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GERIATRIE/224: Demenzerkrankungen - Der verlorene Weg (Ruperto Carola)


Ruperto Carola - Forschungsmagazin der Universität Heidelberg 2/2009

Der verlorene Weg
Veränderte Bewegungsmuster lassen auf den Schweregrad kognitiver Veränderungen schließen

Von Hans-Werner Wahl und Noam Shoval


Sobald wir laufen können, bestimmt Bewegung unser Leben. Innere und äußere Wegzeiger halten uns dabei "in der Spur" und lassen uns Ziele oder den Weg zurück nach Hause finden. Im Alter aber verliert sich die für Jahrzehnte als selbstverständlich erlebte Fähigkeit, besonders dann, wenn kognitive Funktionseinbußen hinzutreten. Moderne Navigationstechniken erlauben es, die außerhäuslichen Spuren älterer Menschen nachzuvollziehen. Dies kann die Sicherheit der Senioren erhöhen und Angehörige entlasten. Charakteristische Veränderungen des Mobilitätsmusters können auf bedenklichere kognitive Einbußen hinweisen und eröffnen die Chance, Demenzerkrankungen frühzeitig zu erkennen und zu behandeln.


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In den westlichen Industrienationen leben immer mehr ältere Menschen. In Deutschland wird der Anteil der über 60-Jährigen voraussichtlich bis zum Jahr 2050 auf etwa 36 Prozent ansteigen. Gleichzeitig wird die deutsche Bevölkerung schrumpfen, und zwar von heute rund 82 auf etwa 70 Millionen. Die Gruppe der in ihrer Selbstständigkeit besonders gefährdeten über 80-Jährigen - das sind derzeit drei Millionen Menschen, was circa 3,5 Prozent der Bevölkerung entspricht - wird sich bis zum Jahr 2050 mit 7,9 Millionen in absoluten Zahlen mehr als verdoppelt und im relativen Anteil mit etwa elf Prozent mehr als verdreifacht haben.

So planen und gestalten wir mittlerweile nahezu selbstverständlich ein "langes Leben". Die (relative) Gewissheit einer zwei bis drei Jahrzehnte dauernden "nachberuflichen" Phase bringt jedoch nicht nur neue Freiheitsgrade, sondern auch neue existenzielle Unsicherheiten mit sich. Wissenschaftlich betrachtet lautet die Frage: Ist das "Mängelwesen Mensch" gut genug gerüstet für ein solch langes Altern? Individuell gewendet heißt die Frage: Werden wir das lange Altern mit Lebensqualitätsverlusten, etwa Pflegebedürftigkeit und Abhängigkeit, bezahlen müssen? Und gesellschaftlich formatiert lautet sie: Sind politische Systeme, die demnächst mit einem Drittel älterer und mit über einem Zehntel hochaltriger Menschen rechnen müssen, in ihren Grundfesten wie Ökonomie, Teilhabe, Produktivität oder Generationengerechtigkeit gefährdet?

Eines ist heute schon klar: Der starke Zuwachs an Hochaltrigen wird mit einem bedeutsamen Anstieg schwerwiegender kognitiver Verluste einhergehen. Während demenzielle Erkrankungen bis zum 60. Lebensjahr mit einer Häufigkeit von unter 0,1 Prozent nur eine untergeordnete Rolle spielen und in der Gruppe der 60- bis 69-Jährigen nur bei etwa ein Prozent liegen, steigt der Anteil bei den über 80-Jährigen auf mehr als 20 Prozent. Demenzielle Erkrankungen - und hier an erster Stelle die Alzheimerkrankheit - äußern sich mit schwerwiegendsten Störungen der Ratio wie fehlender Orientierung zur eigenen Person (nicht mehr wissen, wer man ist), zur sozialen Umwelt (nicht mehr wissen, wer die geliebten Anderen sind), zur Zeit (nicht mehr wissen, welche Uhr-, Tages- und Jahreszeit es ist) und zur Räumlichkeit (nicht mehr wissen, wo man ist). Sie sind mittlerweile zur häufigsten Ursache für den Verlust einer selbstständigen Lebensführung und damit zu einer zentralen Bedrohung der Lebensqualität im Alter geworden. Die belastenden Auswirkungen auf die soziale Umwelt bringen ebenso gravierende Herausforderungen für den Erhalt der Lebensqualität von pflegenden Angehörigen mit sich.

