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PSYCHOSOMATIK/112: Eßstörungen - Angst nährt nicht (welt der frau)


welt der frau 6/2009 - Die österreichische Frauenzeitschrift

Angst nährt nicht
Interview mit Susie Orbach

Von Julia Kospach


Die berühmte britische Psychoanalytikerin Susie Orbach, 62, auf deren Couch Prinzessin Diana wegen ihrer Bulimie lag, über Essstörungen, Diätwahn, Schönheitschirurgie und den Druck, unsere Körper zu trainieren und zu perfektionieren.


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WELT DER FRAU: In Ihrem neuen Buch "Bodies" beschreiben Sie, dass Phänomene wie Körperhass, Essstörungen, Diät- und Schlankheitswahn explosionsartig angestiegen sind. Wie kommt das?

SUSIE ORBACH: Diese Phänomene sind allgegenwärtig und wir nehmen sie nicht einmal als Probleme zur Kenntnis, weil unsere gesamte Kultur sich dieser Obsession vollends verschrieben hat. Das beginnt mit Menschen, die völlig selbstverständlich die meisten Lebensmittel nicht anrühren oder nur einmal am Tag oder nur an Wochenenden essen, und geht bis zu Kindern, die Angst haben vor dem Essen oder vollkommen darauf fixiert sind. Es gibt eine Massenobsession im Bereich der Ernährung. Auf der anderen Seite stehen ganze Industriezweige, die mit den Körperunsicherheiten der Menschen immer mehr Geld machen: die kosmetische Chirurgie, die Schönheitsindustrie, die Diätindustrie.


WELT DER FRAU: Gleichzeitig sind aber tatsächlich immer mehr Menschen fettleibig. Soll man das ignorieren?

SUSIE ORBACH: Nein, die Sorge über die steigende Fettleibigkeit ist berechtigt, aber wir müssen sie in einen größeren Zusammenhang stellen. Wenn es so etwas wie "normales" Essen nicht mehr gibt, wenn man vor lauter Sorge um Gewicht und Kleidergrößen kein Gefühl mehr dafür besitzt, wann man Appetit hat und wann man satt ist, dann kann das zu extremer Dünnheit führen. Gleichzeitig kann es genauso leicht ins Gegenteil, also in unkontrolliertes Essen und Fettleibigkeit umschlagen. Es sind die zwei Seiten derselben Medaille. Anorexie oder Bulimie sind nur weniger sichtbar als Fettleibigkeit, aber sie sind genauso verbreitet.


WELT DER FRAU: Die berühmteste Patientin Ihrer Analysepraxis war Prinzessin Diana, die Sie wegen ihrer Bulimie behandelt haben. Sind Prominente gefährdeter als andere Menschen, Essstörungen zu bekommen?

SUSIE ORBACH: Der Druck mag größer sein, aber ich glaube nicht, dass er der entscheidende Faktor ist. Ein öffentliches Leben zu führen und die ganze Zeit fotografiert zu werden, ist die eine Sache. Das kann es schwieriger machen, ist aber kein wesentliches Kriterium für die Entwicklung von Bulimie.


WELT DER FRAU: Überrascht Sie der vorherrschende Körper-, Schönheits- und Schlankheitskult?

SUSIE ORBACH: Ich wünschte, ich wäre überrascht, aber schon damals hätte man diese Entwicklung vorhersagen können. In den 1980er-Jahren geschah Folgendes: Die Frauen kauften sozusagen ihre Körper zurück. Man hatte ihnen gesagt: Okay, ihr bekommt mehr Rechte und mehr Platz im öffentlichen Raum, aber dafür müsst ihr besonders dünn sein oder einem bestimmten Schönheitsideal entsprechen. Gleichzeitig gab es Änderungen auf dem Arbeitsmarkt. Das zeigte sich auch daran, dass in den 1980er-Jahren Männermagazine anfingen, wie Frauenmagazine auszusehen. Die neue Art der Problemlösung für Männer bestand plötzlich darin, sich zu stählen, um sich in ihren trainierten Körpern besser zu fühlen. Der Körper als Selbstzweck rückte immer mehr in den Vordergrund.


Woher die Bilder kommen

WELT DER FRAU: Sie schreiben, dass jede/jeder von uns wöchentlich zwischen 2.000 und 5.000 Bildern von Körpern ausgesetzt ist, die durch digitale Bearbeitung idealisiert wurden. Wie soll die/der Einzelne angesichts dieser Bilderflut individuellen Selbstwert entwickeln?

