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NEUROLOGIE/647: Wachkoma - Erweckt durch Elektroden (Gehirn&Geist)


Gehirn&Geist 4/2011
Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung

MEDIZIN | WACHKOMA
Erweckt durch Elektroden

Von Christof Koch


Menschen mit schweren Hirnschäden fallen oft ins Koma oder in einen »Zustand minimalen Bewusstseins«. Ärzte versuchen neuerdings, diese Patienten durch gezielte Stimulation des Gehirns aufzuwecken - mit beachtlichem Erfolg.


Die meisten Wissenschaftler, die im Gehirn nach den Grundlagen des menschlichen Bewusstseins suchen, sind »kortikale Chauvinisten«: Sie konzentrieren sich auf die Großhirnrinde (Kortex), die das übrige Gehirn wie ein Mantel bedeckt. Irgendwo in diesen Zellschichten, so die Annahme, residieren Wahrnehmung, Gedächtnis und Ichbewusstsein. Ohne Frage könnten wir besonders fassettenreiche Erfahrungen nicht ohne das synchrone Feuern von Zellen in der Großhirnrinde erleben, die Signale mit den darunterliegenden Strukturen wie der Amygdala, dem Claustrum oder den Basalganglien austauschen - das seltsame Gefühl der Vertrautheit bei einem Déjàvu; das Aha-Erlebnis, wenn uns plötzlich die Lösung eines Rätsels einfällt; die Entmutigung beim Lesen eines Berichts über ein weiteres Selbstmordattentat.

Doch um diese subjektiven Empfindungen überhaupt zu ermöglichen, braucht es jenseits der höheren Hirnzentren eine grundlegende Infrastruktur des Bewusstseins. Und hier kommen einige weniger prominente Regionen des Gehirns ins Spiel - tief unten in den Katakomben des Schädels gelegen -, die Forscher vom Schlage der kortikalen Chauvinisten gerne vernachlässigen.

Schon lange ist bekannt, dass neurologische Patienten selbst mit relativ großen Schädigungen der Großhirnrinde oft vergleichsweise glimpflich davonkommen: Möglicherweise sehen diese Menschen nicht mehr farbig, sondern schwarz-weiß, oder sie erkennen plötzlich keine vertrauten Gesichter mehr. Das sind gewiss gravierende Einschränkungen, doch im Alltag kommen die Betroffenen erstaunlich gut zurecht. Im Hirnstamm und den direkt darüberliegenden Bereichen des Thalamus jedoch reicht es, wenn Gewebe von der Größe eines Zuckerwürfels beidseitig geschädigt ist, und der Betroffene wird vollkommen bewusstlos. Ein Autounfall, eine Überdosis Drogen, eine Schussverletzung, ein Beinahe-Ertrinken, ein Schlaganfall - all diese Ereignisse können die tief im Gehirn gelegenen Bewusstseinszentren schädigen.

In diesem Zustand befand sich auch die US-Amerikanerin Terri Schiavo, die nach einem Herzstillstand 15 Jahre lang im Wachkoma lag und in dieser Zeit künstlich am Leben erhalten wurde. Ableitungen mittels Elektroenzephalografie (EEG) zeigten fast keine elektrische Aktivität, ein Zeichen dafür, dass auch die Großhirnrinde der Patientin die Arbeit eingestellt hatte (siehe G&G 7-8/2010, S. 34). Der Fall erregte weltweit Aufsehen, weil Terri Schiavos Ehemann Michael in mehreren Gerichtsprozessen dafür stritt, dass die Ärzte die künstliche Ernährung seiner Frau einstellen durften. 2005 schließlich wurde die Magensonde gegen den Willen der Eltern der Patientin entfernt; Terri Schiavo verhungerte.

Menschen im Wachkoma reagieren nicht mehr auf ihre Umwelt, abgesehen von einfachsten Reflexen, die über den Hirnstamm vermittelt werden. Sie können nicht durch Nicken oder Blinzeln auf Fragen antworten. Weniger schwere Hirnverletzungen führen dagegen oft zu einem Zustand »minimalen Bewusstseins« (englisch minimally conscious state, MCS). Auch hier sind die Patienten ans Bett gefesselt und auf künstliche Ernährung angewiesen. Doch sie haben wenigstens vorübergehend Momente, in denen sie mit ihrer Umwelt Kontakt aufnehmen. Dann können sie zum Beispiel einfache Bewegungen ausführen oder mit den Augen rollen. Allerdings ist ihre Wahrnehmung des eigenen Zustands und der Umgebung wohl stark beeinträchtigt, der Grad an Wachheit und Bewusstsein schwankt.