Doch dies ist leider noch nicht alles. Hinzu kommen leichtere kognitive Störungen, die sich neuropsychologisch fassen lassen, und häufig als "milde kognitive Beeinträchtigungen" (Mild Cognitive Impairment, kurz MCI) bezeichnet werden. Sie sind mit subjektiven Beeinträchtigungen verbunden, ohne dass der Alltagsablauf der Menschen bereits gravierend eingeschränkt oder die Kriterien einer manifesten Demenz erfüllt wären. Zwischen 20 bis 30 Prozent der über 65-Jährigen zeigen solche milden kognitiven Beeinträchtigungen, bei etwa 70 Prozent der Betroffenen werden sie in eine demenzielle Entwicklung münden.

Was hat all dies mit außerhäuslichen Bewegungsmustern zu tun? Außerhäusliche Mobilität ist ein komplexes Verhalten und basiert auf dem ständigen Vergleichen innerer Stellgrößen (etwa den jeweiligen Wegzielen) mit den "Ergebnissen" fortlaufender Verarbeitung und dem Bewerten von Umweltinformationen. Beteiligt sind motivationale Prozesse ("Ich will heute meine Tochter in Mannheim besuchen"), aber auch kognitive, sensorische und motorische Leistungen. Die Koordination dieser Vorgänge wird im Alter generell langsamer und fehleranfälliger. Dies macht sich besonders dann bemerkbar, wenn Mehrfachanforderungen auftreten, beispielsweise beim Überqueren einer Straße, wobei nicht nur auf die eigenen Schritte, sondern auch auf den Verkehr geachtet werden muss. Treten kognitive Verluste hinzu, können solche Anforderungen schnell zu Überforderungen, nicht selten sogar zu Lebensrisiken werden.

Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass eine gestörte außerhäusliche Mobilität - ob in Gestalt von Orientierungsstörungen, der Fehleinschätzung von Gefahren oder von unkontrolliertem Wanderverhalten - ein häufiges Verhaltensproblem bei demenziellen Erkrankungen und MCI ist. Alltagsnahe und detailreiche Untersuchungen der objektiven außerhäuslichen Mobilität bei kognitiv beeinträchtigten Älteren liegen bislang allerdings noch kaum vor. Dabei interessiert nicht nur das außerhäusliche Mobilitätsverhalten von an Demenz Erkrankten und Menschen mit leichten kognitiven Beeinträchtigungen, sondern auch das Verhalten von Menschen ohne geistige Funktionsverluste. Denn außerhäusliche Mobilität, etwa Reisen oder die Teilnahme am kulturellen Leben, stellen gerade in Zeiten des "neuen Alterns" für ältere Menschen ein hohes Gut und eine wichtige Quelle für Lebensqualität dar.

Wir fragen uns, ob neue Informations-, Kommunikations- und Orientierungstechnologien hier eine hilfreiche Rolle übernehmen können. Die fortschreitende technische Entwicklung ist schließlich seit Jahrtausenden die Antwort des "Mängelwesens Mensch" auf seine Probleme. Nur dass diese Antworten bislang alte Menschen beziehungsweise das extreme Altern von Gesellschaften kaum berücksichtigt haben.

Die Gründe dafür sind vielfältig: Sie reichen von der angeblichen Technikfeindlichkeit älterer Menschen (Einstellungsargument) über angebliche Überforderungen (Kompetenzargument) bis hin zur Befürchtung einer Vollautomatisierung der Pflege und Versorgung (Entmenschlichungsargument).

Hier setzt unsere Studie im Rahmen der "Deutsch-Israelischen Projektkooperation" (DIP) des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft an. Wir wollen uns während der für voraussichtlich fünf Jahre geförderten Projektphase gleichsam an die Fersen älterer Menschen heften - deshalb auch die englische Abkürzung "SenTra" für "Senior Tracking" - und in mehrerer Hinsicht Neuland betreten: Der Einsatz moderner Tracking-Technologie bei kognitiv beeinträchtigten Personen in Privathaushalten ist weltweit ein Novum. Bislang wurden solche Techniken überwiegend im Heimbereich eingesetzt. Die Techniken verhelfen dazu, alltagsnahe und facettenreiche Raum-Zeit-Daten mit einer Genauigkeit zu erfassen, welche die Möglichkeiten traditioneller Erfassungsmethoden außerhäuslicher Mobilität (vorwiegend auf der Grundlage von Fragebogen) bei weitem übertrifft.

