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ALTERNATIVMEDIZIN/252: Naturheilkunde - Vielfalt der Medizin (Securvital)


Securvital 4/2012 - Oktober-Dezember 2018
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen

Naturheilkunde
Vielfalt der Medizin

von Norbert Schnorbach


In vielen Teilen der Welt gibt es naturheilkundliche Traditionen, die die wissenschaftlich geprägte Medizin bereichern können. Prof. Dietrich Grönemeyer plädiert für mehr Aufgeschlossenheit und gegenseitige Wertschätzung.


Ayurvedische Massagen gehören für Dietrich Grönemeyer zu den schönsten Erfahrungen, die er am eigenen Leib erlebt hat. Sie führen "zu völliger Entspannung und Revitalisierung, man fühlt sich gestärkt, im Kopf klar und tatkräftig", lobt er die Massagetechnik aus Indien und Sri Lanka. In der westlichen Schulmedizin gebe es so etwas nicht, meint der 65-jährige Medizinprofessor: "Eine Pille, von der ich mir Ähnliches erhoffen dürfte, habe ich bisher nicht gefunden."

Diese Haltung, offen zu sein für die Traditionen der Heilkunst in anderen Kulturkreisen und das Beste aus zwei Welten zu suchen, ist ein zentrales Anliegen in Grönemeyers neuem Buch "Weltmedizin. Auf dem Weg zu einer ganzheitlichen Heilkunst". Der erfahrene Mediziner ist anerkannter Experte für Strahlenkunde, lehrte an der Universität Witten/Herdecke, führt eine Stiftung für Gesundheitsprävention und schrieb schon mehrere erfolgreiche Bücher ("Arzt mit Herz und Seele", "Für eine menschliche Medizin"). Er plädiert, ähnlich wie Prof. Andreas Michalsen von der Berliner Charité ("Heilen mit der Kraft der Natur"), für eine ganzheitlichere Sicht in der Medizin.

Grönemeyer geht der Frage nach, wie die verschiedensten alternativen Heilmethoden die abendländische wissenschaftliche Medizin und die westlichen Gesundheitssysteme bereichern könnten. Neben Ayurveda hebt er auch die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) hervor, ebenso Osteopathie und Homöopathie, die tibetische Medizin und weniger bekannte Traditionen wie das japanische Shiatsu und das hawaiianische Lomi-Lomi.


Was ist ganzheitliche Medizin?

Es sind unterschiedliche Bezeichnungen gebräuchlich, auch
wenn Ähnliches gemeint ist:

- Alternative Medizin hebt den Gegensatz zur technisch und pharmazeutisch dominierten Medizin hervor, während die Bezeichnung komplementäre Medizin den Aspekt eines sinnvollen Zusammenwirkens der verschiedenen medizinischen Richtungen betont.

- Ganzheitliche und integrative Medizin sind allgemeine Oberbegriffe, um das Zusammenwirken von Körper, Geist und Seele zu unterstreichen.

- Besondere Therapierichtungen ist eine juristische Formulierung im Sozialgesetzbuch, die Homöopathie, anthroposophische Medizin und Phytotherapie umfasst.

- Sanfte Medizin und Naturheilkunde meinen eine Vielzahl von Therapien, denen die Aktivierung von Selbstheilungskräften gemeinsam ist, meist mit natürlichen Anreizen und Wirkstoffen mit geringen Nebenwirkungen.

- Eine neue Wortschöpfung ist der Begriff Traditionelle Europäische Medizin (TEM) für Kneipp, Schröpfen, Heilfasten u.a., angelehnt an die Bezeichnung Traditionelle Chinesische Medizin (TCM).