SUSIE ORBACH: Wir schreiben Gesundheitswarnungen auf jedes Päckchen Zigaretten, aber wir warnen nicht vor diesen bearbeiteten Bildern. Das ist sehr, sehr schwierig. Gegen diese Monokultur der Körperdarstellungen hilft nur eine Gegenbewegung: Eltern müssen versuchen, ihren Kindern gegenüber den Körper nicht als das Feld darzustellen, über das Probleme gelöst werden können. Und sie müssen versuchen, nicht zu sehr von ihren eigenen Körpern besessen zu sein.


WELT DER FRAU: An welchem Punkt in der Entwicklung eines Kindes entstehen falsche Körperbilder?

SUSIE ORBACH: Das wissen wir noch nicht. Es liegt nahe, dass es so wie für die Sprachentwicklung auch eine kritische Phase für die Entwicklung des Körpergefühls gibt. Jedenfalls geht es um die ersten Lebensjahre. Wenn sich ein Kind in dieser Zeit in seinem Körper stabil und wohl fühlt, dann ist das eine gute Grundlage. Diese Sicherheit fungiert als Schutz gegen eine übermächtige Bildkultur. Die Tatsache, dass Probleme wie Körperhass, Körperkult, Essstörungen und Diätwahn so explodiert sind, lässt mich aber glauben, dass wir derzeit keine Körper heranziehen, die sich sicher fühlen. Die Instabilität setzt sich über die Jahre fort.


WELT DER FRAU: Dann treten Schönheits-, Kosmetik- und Diätindustrie auf den Plan...

SUSIE ORBACH: ...die sich das zunutze machen und den Menschen mit ihren Problemen helfen. Denn die Leute denken sich ja nicht: "Das ist eine schreckliche Industrie!", sondern: "Eine Nasen-Operation oder eine Diät wird mir sicher helfen!"


WELT DER FRAU: Geht es Ihnen da anders?

SUSIE ORBACH: Nein, durchaus nicht. Ich sehe eine Werbung für eine neue batteriebetriebene Wimperntusche und denke mir: "Oh, das ist ja super!" Aber dann lache ich über mich und denke mir: "Moment einmal! Das brauchst du nicht! Es ist ökologisch schlecht, und außerdem hast du schon drei Wimperntuschen in deiner Handtasche! "


Barbie als Modell für alle?

WELT DER FRAU: Wo genau liegt denn die Grenze zwischen harmloser Beschäftigung mit der eigenen Schönheit und ungesundem Körperfetischismus?

SUSIE ORBACH: Das ist eine sehr gute Frage, die ich über einen Umweg beantworten werde. Gerade wurde Barbies 50. Geburtstag gefeiert. Als meine Tochter, die jetzt 20 ist, klein war, dachte ich, es sei kein Problem, wenn sie mit Barbie-Puppen spielt. Ein Spielzeug wie jedes andere: ein Ort der Imagination, kein wirkliches Vorbild, einfach ein Gegenstand, mit dem man sich beschäftigt, der einen zum Träumen bringt, Fantasie und Vorstellungskraft anregt. Nicht viel anders als das Spielen mit einem Kinder-Postbüro. Irgendwann lässt das Interesse daran nach.


WELT DER FRAU: Heute funktioniert das nicht mehr so?

SUSIE ORBACH: In der Zwischenzeit sieht man viele Frauen, die wie lebende Barbies aussehen. Das ist ein Problem. Damit kommen wir zur Frage nach der Grenze zurück: Sie ist fließend, aber allgemein würde ich sagen, dass sie dort liegt, wo die Beschäftigung mit dem Körper aufhört, eine Quelle der Freude zu sein, und anfängt, einen zu quälen und vor sich herzutreiben. Ich meine nicht das einfache Auftragen von Lippenstift, sondern ein Gefühl, wo man sich absolut nicht mehr wohlfühlen kann, wenn man nicht zuerst das, das und das an seinem Körper getan hat.


WELT DER FRAU: Zum Beispiel?

