowie von CDU/CSU-Politikern aller Ebenen und den Innenministern als den Teilnehmern der IMK. Auffällig ist, dass sich die FAZ an den Positionen der regierenden Politiker und verantwortlichen Beamten orientiert. Kritik wird dort vor allem vonseiten der Kirche zugelassen, was dem wertekonservativen Standpunkt der Zeitung entspricht. In der SZ und taz werden neben den verantwortlichen Politikern Nichtregierungsorganisationen (NGOs) aus dem Flüchtlingsbereich und die geduldeten Flüchtlinge selbst relativ häufig zitiert; Akteure, die in der FAZ fast gänzlich ignoriert werden. Außerdem fällt auf, dass SZ und taz neben ihrer vielfältigeren Auswahl den unterschiedlichen Akteuren einen gleichmäßigeren Zugang zum Diskurs verschaffen als die FAZ.

Die zitierten Akteure verwenden außerdem unterschiedliche Argumentationsmuster, um ihre Ansichten zu rechtfertigen, was sich ebenfalls auf die Konnotation der Berichterstattung auswirkt. So argumentieren CDU/CSU- und FDP-Politiker sowie die Vertreter der zuständigen Behörden häufig pragmatisch mit bereits geltenden Gesetzen und Kosten-Nutzen-Kalkulationen, etwa mit den aufzuwendenden Sozialleistungen. Da diese Akteure besonders häufig in der FAZ zitiert werden, ist die Berichterstattung der Zeitung stark von diesen Argumenten geprägt. NGOs aus dem Bereich der Flüchtlingsarbeit, die Kirchen und die Oppositionsparteien SPD und Grüne verwenden dagegen häufig Argumente, die sich auf die soziale Bedürftigkeit bestimmter Gruppen beziehen und die für eine angemessene Behandlung der Flüchtlinge plädieren. Von den Geduldeten selbst und von zivilgesellschaftlichen Akteuren werden außerdem moralisch-universalistische Argumente in Bezug auf allgemeingültige Menschenrechte angeführt. Da diese Akteursgruppen vor allem in SZ und taz zitiert werden, ist deren Berichterstattung entsprechend vielfältiger, was die verwendeten Argumentationsmuster betrifft.

Anhand der Berichterstattung über den IMK-Beschluss lässt sich verdeutlichen, wie unterschiedlich Geschehnisse in verschiedenen Medien dargestellt werden können. In der heutigen Gesellschaft sind direkte Gespräche und unmittelbare Kommunikation nicht ausreichend, um sich auch nur annähernd ein umfassendes Bild von der eigenen Umwelt zu machen. Wir sind auf die Massenmedien angewiesen, doch müssen wir uns, gerade bei Themen, die dem Großteil der Bevölkerung nur über die Medien zugänglich sind, der Problematik der verschiedenen Perspektiven bewusst sein.


Valeska Cordier ist studentische Hilfskraft im Präsidialbereich. Nach ihrem Bachelor in Sozialwissenschaften an der Berliner Humboldt-Universität hat sie ein Masterstudium der interdisziplinären Lateinamerikastudien an der Freien Universität Berlin aufgenommen.
valeska.cordier@wzb.eu


Literatur

Bofandelli, Heinz: "Die Darstellung ethnischer Minderheiten in den Massenmedien", S. 95-116. In: Heinz Bofandelli/Heinz Moser (Hg.): Medien und Migration. Europa als multikultureller Raum? 1. Aufl. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2007.

Hemmerling, Ulrike/Schwarz, Tobias: "'Flüchtlinge' in Deutschland. Erzwungenes Leben im Zwischenraum". In: Projekttutorien "Lebenswirklichkeiten von Flüchtlingen in Berlin"/"Behörden und Migration" (Hg.): Verwaltet, entrechtet, abgestempelt - wo bleiben die Menschen? Einblicke in das Leben von Flüchtlingen in Berlin. Berlin: FU Berlin 2003. Online:
http://www.behandeln-statt-verwalten.de/fileadmin/user_upload/pdfs/verwaltet-entrechtet-abgestempelt.pdf
(Stand 21.11.2013).

Jörg, Susanne: "Gehen Sie freiwillig oder sollen wir Sie abschieben?". Eine Ethnographie der Duldung. Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller 2010.

Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien. 2. Aufl. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 142, Dezember 2013, Seite 29-31
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. März 2014