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ETHIK/932: Migration und Gesundheit (3) Gesundheit von Migranten - Hintergründe (Deutscher Ethikrat)


Dokumentation der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2010
Migration und Gesundheit - Kulturelle Vielfalt als Herausforderung für die medizinische Versorgung

Gesundheit von Migranten: Hintergründe

Von Oliver Razum


Einleitung

Wenn man über die Gesundheit von Migrantinnen und Migranten nachdenkt, sind zunächst zwei Fragen zu klären: Gibt es Unterschiede in der Gesundheit im Vergleich zwischen Menschen mit Migrationshintergrund und der Mehrheitsbevölkerung? Falls ja: Sind solche Unterschiede vorwiegend ein Problem der sozialen Schichtung? Es ist bekannt, dass sozioökonomische Benachteiligung krank macht, unabhängig davon, ob man einen Migrationshintergrund hat oder nicht. Da Migrantinnen und Migranten oft schlechter bezahlte Jobs oder eine weniger gute Ausbildung haben, könnte das eine gesundheitliche Benachteiligung erklären. Falls aber mehr dahinter steckt, stellt sich eine dritte Frage: Welche weiteren Faktoren gibt es, die die Gesundheit von Migrantinnen und Migranten negativ beeinflussen?

Es ist schwierig, diese Fragen wissenschaftlich solide zu beantworten. Einen wichtigen Grund dafür nennt schon Frau Staatsministerin Böhmer in ihrem Beitrag: Die in Deutschland verfügbaren Daten zu Migration und Gesundheit sind noch immer unzureichend.

Das illustriere ich im Folgenden an zwei konkreten Beispielen. In Deutschland leben ungefähr sieben Millionen ausländische Staatsangehörige. Das sind etwa acht Prozent der Bevölkerung. 15 Millionen Menschen haben jedoch einen Migrationshintergrund. Darunter sind auch Menschen, die selbst nicht zugewandert sind, sondern Kinder von Migrantinnen und Migranten sind. Das ist nahezu ein Fünftel der Bevölkerung. In vielen Gesundheitsstatistiken aber ist das einzige Merkmal für den Migrationshintergrund die Nationalität. Die sogenannte "zweite Generation" der Migrantinnen und Migranten lässt sich daher in den Gesundheitsstatistiken oftmals nicht wiederfinden. Nationalität allein ist heute ein unzureichendes Merkmal für einen Migrationshintergrund: Es gibt zugewanderte Menschen aus der Türkei, die mittlerweile einen deutschen Pass haben, und es gibt zugewanderte Deutsche - die Aussiedler und Spätaussiedler -, die man anhand der Nationalität ebenfalls nicht als Migrantinnen und Migranten erkennen kann. Schließlich gibt es eine Gruppe von Migrantinnen und Migranten, die schon per Definition in keiner Statistik auftauchen, da sie keine Papiere besitzen, die sogenannten Irregulären oder "Illegalen".

Seit 2008 ist der vom Robert Koch-Institut in Auftrag gegebene Schwerpunktbericht der Gesundheitsberichterstattung zum Thema Migration und Gesundheit verfügbar, an dessen Erstellung die Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld in zentraler Rolle beteiligt war. Die Gesundheitsberichterstattung soll ein adäquates Bild vom Gesundheitszustand der Bevölkerung oder in diesem Fall von Bevölkerungsgruppen zeichnen, insbesondere zum Gesundheitsverhalten, zu Gesundheitsrisiken und zur Versorgungssituation. Die Ergebnisse sollen helfen, gesundheitliche Ungleichheiten zu erkennen und zu beheben. Die Gesundheitsberichterstattung stützt sich auf Routinedaten, die allerdings die genannten Schwächen im Bereich Gesundheit von Migrantinnen und Migranten aufweisen.


Beispiel Säuglingssterblichkeit - vermeidbare Ungleichheiten?