SUSIE ORBACH: Viele Leute fühlen sich wirklich getrieben. Ihr Körper ist für sie ein riesiges Projekt. Manche haben zum Beispiel Angst, sie könnten ihren Job verlieren, weil sie die ganze Zeit essen. Wenn Essen jedes Mal eine Quelle der Besorgnis, der Scham oder des schlechten Gewissens darstellt, dann haben sie ein Problem.


WELT DER FRAU: Paris Hilton ist die global präsente Personifikation von Barbie. Über Figuren wie sie exportiert der Westen eine bestimmte Form von Körperideal in die entlegensten Ecken der Welt. Dadurch muss doch die Körpervielfalt enorm abnehmen?

SUSIE ORBACH: 50 Prozent aller koreanischen Mädchen lassen sich ihre asiatischen Lider operieren, um "westliche" Augenlider zu haben. Wir entwickeln eine vollkommen homogenisierte Sicht auf Körper. Singapur arbeitet daran, die Welthauptstadt der kosmetischen Chirurgie zu werden. Da geht es nicht nur um die Einwohner von Singapur, die sich selbst einen westlichen Look verpassen, sondern Menschen aus dem Westen fahren hin, um sich von dortigen Experten operieren zu lassen. Es ist beängstigend.


Nicht jede Operation ist schlimm

WELT DER FRAU: In Ihrem Buch beschreiben Sie einen Psychoanalytiker-Kongress in Brasilien, wo Sie zu den wenigen Frauen gehörten, die nicht schönheitsoperiert waren.

SUSIE ORBACH: Etwas anderes hat mich dort noch viel mehr erschüttert: Die vollkommen unhinterfragte Art, mit der meine Kollegen über eine Frau sprachen, die einen Vortrag hielt. Der Tenor lautete: Was denkt die sich dabei, öffentlich aufzutreten, so wie sie ausschaut? Das war die Antwort auf meine Frage, was die Kollegen vom Inhalt ihres Vortrags gehalten hatten.


WELT DER FRAU: Würden Sie Schönheitschirurgiepläne bei Ihren
KlientInnen auf jeden Fall als Problem betrachten?

SUSIE ORBACH: Nicht automatisch. Ich bin keine Malen-nach-Zahlen-Therapeutin. Ich denke, ich würde mich aufs Zuhören verlegen und wissen wollen, welche Gedanken und Ideen sich die betreffende Person zu diesem Plan gemacht hat. Ich hatte Leute in meiner Praxis, die schönheitsoperiert waren. Es ist verzwickt.


WELT DER FRAU: Aber nicht unbedingt beunruhigend?

SUSIE ORBACH: Ich hoffe nicht. Denn auf gewisse Weise hat sich Schönheitschirurgie tatsächlich zu etwas ziemlich Normalem und Alltäglichem entwickelt. Vor 20 Jahren hätte ich ganz anders darüber gedacht.


WELT DER FRAU: Es gibt aber auch sehr drastische chirurgische Eingriffe in den Körper. Im Buch erzählen Sie den äußerst seltsamen Fall von Andrew.

SUSIE ORBACH: Andrew ist ein Mann in mittleren Jahren, der zeit seines Lebens seine Beine als so überflüssig empfand, dass er sie chirurgisch entfernen lassen wollte, um sich ganz fühlen zu können. Als das nicht möglich war, packte er seine Beine so lange in einen Sack mit Trockeneis, bis eine Amputation medizinisch notwendig wurde. Ich wollte die Vorstellung von unserem Körper als etwas Natürlichem ins Wanken bringen. Indem ich jemanden zeige, für den sich seine Beine überflüssig anfühlen, stelle ich dieses Bild infrage.


Was einen Körper ausmacht

WELT DER FRAU: So etwas wie einen "natürlichen" Körper gibt es nicht?

SUSIE ORBACH: Ganz genau. Es gibt nur Körper, die im Kontext eines kulturellen Umfelds unter bestimmten Bedingungen geschaffen werden: in dieser Familie, zu diesem Zeitpunkt, in dieser Weise. Ich wollte einfach einen dramatischen Weg finden, darauf hinzuweisen.


WELT DER FRAU: Wenn es also keinen "normalen" Körper gibt, dann bleibt als einziges Beurteilungskriterium für ein positives Körperverhältnis, ob man sich in seinem Körper wohlfühlt?

