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REZENSION/004: Jörg Lühdorff, "2030 - Aufstand der Alten" - TV Doku-Fiction (SB)


"2030 - Aufstand der Alten"


Dreiteilige Doku-Fiction des ZDF von Jörg Lühdorff

(gesendet Februar 2007)


Die Gesellschaft altert - das ist die Kurzformel für die rechnerische Erkenntnis, dass immer weniger Kinder geboren und gleichzeitig immer mehr Menschen alt werden, 60, 70, 80 Jahre und älter. Es gibt viele Themen, die, vermeintlich gesellschaftlichen Randlagen entsprungen in Gestalt von Kinofilmen, auf breiter Linie Beachtung und sich sodann in der Mitte der Gesellschaft verankert fanden (AIDS, der Vietnamkrieg, verfilmte Terrorzenarien, seien als Beispiel genannt). "Die alternde Gesellschaft" in bunten Bildern und Spielfilmlänge für die Kinoleinwand? Das klingt unwahrscheinlich. Vordergründig sicher, weil ein Kassenschlager zu diesem Thema schwer vorstellbar zu sein scheint. Dahinter liegt, der leicht zu fassende Gedanke: Dieses Thema ist zu wenig randläufig. Die Betrachterposition aus dem Kinoplüsch, die den AIDS-Kranken auf Abstand hält, weil Afrika weit weg oder die Krankheit hierzulande selten ist, meist Homosexuelle sie haben oder man aufgeklärt und mitfühlend betroffen weiß, wie man sich schützen kann - diese Betrachterposition greift beim Thema "Altern" ganz sicher nicht, denn das Altwerden trifft jeden. Es bleibt nicht mal eine klitzekleine Lücke, für eine distanzschaffende Frage wie: Kenne ich einen, der alt ist oder wird? Schon mit der imaginären Spielfilmlänge gehen 90 Minuten Lebenszeit dahin und der Zuschauer geht älter nach Hause, als er gekommen ist. Was einzig unverändert bleibt, ist wahrscheinlich seine Ambivbalenz dem Thema gegenüber. Alt werden? Ja, natürlich, schon um dem Tod möglichst viel Lebenszeit abzuringen und ihm lange zu entkommen. Aber alt sein? Nein, auf keinen Fall. Arztbesuche, Medikamente, Schmerzen, Siechtum, würdeloses Sterben - das will kein Mensch. Jugendwahn, nein, natürlich nicht! Aber, so jung sein, wie man sich fühlt! Die alternde Gesellschaft - das ist nicht der Stoff aus dem Kinofilme sind - in Hollywood ebensowenig wie in Berlin. Insofern ist das Engagement des ZDF hoch zu bewerten. Mit seiner dreiteiligen Doku-Fiction "2030- Aufstand der Alten" nimmt sich der Sender des Themas an. In der inzwischen als erfolgreich geltenden Mischform von Spielszenen und (wenn auch geringen) dokumentarischen Anteilen, etwa Meinungsäußerungen von Politikern der Bundesrepublik zu Rentensicherheit und Gesundheitsreform in den jeweils aktuellen politischen Debatten - konfrontiert das Zweite Deutsche Fernsehen seine Zuschauer mit einer Fiktion von einem Deutschland der Alten. Das ganze in schonend aufbereiteten kleineren Häppchen von drei Teilen, damit der Zuschauer vor dem Fernseher nicht alt und grau wird und ängstlich zur Fernbedienung greift - angesichts der düster scheinenden Inszenierung. Diese Doku-Fiction des ZDF ist, was die Bearbeitung des Themas betrifft, kaum mehr als ein schüchterner Versuch. Was die Quote angeht, allerdings ganz sicher ein Wagnis und daher wegen seiner puren Existenz zunächst zu würdigen.