Das erste Beispiel, die Säuglingssterblichkeit bei Migrantinnen, stützt sich auf Daten der Gesundheitsberichterstattung. Die Säuglingssterblichkeit ist ein besonders sensibler Indikator für Ungleichheit, da sie weitestgehend vermeidbar ist. Eine Ungleichheit in der Säuglingssterblichkeit innerhalb einer Gesellschaft würde also eine Ungerechtigkeit darstellen. Zur Säuglingssterblichkeit zählen alle Todesfälle im ersten Lebensjahr; sie wird pro 1000 Lebendgeborene ausgedrückt. In Deutschland sinkt die Säuglingssterblichkeit immer weiter: 1988 waren es noch 7,4 Todesfälle im ersten Lebensjahr pro 1000 Lebendgeborene, 2004 nur noch 4,1. Bei diesem Indikator gab es 1988 noch deutliche Unterschiede zwischen der Mehrheitsbevölkerung und der ausländischen Bevölkerung - unter ausländischen Frauen war die Säuglingssterblichkeit deutlich höher. Dieser Unterschied hat sich für die Gruppe der Ausländerinnen, die sich bereits für längere Zeit in Deutschland aufhalten, seitdem verringert. Unter ausländischen Säuglingen hingegen, deren Mutter oder Vater sich weniger als acht Jahre rechtmäßig in Deutschland aufgehalten hat, ist die Säuglingssterblichkeit im Vergleich mehr als doppelt so hoch. Ein Rückgang ist kaum zu erkennen.

Aus dieser Statistik der Gesundheitsberichterstattung wird ersichtlich, dass es nicht die Migranten als einheitliche Bevölkerungsgruppe gibt. Innerhalb der Migrantenbevölkerung existieren verschiedenste Untergruppen, deren gesundheitliche Situation sehr heterogen ist. Zwar nimmt die Migrantenbevölkerung als Ganze an der positiven gesundheitlichen Entwicklung in Deutschland teil, wie beispielsweise am Rückgang der Säuglingssterblichkeit erkennbar ist; es gibt aber besonders gefährdete Untergruppen innerhalb der Migrantenbevölkerung, die unterdurchschnittlich oder in viel zu geringem Maße partizipieren. Ein besonders tragisches Beispiel dafür sind Mütter mit erst kurzem Aufenthalt in Deutschland. Sie haben ein überdurchschnittlich hohes Risiko, dass ihr Kind innerhalb des ersten Lebensjahres verstirbt.

Solche Ungleichheiten weisen auf Defizite hin, beispielsweise im Bereich der Prävention, der Schwangerenvorsorge und der Vorsorgeuntersuchungen für Säuglinge. Die Zielgruppe "Migranten" ist sehr heterogen, worüber ein Merkmal wie Nationalität allein nicht hinwegtäuschen kann. Für Untersuchungen zur Gesundheit von Menschen mit Migrationshintergrund wäre es wichtig, zusätzlich Angaben zum sozioökonomischen und demografischen Hintergrund zu haben. Aber selbst dann lassen sich noch keine Aussagen über die Gefährdung von Neugeborenen und Säuglingen sogenannter irregulärer Migrantinnen und Migranten machen. Deren gesundheitliche Situation ist möglicherweise viel schlechter, sie erscheinen aber in keiner Statistik.


Beispiel Rehabilitation - gleiche Teilhabechancen und Erfolge?

Das zweite Beispiel, die Rehabilitation, wird auch als Tertiärprävention bezeichnet und zielt darauf, die Leistungsfähigkeit nach Eintritt einer Erkrankung wiederherzustellen und eine weitere Verschlimmerung zu vermeiden. Vorgestellt werden hier Ergebnisse aus dem Zwischenbericht einer Studie zur Rehabilitation von Migrantinnen und Migranten, durchgeführt im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales.[1]

Zunächst stellt sich die Frage, ob Migrantinnen und Migranten im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung einen erhöhten Bedarf an Rehabilitation haben. In Deutschland gilt "Rehabilitation vor Rente", das heißt, bevor jemand frühberentet wird, sollte der Versuch unternommen werden, ihn oder sie zu rehabilitieren und wieder ins Berufsleben zu integrieren.

Tatsächlich sind die Frühberentungsquoten von Ausländerinnen und Ausländern auffallend hoch. Unter den deutschen Männern nehmen etwa zwei Prozent der 55- bis 59-jährigen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten eine Frühberentung in Anspruch, hingegen sind es bei der ausländischen Bevölkerung, insbesondere bei der türkischen Bevölkerung, fast sechs Prozent der Männer dieser Altersgruppe. Bei den Frauen ist der entsprechende Unterschied noch viel stärker ausgeprägt. Es wird also deutlich, dass es in der ausländischen Bevölkerung einen großen Bedarf an Rehabilitation gibt und dass das System "Rehabilitation vor Rente" in der Migrantenbevölkerung offenbar nicht so gut greift wie in der Mehrheitsbevölkerung.

