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NOTFALL/245: Akuter Thoraxschmerz - Aortendissektion nicht vergessen! (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 3/2011

Kampagne "Daran denken kann Leben schenken"
Akuter Thoraxschmerz: Aortendissektion nicht vergessen!

Von Prof. Dr. Hans-H. Sievers


Eine Kampagne soll rechtzeitige Diagnosen der akuten Aortendissektion ermöglichen. Noch ist die Letalität in der Initialphase der Erkrankung sehr hoch.


Die akute Aortendissektion (AAD) ist eine lebensbedrohliche Erkrankung, bei der jede Minute bis zur lebensrettenden Therapie zählt. 40 Prozent der Patienten mit AAD versterben sofort. Von den Patienten, die das Initialstadium überleben, versterben unbehandelt im Verlauf ein Prozent pro Stunde. Deshalb ist das rechtzeitige Erkennen der AAD von ausschlaggebender Bedeutung für die Prognose der Erkrankung und das Schicksal der Patienten, stellt aber medizinisch eine große Herausforderung dar. Trotz zunehmender Verbesserung der technisch-diagnostischen Möglichkeiten wird die korrekte Diagnose einer AAD nicht immer zeitgerecht gestellt. Mészáros und Mitarbeiter berichteten über fehlgedeutete Symptome in 85 Prozent der von ihnen untersuchten Patientenkohorte mit AAD(1); Hansen et al. publizierten im Jahr 2007, dass 39 Prozent der Fälle des akuten Aortensyndroms fehlinterpretiert wurden(2). Eigene Erfahrungen bestätigen diese Problematik. Manche Patienten durchlaufen eine diagnostische Odyssee bis zur endgültigen Diagnose. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen (in Stichworten):

1. 39-jähriger Patient, heftige akute Thoraxschmerzen beim Anheben eines Autokindersitzes, Schwindel, Übelkeit, Erbrechen → Krankenhaus, Diagnose: Distorsion HWS, Krampfanfall → Neurologie, CCT: unauffällig, aber D-Dimere erhöht, Echokardiographie: Perikarderguss, CT: akute Typ A Dissektion → OP.

2. 36-jähriger Patient, heftigste akute Thoraxschmerzen ohne besondere körperliche Anstrengung mit undulierenden Schmerzen und Durchblutungsstörungen in beiden Beinen → Gefäßchirurgie: inkomplettes Leriche-Syndrom → Kardiologisches Konsil: akute Typ A Dissektion → OP, postoperativ schwerste postischämische abdominelle Komplikationen.

Fehlinterpretationen können nicht nur zu einer verzögerten Diagnose mit teilweise schwerwiegenden oder sogar fatalen Folgen führen, sondern im Falle eines vermeintlichen Koronarsyndroms darüber hinaus zu einer erhöhten Blutungsgefahr aufgrund der initiierten antithrombotischen Therapie. Spezielle Fälle, publiziert im Wall Street Journal (Pulitzer Preis 2004(3)), haben in der Öffentlichkeit erhebliche Diskussionen ausgelöst und zu Kunstfehlerprozessen geführt. Mehrere Faktoren sind dafür ausschlaggebend, dass initial bei einem akuten thorakalen Schmerz eine AAD nicht sofort vermutet und diagnostiziert wird.

1. Das akute Koronarsyndrom tritt mit mehr als 200 Fällen pro 100.000 Personenjahre(4) deutlich häufiger auf als die AAD (2,0 - 3,5 Fälle pro 100.000 Personenjahre; 1(5)) und rückt damit bei ähnlichen Thoraxschmerzen in den Vordergrund der diagnostischen Bemühungen, wenn nicht gleichzeitig auch an eine AAD gedacht wird.

2. Die AAD kann sich neben den klassischen Lehrbuchsymptomen wie akuter, stechender Brustoder Rückenschmerz in einer weiten Bandbreite auch weniger starker oder untypischer Beschwerden manifestieren, die nicht primär an eine AAD denken lassen. Nicht selten wird die Ursache der Symptome gerade bei jungen Patienten im knöchernen Skelettsystem vermutet. Da vertebragene Beschwerden in dieser Altersgruppe sehr verbreitet sind, wird es in der Tat schwierig, die AAD herauszufiltern, wenn nicht gezielt danach gesucht wird. Dieses setzt voraus, dass auch bei diesen jungen Patienten zunächst daran gedacht wird.

3. Es gibt derzeit mehrere Ansätze, aber bislang keinen absolut verlässlichen Biomarker, der eine AAD diagnostizieren kann. Allenfalls D-Dimere gewinnen im Rahmen der Differentialdiagnostik eine zunehmende Bedeutung(6,7). Die Sensitivität wird mit 100 Prozent und die Spezifität mit 60-70 Prozent angegeben(8).

"Kein Arzt kann eine Krankheit diagnostizieren, an die er nicht denkt." (Zitat: Michael DeBakey).