"SenTra" beinhaltet aber noch ein zweites Novum: Noch nie haben sich unseres Wissens die Disziplinen Geographie, Psychologie, Psychiatrie, Sozialarbeit und Ethik verbündet, um dem Altern auf dem vielleicht direktesten Weg auf die Spur zu kommen: durch die exakte Aufzeichnung und Auswertung der "Mobilitätsspuren" älterer Menschen und der Verknüpfung mit weiteren Daten. Dadurch wird es möglich, neue wissenschaftliche Fragen, etwa nach der Vielfalt existierender Mobilitätsmuster, nach Persönlichkeits- und Umweltmerkmalen sowie nach Zielvariablen des psychischen Wohlbefindens, einzubeziehen. Auch ethische Aspekte stehen im Mittelpunkt der Betrachtung, etwa zur Nutzung modernster Tracking-Technologie (droht der "Big Brother" der Überwachung? Wer erhält Zugang zur Technik und zur Anwendung (etwa nach Elementen der Frühdiagnostik, die in den Mobilitätsmustern enthalten sein könnten, und nach Möglichkeiten der Entlastung von pflegenden Angehörigen). Die Erhebungen der Daten in Israel und Deutschland macht darüber hinaus Vergleiche über die nationalen Grenzen hinweg möglich.

In "SenTra" werden Personen mit leichter Demenz oder MCI und kognitiv unauffällige ältere Personen in Privathaushalten jeweils im Abstand von einem Jahr insgesamt drei Mal medizinisch-psychiatrisch und psychologisch untersucht. Zudem wird ihre außerhäusliche Mobilität unter Verwendung einer Tracking-Technologie digital erfasst. Auch pflegende Angehörige werden in die Studie einbezogen und nach ihrer Lebenssituation befragt. Die hinter diesen Untersuchungen stehende Idee ist, auch Veränderungen über die Zeit - also beispielsweise den Übergang von ungestörter zu gestörter Mobilität aufgrund des Fortschreitens kognitiver Verluste - abbilden zu können.[*]

Die Tracking-Technologie funktioniert ähnlich wie ein Auto-Navigationssystem über Satellitensignale. Dazu statten wir die Teilnehmer mit drei technischen Einheiten aus: Sie erhalten eine mit verschiedenen Sensoren versehene Armbanduhr, einen tragbaren GPS-Signalempfänger mit Mobilfunkmodem sowie eine Empfangsstation mit Signalverstärker für zu Hause. Die Armbanduhr sendet alle zehn Sekunden Signale an die Empfangsstation beziehungsweise an den tragbaren GPS-Signalempfänger. Die Empfangsstation ermittelt, ob sich die Studienteilnehmer im eigenen Haus oder in der eigenen Wohnung befinden. Wird das Zuhause verlassen, ortet der tragbare GPS-Signalempfänger alle zehn Sekunden den aktuellen Standort.

Nachdem die Studienteilnehmer in die Handhabung der Technik eingewiesen worden sind, tragen sie die Geräte etwa vier Wochen lang außer Haus mit sich. Die während dieser Zeit mithilfe des "Global Positioning System" (GPS) erzeugten Datenpunkte werden auf einen Server in der Hebrew University of Jerusalem übertragen und stehen für Auswertungen zur Verfügung. Zu jedem gewünschten Zeitpunkt ist es beispielsweise möglich, die Zielperson auf etwa fünf Meter genau zu orten und zu berechnen, wie weit sie von der eigenen Wohnung entfernt ist oder wie schnell sie sich zwischen verschiedenen Orten bewegt. Es ist zudem möglich, sogenannte Nodes - das Verweilen von mindestens fünf Minuten an einem Ort - zu identifizieren. Weitere telefonisch erhobene Daten erlauben es, inhaltliche Spezifizierungen der Raum-Zeit-Daten vorzunehmen und beispielsweise die angelaufenen Ziele oder die Knotenpunkte genauer zu bestimmen. Den Pflegenden wird die Möglichkeit angeboten, über ein passwortgeschütztes Internetportal die Wege ihrer Angehörigen nahezu in Echtzeit zu verfolgen.

In einer Pilotphase testeten wir zunächst die grundsätzliche Machbarkeit des Vorgehens. In den Heidelberger Studienarm wurden dazu 19 Personen einbezogen, davon litten sechs Personen an leichter Demenz, sechs an leichten kognitiven Beeinträchtigungen, sieben Personen waren kognitiv unbeeinträchtigt. Die Studienteilnehmer waren zwischen 65 und 87 Jahre alt. In der Pilotphase zeigte sich, dass es nicht immer einfach ist, ältere Menschen zum Tragen der GPS-Geräte zu ermuntern. Dies aber ist erforderlich, um eine hohe Validität (Gültigkeit) der aufgezeichneten Daten zu erzielen. Ebenso wenig hat es uns überrascht, dass sich die Technik als keinesfalls fehlerfrei und optimierungsbedürftig herausstellte. Insgesamt aber erwies sich das Vorgehen als durchführbar, sodass bereits während der Pilotphase genügend Raum-Zeit-Daten für erste Auswertungen verfügbar waren.