Wachkoma und MCS sind keine Seltenheit, auch wenn niemand die genaue Zahl der Betroffenen kennt. In den USA befinden sich Schätzungen zufolge rund 30.000 Menschen in Hospizen, Pflegeheimen oder zu Hause im Wachkoma, oft schon seit Jahren - eine enorme Herausforderung für Ärzte und Angehörige. Der Neurowissenschaftler Boris Kotchoubey von der Universität Tübingen schätzt die aktuelle Zahl der Patienten in Deutschland auf rund 10.000. Hinzu kommen in beiden Ländern mindestens noch einmal so viele MCS-Fälle.

Es handelt sich dabei quasi um eine Nebenwirkung der immer effektiveren Notfallmedizin: Der Einsatz von Rettungshubschraubern, speziell geschultem medizinischen Personal sowie besseren Medikamenten erlaubt es, mehr Kranke und Verunglückte als je zuvor zu retten. Für die meisten ist das ein Segen. Doch andere bleiben komatös oder mit rudimentärem Bewusstsein am Rand des Todes zurück.

Weder in den USA noch in Europa gibt es derzeit koordinierte Forschungsbemühungen, um neue Methoden zu entwickeln, mit denen sich dahindämmernde Patienten wiederbeleben ließen. Doch einige Pioniere arbeiten daran - mit Hilfe der Tiefenhirnstimulation. Diese Technik ist vor allem durch ihren Einsatz bei Parkinsonkranken bekannt geworden. Dabei werden Elektroden in den Thalamus eingepflanzt, einen wachteleigroßen Bereich im Zentrum des Gehirns. Sobald elektrischer Strom durch die Elektroden fließt, bessern sich die Symptome der Krankheit, Muskelstarre und Zittern verschwinden.


Sitz des Bewusstseins?

In den vergangenen 15 Jahren haben der Neurochirurg Takamitsu Yamamoto und seine Kollegen von der Nihon-Universität in Tokio versucht, diese Technik auch bei Wachkoma- und MCS-Patienten anzuwenden. Sie stimulierten mit Hilfe der Elektroden die intralaminären Kerne im Thalamus, einer Hinregion, die unter anderem für Erregung und Wachheit zuständig ist. Die Kerne scheinen daran beteiligt zu sein, die Kortexaktivität zu kontrollieren und zu steuern - und sind nach Ansicht des US-amerikanischen Neurochirurgen Joseph Bogen (1926 - 2005) essenziell für das menschliche Bewusstsein.

Die Hirnstimulation zeigte bei einigen der von Yamamoto getesteten Patienten erstaunliche Wirkung: Sie öffneten die Augen oder gaben Laute von sich, ihre Pupillen weiteten sich, der Blutdruck stieg. Das EEG zeigte nicht mehr die langsamen, synchronen Wellen, die für Schlaf und Dämmerzustand charakteristisch sind, sondern kurzwellige Hirnströme, wie sie sonst bei wachen, aufmerksamen Individuen auftreten.

Diese vorübergehenden Reaktionen haben für sich genommen wenig therapeutischen Nutzen. Doch bei 8 der 21 schwer betroffenen Patienten, deren Thalamus die Forscher regelmäßig stimulierten, zeigte sich auch ein langfristiger Effekt: Nach einigen Wochen wechselte ihr Zustand vom Wachkoma in einen mit minimalem Bewusstsein. Jene fünf Behandelten, bei denen bereits zu Beginn der Therapie MCS diagnostiziert worden war, erholten sich ebenfalls; vier von ihnen können mittlerweile wieder zu Hause leben.

Allerdings erprobte Yamamoto seine Methode ausschließlich an Betroffenen, die erst drei bis sechs Monaten im Koma gelegen hatten. In dieser Zeit werden Patienten zuweilen auch ohne Eingriff wieder gesund - eindeutig belegen ließ sich der Nutzen der Therapie also noch nicht. Zudem bleibt fraglich, ob eine solche Tiefenhirnstimulation auch jenen helfen könnte, die schon seit Jahren im Wachkoma liegen. Auch Terri Schiavo wurde in einer dieser frühen Hirnstimulationsstudien behandelt, jedoch ohne Erfolg.