Heilende Komponente

"Es steht außer Frage, dass unser Gesundheitswesen, rein fachärztlich betrachtet, höchsten Ansprüchen genügt", meint Grönemeyer. Kliniken und Arztpraxen seien bestens ausgerüstet, die Technik meist auf dem neuesten Stand. Aber es fehle etwas Wesentliches bei den ärztlichen Behandlungen, insbesondere die psychosomatische Ebene und die Zeit für das Gespräch zwischen Arzt und Patient. "Medizin wird zunehmend seelenlos, und der Austausch von Mensch zu Mensch wird durch technische Diagnosemethoden oder sogar durch Roboter ersetzt. Das persönliche Gespräch, vertrauensvolle Hilfe zur Selbsthilfe und körperorientierte Verfahren als heilende Komponente verlieren ihren Wert".

Die Humanmedizin laufe Gefahr, ihre Humanität zu verlieren, wenn die Dimension der ganzheitlichen Betrachtung von Gesundheit und Krankheit fehle. "Es ist die Fixierung auf die Technik, die mir Angst macht - der Glaube, jede Krankheit ließe sich schon irgendwie wegoperieren oder mit Medikamenten behandeln". Grönemeyer nennt als Beispiel das Phänomen der Rückenschmerzen, die viel zu häufig operiert werden. Andere Behandlungsmethoden, die die Person des Patienten und seine Selbstheilungskräfte stärker einbeziehen, seien erfolgversprechender.

Grönemeyer hält nichts davon, obskuren Wunderheilern oder ungeprüften Heilungsversprechen zu trauen. Er fordert, ganz im Sinne der wissenschaftlichen Medizin, Wirksamkeitsnachweise auch bei alternativer Medizin. Aber er plädiert dafür, dass beide Seiten - Schulmediziner wie Naturheilkundler - mehr Toleranz und Aufgeschlossenheit und gegenseitige Lernbereitschaft entwickeln: "Ich glaube, dass man eine wissenschaftlich orientierte Medizin betreiben kann, ohne die traditionelle Heilkunst gering zu schätzen".

Die Akupunktur sei dafür ein gutes Beispiel: "Wer noch vor zwei, drei Jahrzehnten in der Sprechstunde fragte, ob es nicht möglich wäre, seine Schmerzen mit Akupunktur zu lindern, wurde in der Regel mit einem müden Kopfschütteln entlassen, nicht selten wurde vor der 'unsinnigen' Prozedur gewarnt, Akupunkteure galten als Scharlatane. Heute bieten viele Kollegen die chinesische Schmerzbehandlung als ergänzende Therapie an, obwohl auch sie nicht genau wissen, wie sich die Wirkung letztlich erklären lässt."

Weitere Anzeichen für einen Wandel bei der Anerkennung von alternativer Medizin sind durchaus erkennbar. An einer ganzen Reihe von Universitäten in Deutschland gibt es Professuren für naturheilkundliche, integrative oder komplementäre Medizin. Über 60.000 Ärzte haben eine anerkannte Zusatzqualifikation für Naturheilverfahren, Homöopathie, Akupunktur, Chiropraktik oder verwandte Richtungen. Galt die Naturheilkunde vor einigen Jahren noch als Außenseitermedizin, so erfährt sie nun eine wachsende Wertschätzung, vor allem bei gesundheitsbewussten Menschen.

"Es ist höchste Zeit, das wir im Gesundheitswesen über kulturelle und sonstige Grenzen hinweg näher zusammenrücken", meint Grönemeyer in seinem empfehlenswerten Buch über die "Weltmedizin". In vielen Teilen der Welt habe sich "im Laufe der Geschichte ein ärztlicher Erfahrungsschatz angehäuft, von dem ich meine, dass wir ihn viel zu wenig nutzen".


"Meine Vision ist eine Weltmedizin, in der sich die vielfältigen Ansätze traditioneller und moderner Medizin zu einem neuen Ganzen verbinden."
Prof. Dietrich Grönemeyer
("Weltmedizin. Auf dem Weg zu einer ganzheitlichen Heilkunst", Frankfurt 2018)

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Quelle:
Securvital 4/2012 - Oktober-Dezember 2018, Seite 16-17
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Oktober 2018

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