Wie stellt sich die außerhäusliche Mobilität einer Person, die an Demenz erkrankt ist, im Laufe eines Tages dar? Was kann man bereits aus Einzelfallbetrachtungen lernen? Ein grundlegendes Auswertungsinstrument ist, die Mobilität grafisch abzubilden, also die GPS-Koordinatendaten auf der Verrechnungsgrundlage von mindestens drei Satelliten, die den Aufenthaltsort der Person im Zehnsekunden-Abstand erfassen, bildlich umzusetzen. Die Pfeilrichtung zeigt dabei die Mobilitätsrichtung der Person an; eine Anhäufung von Datenpunkten signalisiert ihr Verweilen an Knotenpunkten. Wird ein Weg mehrmals beschritten, kommt es zu Datenpunktüberlagerungen; stärker auseinandergezogene Datenpunkte signalisieren eine höhere Bewegungsgeschwindigkeit.

Nehmen wir als Beispiel Herrn Müller[*], einen 78 Jahre alten Studienteilnehmer, der an einer leichten Demenz erkrankt ist. Sein Mobilitätsbedürfnis ist sehr ausgeprägt, in letzter Zeit hat er sich mehrmals verlaufen. Er wurde im Rahmen der SenTra-Pilotphase "getrackt". Die Aufzeichnung seiner Mobilität am 11. Oktober 2007 sowie ergänzende Befragungen eines Angehörigen ergeben für Herrn Müller folgendes Bild: Wie meist bevorzugte Herr Müller auch am 11. Oktober die Bewegung in der Nähe seines Hauses, entweder im großen Gartenbereich oder entlang der nahe des Hauses gelegenen Straßen. Dieses Muster findet sich auch bei anderen Studienteilnehmern häufig: Die "sichere" Nahumwelt um die eigene Wohnung wird von kognitiv beeinträchtigten Älteren deutlich stärker als von kognitiv nicht Beeinträchtigten genutzt. Bei Herrn Müller fiel auf, dass ihm die Straßenüberquerungen Probleme bereiten: Hier kam es immer wieder zu einem längeren Verweilen. Die Daten weisen auch darauf hin, dass sich bei Herrn Müller am 11. Oktober vorübergehend Orientierungsstörungen einstellten. Er ist zum Beispiel in einen Bus ein- und nach kurzer Zeit wieder ausgestiegen, um mit einem anderen Bus zu fahren.

Wie stellen sich nun Raum-Zeit-Daten in größerem Maßstab, also mit Gruppen von Älteren, dar? Welche Zusammenhänge zeichnen sich zwischen Raum-Zeit-Daten und psychologischen Merkmalen ab? Wir haben eigens für diesen Beitrag 15 kognitiv unauffällige Personen einer ersten Analyse unterzogen. Diese Anzahl der Studienteilnehmer ist sicher noch gering; dennoch haben wir für jede Person geprüfte Raum-Zeit-Daten aus vier Wochen Beobachtungszeit vorliegen. Dies ergibt insgesamt eine Beobachtungsdauer von beachtlichen 10080 Stunden.

Für eine erste Reduktion dieser Datenfülle bieten sich "Spinnennetzdiagramme" an, in denen die jeweiligen Entfernungen (in Metern) mit der Uhrzeit auf unterschiedlichen Aggregatebenen (zum Beispiel Einzelfälle, Gruppen, Gegenüberstellung von Subgruppen) verknüpft werden können. Diese Darstellungsform kann beispielsweise auf Alltagsroutinen in den Mobilitätsmustern oder auf Unterschiede zwischen Gruppen von Älteren mit unterschiedlichen Charakteristika (etwa deutsche gegenüber israelischen Älteren) hinweisen.

Die Spinnennetzdiagramm-Darstellung[*] zeigt, dass sich die außerhäusliche Aktivität grob auf die Zeit zwischen acht Uhr vormittags und 19 Uhr abends konzentriert. Es ergibt sich auch, dass sich einige Personen im Beobachtungszeitraum relativ weit (bis etwa 4,5 km) von ihrer Wohnung entfernen, während sich bei der Mehrzahl das nahe Umfeld um die Wohnung oder das Haus (rund ein Kilometer) als Schauplatz außerhäuslicher Mobilität erweist. Korrelative Analysen zeigen, dass kognitiv weniger leistungsfähige Personen tendenziell kleinere Aktionsradien aufweisen.