Mögliche Gründe dafür können eine im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung geringere Inanspruchnahme der medizinischen Rehabilitation oder ein geringerer Erfolg der Rehabilitation sein. An meiner Abteilung "Epidemiologie und International Public Health" der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld haben wir dies anhand von Daten des sozioökonomischen Panels untersucht. Dieses Panel ist eine Haushaltsbefragung, die alljährlich immer wieder in den gleichen Haushalten durchgeführt wird. Wir haben ermittelt, ob ausländische Versicherte medizinische Rehabilitation weniger häufig in Anspruch nehmen als deutsche Versicherte. Weiter analysierten wir, ob ein solcher Befund allein auf soziale, demografische und gesundheitliche Unterschiede im Jahr vor der medizinischen Rehabilitation zurückzuführen ist oder ob es dafür noch andere, migrationsspezifische Gründe gibt.

Es zeigte sich, dass die Inanspruchnahme in der ausländischen Bevölkerung tatsächlich niedriger als in der deutschen Bevölkerung ist. Vergleicht man die Verteilung sozioökonomischer Faktoren zwischen beiden Gruppen, finden sich ausgeprägte Unterschiede. So ist beispielsweise der Anteil der Menschen mit niedriger Bildung in der ausländischen Bevölkerung höher als in der deutschen, ebenso der Anteil von Arbeitern. Erklärt das vielleicht einen Teil der Unterschiede in der Inanspruchnahme? Solche Unterschiede kann man mittels statistischer Verfahren ausgleichen.

Um Unterschiede zu quantifizieren, berechnet man das Chancenverhältnis zwischen Ausländerinnen und Ausländern einerseits und Deutschen andererseits, die im vorangegangenen Jahr eine Rehabilitation angetreten zu haben. Es beträgt 0,7, also mit anderen Worten: Die ausländischen Versicherten haben eine um 30 Prozent geringere Chance, eine Rehabilitation in Anspruch nehmen zu können. Wenn dann die Daten zu soziodemografischen Faktoren und zum Gesundheitszustand so aufbereitet werden, dass die Voraussetzungen in beiden Gruppen identisch sind, dann vergrößert sich dieser Unterschied sogar noch: Ausländische Versicherte haben eine um 40 Prozent geringere Chance, eine Rehabilitation in Anspruch nehmen zu können, verglichen mit Deutschen.

Ein Zwischenfazit: Der Rehabilitationsbedarf bei Ausländerinnen und Ausländern ist hoch. Das zeigen die Daten der Frühberentung. Die Inanspruchnahme medizinischer Rehabilitation ist aber eindeutig geringer, als angesichts des Bedarfs zu erwarten wäre, und sie ist deutlich geringer als in der deutschen Mehrheitsbevölkerung. Das macht es wahrscheinlich, dass Zugangsbarrieren bestehen, also Barrieren, die ausländischen Versicherten den Zugang zur Rehabilitation erschweren.

Es schließt sich die Frage an, ob sich die Ergebnisse der Rehabilitation bei ausländischen Rehabilitanden von denen der deutschen Rehabilitanden unterscheiden. Das haben wir anhand eines Datensatzes der Deutschen Rentenversicherung untersucht. Als Maß für den Erfolg der Rehabilitation zogen wir die Leistungsfähigkeit nach dem Abschluss der Rehabilitationsmaßnahme bei Ausländerinnen und Ausländern einerseits sowie bei Deutschen andererseits heran. Auch hier ist zu klären, ob eventuell gefundene Unterschiede allein auf sozioökonomische und demografische Unterschiede zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen zurückzuführen sind. Bleiben auch nach der Adjustierung (also nach der Berücksichtigung sozioökonomischer und demografischer Unterschiede) Unterschiede bestehen, so gibt es noch weitere Faktoren, die für unterschiedliche Erfolge der Rehabilitationsmaßnahmen verantwortlich sind.

Verglichen haben wir deutsche Rehabilitanden mit Rehabilitanden aus der Türkei, aus Ex-Jugoslawien und aus Südeuropa hinsichtlich des (negativen) Rehabilitationsergebnisses "Leistungsfähigkeit weniger als drei Stunden im letzten Beruf, der vor der Rehabilitationsmaßnahme ausgeübt wurde". Auch hier konnten wir Unterschiede in Alter, Geschlecht, Familienstand, Erwerbsstatus, beruflicher Stellung und gesundheitlichen Voraussetzungen statistisch nachweisen, die die Menschen mitgebracht haben, bevor sie die Rehabilitation aufnahmen.