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Zum Inhalt: Im Jahr 2030 - zu einer Zeit, in der Rentner von einer sogenannten Grundrente (560 Euro) leben müssen (obwohl sie ihr Arbeitsleben lang mehr und höhere Beiträge in die gesetzliche Rentenkasse eingezahlt haben), sprengt ein Rentner vermeintlich sich und den Vorstandsvorsitzenden eines Konzerns namens "Prolife", der marktführend im Bereich Senioren Helf- und Wellness ist, in die Luft. Vordem hatte dieser Rentner die Enthüllung eines Skandals angekündigt. Die Journalistin Lena Bach, eine junge, schöne Frau, macht sich daran, die Hintergründe dieser Tat zu beleuchten und enthüllt schließlich den angekündigten Skandal, um den sogenannten M- Faktor. Das "M" steht für minimal und der Skandal ist, dass die Bundesregierung sich mit "Prolife" und anderen Gesundheits- und Versicherungskonzernen darauf geeinigt hat, dass die Unternehmen Rentner bis zu deren Tod mit minimalem Aufwand, also: Pritsche, Beruhigungsmittel, Nährstofflösung, in Lagern außerhalb Deutschlands "versorgen". Entsprechend dieser Übereinkunft ändert die fiktive Bundesregierung im Jahr 2027 das Rentengesetz. Danach können Senioren ihre staatlichen Rentenansprüche an private Konzerne wie "Prolife" überschreiben, im Gegenzug garantieren die Unternehmen die Versorgung der Senioren bis an deren Lebensende. Solange die Alten rüstig und gesund sind, reicht ihre Grundrente für ein Leben in sogenannten Seniorenresidenzen im Ausland, etwa in Afrika. Bei Krankheit greift der M-Faktor, von dem niemand offiziell weiß. Ein Geschäft für den Staat, weil er die Rentenlast los ist und für die Konzerne, weil sie dank des M-Faktors mit den dahinsiechenden Alten Gewinne machen, indem sie weiter deren Grundrente kassieren. Die Spielfilmdoku endet, nach der Rettung hunderter Alter durch die Journalistin Lena Bach aus solch einem Lager in Afrika, mit dem Rücktritt der Bundesregierung und dem eingeblendeten Satz: "Es ist noch nicht geschehen, aber so oder so ähnlich könnte es bald kommen."

Der ZDF-Dreiteiler spart nicht mit schockierenden, realitätsnahen Fakten. Dokumentarische Bilder vom schon gegenwärtigen Pflegenotstand, die Anhebung des Rentenalters auf 70 Jahre, eine nötige Zusatzversicherung für die medizinische Grundversorgung im Alter, mit zwei Euro pro Stunde bezahlte Rentnerjobs - das alles klingt weniger weit hergeholt, als sich das der Rentner von Morgen erträumen möchte. Drastischer noch die Fiktion von kriminellen Rentnern, die - von der Not getrieben - Apotheken überfallen, um an überlebenswichtige Medikamente zu kommen, von - demzufolge - eigens für Senioren gebauten Gefängnissen, von der wachsenden Senioren- Selbstmordrate oder auch die Fiktion vom 2019 erlassenen Gesetz zum freiwilligen Frühableben. Danach können kranke, mittellose Alte den eigenen Tod wünschen, etwa um ihre Familie zu entlasten, die sonst die Hälfte der Behandlungskosten tragen müßte. 48 Stunden später verabreicht der Arzt die entsprechende Spritze, überhastetes Handeln und Mißbrauch des Gesetzes inklusive. Die Fantasie des zukünftigen Rentners muss keine Purzelbäume schlagen, um angesichts dessen zu der ängstlichen Idee zu kommen: Meine Kinder könnten mich einschläfern wie ich meinen alten Hund. Der frappierend und potentiell aufrüttelnde Charakter dieses fiktiven Realismus allerdings wird durch den Fortgang der imaginären Handlung verwässert. Der vermeintliche Attentäter Sven Darow, erst als enthüllender Journalist bei einem kleinen Internetsender für die Rechte der Alten kämpfend, geht in den Untergrund und taucht wieder auf als Mitglied des Kommandos "Zornige Alte". Die nicht zu übersehende RAF-Anleihe und der damit verbundene Rücksprung auf einen als terroristisch gekennzeichneten und bis heute unaktzeptierten Teil der bundesrepublikanischen Gesellschaftsgeschichte, führt - dieser Logik folgend - zu zwangsläufigen Brüchen in der Erzählstruktur. Wird der Rentner Sven Darow zunächst als guter, gerechter, rastloser Freund der Menschen und Verfechter der Altenrechte eingeführt, so schmeißt er plötzlich als zorniger Alter nach den reichen, schönen Senioren mit Farb- und Fettbeuteln - da verknotet sich der Erzählfaden - allerdings getreu der historischen Interpretation, der man sich - durch die Anleihe - mit dem Kommando: "Zornige Alte" verpflichtet fühlen mag. Auch die Tatsache, dass er mit einigen alten zornigen Freunden - als moderner Robin Hood - Banken überfällt und das Geld an bedürftige Senioren verteilt und ihm dabei die Verfassungsschutzpolizei vergeblich auf den Fersen ist, wirkt eher dahergesagt als glaubhaft. Und um einen weiteren logischen Knoten zu benennen, ohne dass es dezidiert erwähnt worden wäre, muss der Zuschauer davon ausgehen, dass auch der vermeintliche Attentäter von der Grundrente lebt. Wie Sven Darow sich angesichts dessen spontan entschließen kann, einen Flug nach Afrika zu buchen und anzutreten, also offenbar auch zu bezahlen, bleibt rätselhaft. Es sei denn, er hat Geld aus seinen räuberischen Überfällen für sich behalten - und auch diese potentielle Unterstellung folgt nicht der Erzähllogik, drängt sich aber geradezu zwangsläufig auf. An dem Gut-Rentner Sven Darow bleibt so der Verdacht der Selbstsucht, der Makel des Querulanten und Terroristen kleben - auch über das scheinbar gute Ende hinaus - das in anständige demokratisch gerechte Verhältnisse zurückführt. Und das, obgleich sich die gesamte Recherche der Journalistin Lena Bach erklärtermaßen darauf konzentriert, die Unschuld und die Redlichkeit der Motive des Sven Darow nachzuweisen.