Eine erste Gegenüberstellung der Raum-Zeit-Daten der 15 deutschen mit israelischen Älteren zeigt interessante Unterschiede: Das Grundmuster außerhäuslicher Aktivität ist zunächst ähnlich, der Aktionsradius der deutschen Älteren ist jedoch deutlich größer. Eine Erklärung könnte sein, dass die deutsche Stichprobe mehr Ältere beobachtet, die in ländlichen oder suburbanen Regionen leben, während die israelischen Älteren vor allem in Städten wohnen.

Das Internetportal, das es Angehörigen erlaubt, die Mobilitätspfade älterer Menschen individuell abzurufen, wird gut akzeptiert. Es zeigte sich der zu erwartende Trend, dass das Portal von Angehörigen umso stärker genutzt wird, je mehr die kognitive Beeinträchtigung der älteren Person voranschreitet. Die Angehörigen erleben dadurch eine Entlastung. Begleitende Untersuchungen unserer israelischen Kollegin Ruth Landau zeigen, dass aus ethischer Sicht bei Angehörigen und Pflegenden die Frage im Vordergrund steht, ob beim Einsatz der Technologie die Autonomie und Privatsphäre der älteren Menschen gewahrt bleiben. Es wird jedoch auch immer wieder betont, dass eine derartige Technologie älteren Menschen nicht vorenthalten werden dürfe, weil sich ihre außerhäusliche Sicherheit dadurch deutlich erhöhe.

Langfristig will "SenTra" die zentralen Unterschiede im außerhäuslichen Mobilitätsverhalten der einbezogenen Gruppen identifizieren und anhand umfassender Personen- und Umweltdaten erklären. Wir hoffen, dabei spezifische Mobilitätsmuster als Diagnoseinstrument - idealerweise für eine frühe Diagnose demenzieller Erkrankungen - verwenden zu können. Gleichzeitig ist die Technologie, gerade im Vor- und Frühstadium einer Demenz, eine Möglichkeit für Angehörige, jederzeit zu prüfen, wo sich ältere Familienmitglieder gerade befinden und ob sie möglicherweise gefährdet sind. Diese Information kann auch das Sicherheitsempfinden der Betroffenen stärken.

Es liegt auf der Hand, dass sich eine kommerzielle Nutzung der bislang "nur" als Forschungsmethode eingesetzten "Tracking"-Technologie abzeichnet. Für uns ist es keine Frage, dass solche Technologien die Lebensqualität von kognitiv beeinträchtigten oder demenziell erkrankten älteren Menschen bedeutend fördern können und in naher Zukunft eine große Verbreitung erfahren sollten. Umso wichtiger ist es, mittels Forschung bereits vor der Markteinführung die empirische Evidenz der neuen Technik, ihren Nutzen und ihre Grenzen zu kennen.


[*] Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Originalartikel mit Abbildungen (zu "Tracking-Technologie" und "Wege von Herrn Müller, 78 Jahre" auf Seite 36 und "Spinnennetzdiagramm-Darstellung" auf Seite 37) - siehe unter:
http://www.uni-heidelberg.de/presse/ruca/2009-2/6alt.html


Prof. Dr. Hans-Werner Wahl leitet die Abteilung für Psychologische Alternsforschung am Psychologischen Institut der Universität Heidelberg. Er promovierte 1989 an der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die Untersuchung von Wechselwirkungen zwischen Altern und Umwelt, Selbstständigkeit im Alter und Umgang mit chronischen Verlusten und Interventionsfragen. Im November 2009 wird Hans-Werner Wahl den "Powell Lawton Award" der Gerontological Society of America (GSA) erhalten, eine der weltweit höchsten Auszeichnungen im Bereich der angewandten Alternsforschung.

Dr. Noam Shoval ist Senior Lecturer am Geographischen Institut der Hebräischen Universität Jerusalem. Er promovierte im Jahr 2000 an der Hebräischen Universität Jerusalem und arbeitete am King's College der Universität London. Von 2007 bis 2008 war er als Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung am Geographischen Institut der Universität Heidelberg tätig.

(Kontakt: h.w.wahl@psychologie.uni-heidelberg.de)


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Quelle:
Ruperto Carola 2/2009, Seite 33-38
Forschungsmagazin der Universität Heidelberg
Herausgeber: Der Rektor der Universität Heidelberg
im Zusammenwirken mit der Stiftung Universität Heidelberg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Oktober 2009