Jede Differentialdiagnostik beginnt mit einem Bewusstseinsimpuls, nämlich dem "Daran denken". Dieses ist für die Erhebung des klinischen Verdachtes besonders in der Initialphase einer AAD aufgrund der hohen Primärsterblichkeit von entscheidender Bedeutung. Deshalb haben die Autoren eine Plakat-Kampagne "Daran denken kann Leben schenken" gestartet, die helfen soll, das Bewusstsein für dieses dramatische und lebensbedrohliche Krankheitsbild aufzufrischen und die Sensibilität für die Erhebung des Verdachtes auf eine AAD zu erhöhen. Gerade bei der AAD kann ein einfaches, rechtzeitiges "Daran denken" und die anschließende sofortige Therapie schwerwiegende Folgen und damit viel Leid verhindern. Diese Plakat-Kampagne steht im Einklang mit den diesjährig publizierten "Guidelines for the diagnostic and management of patients with thoracic aortic disease"(9), nämlich das Bewusstsein für dieses Krankheitsbild zu erhöhen.

Unterstützt wird diese Kampagne von der Deutschen Herzstiftung, der Deutschen Gesellschaft für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie und der Marfan-Hilfe Deutschland e.V.. Für diese Kampagne wurde ein Plakat entworfen, das schematisch das akute, blitzartige Auftreten der Dissektion darstellt. Die dabei auftretenden Brust- oder Rückenschmerzen haben in der Regel einen zerreißenden, stechenden Charakter mit hoher Intensität. Zusätzlich deutet der abgebildete, für die Marfan-Patienten typische Handgelenkgriff darauf hin, dass insbesondere bei jungen Patienten genetische Ursachen einen signifikanten Risikofaktor für eine AAD darstellen und dass dem Phänotyp, der sich häufig als Blickdiagnose erschließt, eine bedeutende Rolle in der Diagnostik zukommt. Die CT-Aufnahme soll veranschaulichen, dass diese Untersuchungsmethode im Hinblick auf Verfügbarkeit, Spezifität und Sensitivität zurzeit von größter Bedeutung ist und bei Verdacht immer durchgeführt werden sollte, insbesondere wenn andere bildgebende Methoden wie z.B. die transthorakale Echokardiographie keine AAD nachweisen konnten oder zweifelhaft sind.

Das Plakat wurde in einer ersten Aktion zu Beginn des Jahres deutschlandweit an alle Kliniken kostenfrei versandt mit dem Ziel, es in den Notfallambulanzen zu platzieren. Das Plakat ist auf Anfrage bei den Autoren in unterschiedlichen Größen erhältlich.

Nicht immer lassen die Schmerzsymptomatik und die Physiognomie, wenn sie nicht charakteristisch sind, sofort auf eine AAD schließen. So können Symptome, die durch eine akute dissektionsbedingte Organmalperfusion ausgelöst werden, wegweisend für die Verdachtsdiagnose sein. Hierbei sind zerebrale (Synkope, Parese, Krampfanfälle), abdominelle und beinbetonte periphere Perfusionsdefizite mit wechselnder Symptomatik von besonderer Bedeutung. Nicht selten berichten Patienten von Schmerzen und Sensibilitätsstörungen in beiden Beinen mit undulierender Intensität. Ein besonders bedrohliches Zeichen ist die Hypotension oder der Kreislaufschock, meistens als Folge einer Perikardtamponade, einer akuten schweren Aorteninsuffizienz bei Typ A Dissektion oder eines hohen Blutverlusts bei komplizierter Typ B Dissektion.

Die für eine AAD charakteristischen Befunde lassen sich mit ärztlichen Grundmethoden schnell erheben, können parallel zur Herzinfarktdiagnostik (EKG, Enzyme) durchgeführt werden und erlauben, unterstützt von einer gezielten Patienten- und Angehörigenanamnese (Marfan-Syndrom? Familiäre Aortenerkrankungen? Aortenklappen-Vitium? Thorakales Aortenaneurysma? Bluthochdruck-Patient? Physische oder psychische Anstrengung vor AAD?), die Verdachtsdiagnose AAD zügig zu stellen und die sofortige aortale Bildgebung (transthorakale, transoesophageale Echokardiographie, MRT und/oder das thorakale CT) zu veranlassen. Diese Untersuchungen sollten sofort nach Aufnahme ohne Verzögerung durchgeführt werden. Nicht selten erreichen Patienten, bei denen eine AAD vorliegt, die Notfallaufnahme oder "ihren" Arzt kurz vor der fatalen Dekompensation. Bei jedem begründeten Verdacht und insbesondere bei begleitender Hypotension oder Kreislaufschock sollte die sofortige Verlegung in eine auf Aortenchirurgie spezialisierte herzchirurgische Klinik erfolgen.