SUSIE ORBACH: Richtig. Anders gefragt: Was wäre eine nicht psychotische Position gegenüber dem eigenen Körper? Das hieße, sich des Drucks von außen bewusst zu sein, darüber zu schmunzeln, sich Gedanken zu machen, sich aber trotzdem auf einer fundamentalen Ebene in seinem Körper stabil zu fühlen.


WELT DER FRAU: Sie haben für die Kosmetikmarke "Dove" eine Werbekampagne mit konzipiert, die seit 2004 läuft. Ganz normale Frauen verschiedener Altersgruppen und mit sehr unterschiedlichen Nicht-Model-Körpern werben da für "Dove"-Produkte. Wie erklären Sie sich den großen Erfolg?

SUSIE ORBACH: Die Menschen sehnen sich nach etwas Anderem. Ich glaube, am Anfang schauten sie auf die "Dove"-Plakate und dachten: "Was ist denn das? Da stimmt was nicht." Aber dann sehen sie es wieder und denken sich vielleicht: "Oh, das ist aber wirklich einmal interessant." Es funktioniert wie eine Art Erleichterung.


WELT DER FRAU: Welche Vision steht dahinter?

SUSIE ORBACH: Meine Vision war die Frage: Ist es möglich, die Sehgewohnheiten zu verändern? Ich glaube allerdings, dass wir noch nicht sehr weit damit gekommen sind.


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Zur Person Susie Orbach

Die britische Psychoanalytikerin, Feministin und Autorin Susie Orbach, 62, wurde 1978 mit ihrem ersten Buch "Fat is a Feminist Issue", das sich mit den Einstellungen von Frauen zu Ernährung, Übergewicht und Diäten beschäftigte, schlagartig bekannt. Sie gründete das "Women's Therapy Centre" in London und New York und hat eine Professur an der renommierten London School of Economics. Als praktizierende Analytikerin behandelte sie Prinzessin Diana wegen deren Bulimie. Susie Orbach war Beraterin und Mitentwicklerin der seit 2004 laufenden Werbe- und Marketingkampagne der Kosmetikfirma "Dove", in der "normale" Frauen verschiedener Altersgruppen die Vielfalt von Frauenkörpern abseits des Fotomodellklischees repräsentieren. In ihrem neuen Buch "Bodies" (182 Seiten, Profile Books) untersucht Orbach den Körperfetischismus der industrialisierten Welt und zeigt, wie stark unser Selbstwertgefühl durch unser Körpergefühl geprägt und - häufig - destabilisiert wird.


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Wie isst Österreich?

Schon zum dritten Mal untersuchte das Institut für Ernährungswissenschaften der Universität Wien im Auftrag des Gesundheitsministeriums die Ernährungssituation in Österreich. Der gerade veröffentlichte "Österreichische Ernährungsbericht 2008", der dem Wandel im heimischen Essverhalten während der letzten fünf Jahre gewidmet ist, stellt den ÖsterreicherInnen kein besonders gutes Zeugnis aus: 42 Prozent der Erwachsenen gelten als übergewichtig, 11 Prozent sind gar adipös, sprich krankhaft übergewichtig. Auch bei Kindern und Jugendlichen liegen 19 Prozent mit ihrem Gewicht deutlich über den Referenzwerten. Die Zunahme an Übergewichtigen im Vergleich zu 2003 führt der Bericht allerdings nicht auf eine gestiegene Kalorienzufuhr, sondern auf ein Weniger an körperlichen Aktivitäten zurück. Die ÖsterreicherInnen essen vor allem immer noch zu fett - im Speziellen zu viel Fleisch und Wurst - und auch zu salzig. Kinder im Besonderen nehmen zu viel Zucker zu sich. Zum Schluss gibt es aber auch noch eine gute Nachricht: Die ÖsterreicherInnen trinken genug - Wasser nämlich. Hier wird die empfohlene Flüssigkeitsmenge sogar überschritten. Der Alkoholkonsum liegt im Bevölkerungsdurchschnitt im Rahmen der tolerierbaren Mengen. Tendenziell sind es die Übergewichtigen und nicht die Normalgewichtigen, die beim Alkoholtrinken über die Stränge schlagen.


Info:
www.bmg.gv.at
Der "Österreichische Ernährungsbericht 2008" kann kostenlos unter Tel. 0810 81 81 64
oder unter broschuerenservice@bmg.gv.at beim Gesundheitsministerium angefordert werden.


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Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
Ausgabe 6/2009, Seite 34-39
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. August 2009