Eine Leistungsfähigkeit von weniger als drei Stunden, also einen fehlenden Erfolg der Rehabilitation, fanden wir bei 15,5 Prozent der deutschen Rehabilitanden, aber bei 21,6 Prozent der ausländischen Rehabilitanden. Auch hier sind wieder größere Unterschiede in den soziodemografischen Merkmalen ersichtlich, so zum Beispiel ein deutlich höherer Anteil von Arbeitslosen unter den ausländischen Rehabilitanden, ein sehr viel höherer Anteil von Menschen, die einer ungelernten Beschäftigung nachgingen, sowie ein viel höherer Anteil von Personen, die aufgrund ihrer Arbeitsbedingungen an Verschleißerkrankungen litten.

Auf der anderen Seite gibt es protektive Faktoren unter den ausländischen Rehabilitanden, beispielsweise einen höheren Anteil von Verheirateten, von denen man annimmt, dass sie eine stärkere soziale Unterstützung erfahren: Bei den deutschen Rehabilitanden sind es 60 Prozent, bei den türkischen Rehabilitanden aber über 80 Prozent. Aber auch in diesem Beispiel erklären die soziodemografischen Unterschiede die Unterschiede in den Rehabilitationsergebnissen nicht.

Betrachtet man das Chancenverhältnis, vergleicht also, um wie viel höher das Risiko der ausländischen Rehabilitanden ist, nach Abschluss der Rehabilitation eine Leistungsfähigkeit von weniger als drei Stunden im letzten Beruf zu erzielen, so liegt es vor der Adjustierung um 50 Prozent höher. Doch selbst wenn man alle Unterschiede in Soziodemografie und Gesundheitszustand ausgleicht, bleibt für ausländische Rehabilitanden immer noch ein 20 Prozent höheres Risiko für fehlenden Erfolg der Rehabilitation.

Es gibt weitere Faktoren, die das schlechtere Ergebnis möglicherweise erklären. Frau Staatsministerin Böhmer weist in ihrem Beitrag auf Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache als einen ganz wichtigen Punkt hin. Im Bereich der Rehabilitation spielt verbale Kommunikation eine wichtige Rolle. Kulturelle Unterschiede können ebenfalls relevant sein. Bestimmte Maßnahmen wie beispielsweise gemeinsames Schwimmen stellen für deutsche Frauen kein großes Hindernis dar - in anderen Kulturen hingegen werden sie oft nicht akzeptiert. Das weist bereits darauf hin, dass manche Angebote im Rahmen der Rehabilitation nicht für alle Rehabilitanden gleichermaßen geeignet sind.

Hinzu kommt eine nicht immer migrantensensible Einstellung von Einrichtungen im Bereich der Rehabilitation. In den von uns geführten Interviews äußerten sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Rehabilitationskliniken nicht selten wie folgt: "Ja, es ist halt so, dass man schon einfach guckt, um sich auch selbst ein bisschen zu schützen und großen Frust zu ersparen, dass man sich eher an die interessierten Leute wendet. Ansonsten ist es eher so, dass die Migranten nebenbei mitlaufen." Oder: "Ja, im Grunde würde ich am liebsten nichts anders [als bei den Deutschen] machen, weil ich finde schon auch, dass die [Migranten] eine gewisse Bringpflicht haben, sich zu integrieren." Oder: "Ich würde eigentlich eher dafür plädieren, dass man versucht, mit den Leuten so deutsch wie möglich umzugehen." Hier werden Hindernisse für eine erfolgreiche Rehabilitation erkennbar, die nicht in der Person der Rehabilitanden zu suchen sind, sondern in der Struktur der Einrichtungen liegen.


Fazit

Das Beispiel Rehabilitation zeigt: Es gibt eine deutlich geringere Inanspruchnahme gesundheitlich-präventiver Leistungen bei Ausländerinnen und Ausländern im Vergleich mit der Mehrheitsbevölkerung in Deutschland. Werden bestehende Hindernisse beim Zugang zur Rehabilitation überwunden, so haben ausländische Rehabilitanden ein erhöhtes Risiko, am Schluss der Rehabilitation nicht wieder ihre volle Leistungsfähigkeit im zuletzt ausgeübten Beruf zu erlangen. Die beobachteten Unterschiede sind nicht allein durch sozioökonomische und demografische Faktoren zu erklären oder durch berufliche oder gesundheitliche Vorbelastungen. Neben Zugangsbarrieren gibt es Wirksamkeitsbarrieren. Neben migrationsspezifischen Faktoren gehören dazu auch systembedingte Faktoren, also Faktoren, die in der Struktur der rehabilitativen Einrichtungen zu suchen sind.