Die Autoren der Kampagne: "Daran denken kann Leben schenken" hoffen, dass das ärztliche Bewusstsein für das rechtzeitige Erkennen der AAD im Routinealltag besonders bei jungen Patienten mit Brust- und Rückenschmerzen geschärft wird und durch die korrekte rechtzeitige Diagnose und die damit mögliche sofortige Therapie besonders bei der akuten Typ A Dissektion die Prognose hinsichtlich Mortalität und Morbidität dieses schweren Krankheitsbildes verbessert werden kann.

Präventive Diagnostik: Als zukunftsweisender Gedanke der Kampagne sei im Anschluss an die Diagnostik nach dem Ereignis noch die Diagnostik vor dem Ereignis im präventiven Sinn erwähnt. Insbesondere bei prädisponierten Patienten mit Aorta ascendens-Aneurysma können akut auftretende Blutdruckspitzen, wie sie bei körperlichen Spitzenbelastungen, z.B. Gewichtheben, Bodybuilding, etc. auf treten, zu einer erheblichen Erhöhung der Wandspannung führen (Gesetz nach LaPlace: Wandspannung = Druck x Radius/Wanddicke). Das dadurch bereits gestiegene Risiko für eine AAD kann durch zusätzliche psychische Anspannungen und genetisch bedingte Strukturdefekte der Aortenwand (z.B. Marfan-Syndrom) weiter aggraviert werden. Abbildung 1 zeigt, wie beim Gewichtheben der Blutdruck bis auf Werte um 300 mmHg ansteigen kann und dass emotionaler Stress im Zusammenwirken mit physischer Anspannung einen bedeutenden ätiologischen Faktor vor der Initialphase der AAD darstellt. Es wäre deshalb sinnvoll, vor Aufnahme von sportlichen Aktivitäten, die geeignet sind, zu hohen Blutdruckspitzen zu führen, besonders Jugendliche einer echokardiographischen Untersuchung zu unterziehen, um Erweiterungen der Aorta ascendens als Risikofaktor für eine AAD zu detektieren. Es ist selbstverständlich, dass Jugendliche mit der Physiognomie eines Marfan-Syndroms regelmäßig eine Echokardiographie erhalten sollten.

Trotz deutlicher Verbesserungen der Therapie der akuten Aortendissektion (AAD) ist die Letalität in der Initialphase der Erkrankung inakzeptabel hoch. Die rechtzeitige Diagnose und Therapie sind die dominierenden Faktoren zur Verbesserung der Prognose der AAD.

Wesentliche Vorbedingung für die korrekte, rechtzeitige Diagnose ist der Bewusstseinsimpuls, nämlich das "Daran denken". Verzögerte oder gar Fehldiagnosen haben nicht selten katastrophale Folgen. Um die Sensibilität für das Erkennen dieser lebensbedrohlichen Krankheit zu erhöhen, ist die Plakat-Kampagne "Daran denken kann Leben schenken" initiiert worden. Das Plakat zeigt schematisch die Aortendissektion, deutet auf das Marfan-Syndrom als einen wichtigen Risikofaktor im jugendlichen Alter hin und zeigt eine CT-Aufnahme als Hinweis auf die am häufigsten durchgeführte Untersuchungsmethode mit hoher Sensitivität und Spezifität.

Häufig erlauben die beklagten Brust- oder Rückenschmerzen mit dem für eine AAD typischen zerreißenden, stechenden Charakter und hoher Intensität, verbunden mit der Physiognomie eines Marfan-Syndroms, bereits die Verdachtsdiagnose AAD, um die sofortige anschließende Bildgebung und Therapie zu veranlassen. Für weniger klare Fälle werden zusätzliche Hinweise aus der Anamnese und spezielle Befunde der ärztlichen Untersuchung in einem Diagnosepfad schematisch zusammengestellt. Als innovative Form der Diagnostik wird das präventive echokardiographische Screening in Risikogruppen angesprochen.

Information und Plakat zur Kampagne "Daran denken kann Leben schenken": Klinik für Herz- und thorakale Gefäßchirurgie UK S-H, Campus Lübeck, Ratzeburger Allee 160, 23538 Lübeck, Tel. 0451/5002108, E-Mail herzchir@medinf.mu-luebeck.de

Literatur bei den Verfassern oder im Internet unter www.aeksh.de

Prof. Dr. Hans-H. Sievers, PD Dr. med. habil. Claudia Schmidtke, MBA, UK S-H, Campus Lübeck



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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 3/2011 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2011/201103/h11034a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Plakat: Aortendissektion!

Abb. 1: Deutlicher Anstieg des Blutdruckes (BD) von drei Probanden beim Stemmen von Gewichten, angegeben in % ihres Körpergewichts. (aus(10))


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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt März 2011
64. Jahrgang, Seite 54 - 56
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-119, -127, Fax: -188
E-Mail: aerzteblatt@aeksh.org
www.aeksh.de
www.arztfindex.de
www.aerzteblatt-sh.de

Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. April 2011