Von einem bemerkenswerten Fall berichtete dagegen 2007 ein Team aus Hirnforschern, Neurologen und Chirurgen, unter der Leitung von Nicholas Schiff vom Weill Cornell Medical College in New York. Die Wissenschaftler behandelten einen 38 Jahre alten Patienten, der bei einem Überfall schwere Hirnverletzungen erlitten und nach anfänglichem Koma sechs Jahre lang die typischen Anzeichen minimalen Bewusstseins gezeigt hatte. Er verfügte über fast keine motorische Kontrolle und konnte nicht selbstständig kauen oder schlucken, zudem gab er nur unverständliche Laute von sich.

Die Neurowissenschaftler pflanzten Elektroden in den vorderen Teil der beiden intralaminären Kerne des Thalamus und behandelten den Patienten insgesamt elf Monate lang per Tiefenhirnstimulation. Dabei waren die Elektroden meist einen Monat lang an - und ebenso lange abgeschaltet. Ergebnis: Wann immer der Thalamus stimuliert wurde, verbesserten sich die Wahrnehmungsfähigkeit und die motorische Kontrolle des Mannes erheblich. Der Patient konnte etwa seine Arme und Hände bewegen sowie sein Essen selbst kauen und schlucken - eine beachtliche Verbesserung. Noch entscheidender für ihn und seine Familie war allerdings, dass er nun in der Lage war, sich mittels Gesten, einzelner Wörter und manchmal sogar kurzer Sätze zu verständigen.

Auch längerfristige Effekte waren zu beobachten. Nach der fast einjährigen Tiefenhirnstimulation hatten sich die Hirnfunktionen des Patienten insgesamt verbessert. Manche heilsame Auswirkung blieb nun sogar bestehen, auch wenn der Thalamus nicht gerade elektrisch angeregt wurde.

Natürlich wissen auch Schiff und seine Kollegen: Eine erfolgreiche Behandlung ist noch kein Beweis für den Nutzen einer Therapie, zumal MCS ein kompliziertes und vielfältiges Syndrom ist. Ob und in welchem Zeitrahmen eine Tiefenhirnstimulation sinnvoll ist, dürfte von einer ganzen Reihe von Faktoren abhängen, wie der Schwere der Verletzung, den betroffenen Hirngebieten oder dem allgemeinen Zustand des Patienten.

Doch sollten sich die jüngsten Erfolge wiederholen lassen, sind wir auf dem richtigen Weg: Die Kombination aus Grundlagenforschung und moderner Stimulationstechnik könnte es uns in Zukunft erlauben, die motorischen Funktionen und das Bewusstsein von Patienten wiederzubeleben, für die es bislang kaum Hoffnung auf Heilung gibt.


Christof Koch ist Professor für kognitive Biologie und Verhaltensbiologie am California Institute of Technology in Pasadena.


QUELLEN

Schiff, N. D. et al.:
Behavioural Improvements with Thalamic Stimulation after Severe Traumatic Brain Injury. In: Nature 448, S. 600 - 604, 2007

Schiff, N. D. et al.:
Deep Brain Stimulation, Neuroethics, and the Minimally Conscious State. In: Archives of Neurology 66, S. 697 - 702, 2009

Yamamoto, T., Katayama, Y.:
Deep Brain Stimulation Therapy for the Vegetative State. In: Neuropsychological Rehabilitation 15, S. 406 - 413, 2005


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

S. 55
BERÜHMTER STREITFALL
Die US-Amerikanerin Terri Schiavo lag 15 Jahre lang im Koma, vermutlich ohne jedes Bewusstsein - gelegentliche Reaktionen wie dieses Lächeln werteten die meisten Ärzte als reine Reflexe. Ihr Fall wurde bekannt, als der Ehemann der Patientin gegen den Willen der Eltern gerichtlich durchsetzte, die künstliche Ernährung einzustellen.

S. 56
THERAPIE MIT TIEFGANG
Neurowissenschaftler pflanzten einem 38-jährigen Patienten zwei Elektroden (siehe Pfeile) in die intralaminären Kerne des Thalamus ein. Diese Region ist daran beteiligt, die Aktivität der Großhirnrinde zu steuern. Wurde sie elektrisch angeregt, verbesserte sich der Bewusstseinszustand des Mannes.

© 2011 Christof Koch, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
GEHIRN&GEIST 4/2011, Seite 55-57
Herausgeber: Dr. habil. Reinhard Breuer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. April 2011