Es gibt also eine Reihe von Herausforderungen: Migrantinnen und Migranten sind eine sehr heterogene Zielgruppe, die sozial und gesundheitlich sehr große Unterschiede aufweist: Es gibt nicht die Migranten, und wir sollten nicht generalisieren. Wir benötigen daher in Deutschland bessere Daten zur Gesundheit von Migrantinnen und Migranten, Daten, die es ermöglichen, Interventionen gezielt zu planen und anschließend den Erfolg dieser Interventionen auszuwerten. Dies erfordert, Informationen nicht nur über den Migrationsstatus zu erheben, sondern auch über den sozioökonomischen Status. Gerade diese Informationen fehlen in den meisten deutschen Statistiken.

Die genannten Beispiele zeigen, dass es bei Migrantinnen und Migranten immer noch deutliche Defizite gibt im Bereich der Prävention, im Bereich der Schwangerenvorsorge, im Bereich der Vorsorgeuntersuchungen für Kinder, aber auch im Bereich der Tertiärprävention, also der Rehabilitation. Es ist wichtig, die bereits von den Gesundheitsdiensten erzielten Verbesserungen anzuerkennen, ebenso die aktiven Leistungen der Migrantinnen und Migranten. Aber gerade im Bereich der Prävention mangelt es im deutschen Gesundheitssystem noch an Diversity Management, der Fähigkeit, mit einer Klientel umzugehen, die immer heterogener wird. Diversity Management nutzt nicht nur den Migrantinnen und Migranten, sondern letztlich allen Menschen in der Bevölkerung, denn wir alle haben unterschiedliche Vorstellungen, wie wir behandelt, versorgt, rehabilitiert oder gepflegt werden möchten.

Auch sollte das Verständnis von Prävention gerade im Zusammenhang mit Migration weit gefasst werden. Verhaltensprävention allein ist nicht genug: Es reicht nicht aus, Migrantinnen und Migranten zu sagen, sie sollten sich in dieser oder jener Beziehung förderlicher für ihre Gesundheit verhalten. Mindestens genauso wichtig ist es, auch Strukturen, die krank machen, zu verändern. Das ist eine weitere große Herausforderung, der wir uns stellen müssen.


Oliver Razum, geb. 1960, Prof. Dr. med., Gesundheitswissenschaftler, seit 2004 C4-Professur und Leiter der Abteilung Epidemiologie und International Public Health an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld, seit 2006 auch Prodekan/Studiendekan der Fakultät.


Anmerkung

[1] Razum et al. 2009.


Literatur

Brzoska, Patrick et al. (2010): Utilization and effectiveness of medical rehabilitation in foreign nationals residing in Germany. European Journal of Epidemiology, 25 (9), 651-660.

Razum, Oliver et al. (2009): Medizinische Rehabilitation für Personen mit Migrationshintergrund - Zwischenergebnisse eines Forschungsprojektes im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. In: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.): Gesundheitliche Versorgung von Personen mit Migrationshintergrund. Berlin, 36-52.

Razum, Oliver et al. (2008): Migration und Gesundheit. Schwerpunktbericht der Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Berlin.


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INHALT

Axel W. Bauer - Vorwort
Maria Böhmer - Gesundheit als Ziel der Integrationspolitik
Oliver Razum - Gesundheit von Migranten: Hintergründe
Ilhan Ilkilic - Medizinethische Aspekte des interkulturellen Arzt-Patienten-Verhältnisses
Theda Borde - Frauengesundheit und Migration: Bedürfnisse - Versorgungsrealität - Perspektiven
Alain Di Gallo - Risiken und Chancen der Migration aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht
Andreas Spickhoff - Spezielle Patientenrechte für Migranten? Juristische und rechtsethische Überlegungen
Bettina Schlemmer - "Migranten ohne Pass" beim Arzt: Realität und politische Konsequenzen
Ulrike Kostka - Die medizinische Versorgung von Migrantinnen und Migranten zwischen Solidarität und Eigenverantwortung


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Quelle:
Dokumentation der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2010
Migration und Gesundheit - Kulturelle Vielfalt als Herausforderung
für die medizinische Versorgung
© 2010 - Seite 21 - 27
Herausgeber: Geschäftsstelle des Deutschen Ethikrates
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Mai 2011