Auch im dritten Teil der Spielfilm-Doku, der den zweiten Höhepunkt und den Showdown gleichermaßen beinhaltet, erweist sich die neuerliche Geschichtsanleihe als problematisch. Sicher auch, weil der deutsche Fernsehzuschauer schon bei dem Wort Lager in geübter Weise reagiert, nämlich historisch reflektierend. Erst recht angesichts der dazugelieferten Bilder: Wachposten, stacheldrahtumzäuntes Gelände, Baracken, darin: dicht an dicht Pritschen, darauf alte Menschen, die über Schläuche an der Decke flüssig ernährt und gleichzeitig betäubt werden. Der Höhepunkt des Schreckenszenarios im "Aufstand der Alten" - zumindest ganz offenkundig in den Augen der Macher. Denn die handlungsführende Journalistin Lena Bach ringt mit den Tränen, sagt, so etwas habe sie noch nie gesehen, kniet am Bett einer Frau aus Deutschland nieder, offenbar weinend, denn ihre Brille, die ihrem Gesicht bis dahin Strenge, Klarheit und einen wissend taffen Eindruck gesichert hatte, hält sie in der Hand. Während der Zuschauer an manch einer Stelle bereits mit innerem Frieren, Angst, Ekel, Entsetzen und Wut vor dem Fernseher gekämpft haben mag, angesichts einer 3,8l fassenden Windel für Alte, die nur noch einmal am Tag gewechselt werden muss oder auch bei der einschläfernden Todesspritze für Senioren, die Journalistin zeigt an dieser Stelle das erste Mal Emotionen. Dass die nicht echt, sondern aufgesetzt und geheuchelt wirken, mag daher nicht verwundern. Andererseits - im Sinne der Fiktion - mag sein, dass die junge Frau das übrige Elend schon gesehen hat, das für den Zuschauer im Jahr 2007 qualvoll und neu zu sein scheint und eine Reihe denkbarer Gefühle auslöst. So führt dann die assoziative Reise zu der Idee, in einer möglichen Zukunft der deutschen Geschichte, also im Jahre 2030, bräuchte es Lager für Alte. Nicht vornehmlich aus wirtschaftlichen Gründen, sondern geradezu als moralische Rechtfertigung und Legalisierung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse im Allgemeinen wie die der speziellen Lebensumstände der heutigen Alten im Besonderen, etwa nach dem Motto, verglichen mit dem Jahre 2030 sei die Welt der Alten heute doch noch ziemlich in Ordnung. Dieser fatale Eindruck wird leider durch das Ende der Spielfilmdokumentation noch verstärkt. So als brauche der indes gealterte Fernsehzuschauer dringend Trost, vermittelt der Schluss der Geschichte den Eindruck, als sei mit dem Rücktritt der Regierung, die die Verantwortung übernommen hat und so der ungestellten Schuldfrage eine Antwort sichert, alles wieder gut. So als sei mit einer neuen Regierung das Leben überhaupt kein Problem, gleich wie alt und wie sonst beschaffen eine Gesellschaft auch sein mag. Bedauerlicherweise verwischt der Dreiteiler damit seinen mutig- provokativen Ansatz am Ende bis zur Unkenntlichkeit.

8. März 2007


"2030 - Aufstand der Alten"
Dreiteilige ZDF-Doku-Fiction
ausgestrahlt am 16. Januar 2007 um 20.15 Uhr,
am 18. Januar um 21.00 Uhr
und am 23. Januar 2007 um 20.15 Uhr.
Buch und Regie: Jörg Lühdorff