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ETHIK/1055: Babyklappen droht Abschaffung - Es mangelt an klaren Regeln (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 102 - 2. Quartal 2012
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

Es mangelt an klaren Regeln

Von Matthias Lochner



Babyklappen und andere Angebote zur anonymen Geburt sind in Deutschland seit langem heftig umstritten. In der Politik genauso wie unter den Mitarbeitern von Jugendämtern, ja sogar unter den Anbietern selbst. Nun hat eine Studie ein erhellendes Licht auf die Angebote geworfen, die sich in einer juristischen Grauzone aufhalten, und die Politik zu einem neuen Anlauf bewogen, doch noch unverzichtbare Standards zu schaffen.


Verhindern die Angebote zur anonymen Kindsabgabe, dass ungewollt schwangere Frauen neugeborene Kinder einfach aussetzen oder gar töten, oder verführen sie vielmehr Mütter gar dazu, ihre Kinder fremden Händen zu überlassen? Sind sie ethisch gerechtfertigt, wenn durch sie ein Kind gerettet wird, oder abzulehnen, weil sie einen Eingriff in das Grundrecht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung und unter Umständen in das Elternrecht des biologischen Vaters darstellen? Dass die verschiedenen Angebote der anonymen Kindesabgabe (siehe Infokasten) seit Jahren ebenso heiß wie kontrovers diskutiert werden, ist nicht schwer zu verstehen. Denn sie befinden sich in einer juristischen Grauzone. Auch deshalb war den verschiedenen Gesetzesinitiativen zur Regelung der anonymen Geburt in Deutschland bislang kein Erfolg beschieden. Anfang des Jahres hat Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) nun einen neuen Versuch angekündigt.

Auslöser des Vorstoßes ist eine Anfang des Jahres veröffentlichte Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI), die Angebote der anonymen Kindesabgabe und deren Inanspruchnahme untersucht hat und die durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gefördert wurde. In die Medien gelangte vor allem eine Erkenntnis: Bei einem Fünftel der anonym geborenen beziehungsweise abgegebenen Kinder weiß heute niemand, was aus ihnen geworden ist. »200 Babyklappen-Kinder verschwunden«, titelte etwa die Tageszeitung »Die Welt«. Aber der Reihe nach.

»200 Babyklappen-Kinder verschwunden.«

Der Studie unter dem Titel »Anonyme Geburt und Babyklappen in Deutschland - Fallzahlen, Angebote, Kontexte« liegt eine bundesweite Erhebung zugrunde, die zwischen Juli 2009 und Oktober 2011 durchgeführt wurde und aus zwei Modulen bestand. Im ersten Modul wurden die Träger der Angebote zur anonymen Kindesabgabe sowie sämtliche Jugendämter schriftlich befragt. Ziel dieser Befragung war die Erhebung von Fallzahlen über bestehende Angebote, Kooperationsstrukturen und Beratungsangebote für betroffene Frauen. Außerdem wurden Informationen über die Nutzerinnen und die Häufigkeit der Inanspruchnahme ermittelt. Um ausgewählte Aspekte vertiefend analysieren zu können, wurden zusätzlich zu der schriftlichen Befragung sogenannte Experteninterviews mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Jugendämter und der Träger der Angebote geführt. Im Fokus des zweiten Moduls der Untersuchung standen die Frauen, die ein Angebot zur anonymen Kindesabgabe genutzt hatten. Mittels Interviewleitfäden wurden die Frauen sowohl zu ihren Motiven, die zur Nutzung eines Angebotes der anonymen Kindesabgabe geführt haben, als auch zu ihrer Lebenssituation vor, während und nach der Schwangerschaft befragt.

»Die Nutzerinnen sind ausgesprochen heterogen.«

Die Studie kommt zu sehr differenzierten Ergebnissen. Von den im Januar 2010 deutschlandweit angeschriebenen 591 Jugendämtern beteiligten sich 466 an der Umfrage (78,8 Prozent). Von den 344 Trägern von Angeboten anonymer Kindesabgabe, die ermittelt werden konnten, nahmen 272 an der Befragung teil (79,1 Prozent). Bei diesen Trägern wurden alle anonym geborenen, in eine Babyklappe gelegten oder anonym übergebenen Kinder erfragt. Diese Daten wurden unabhängig davon erhoben, ob die Mutter zu einem späteren Zeitpunkt die Anonymität aufgab und das Kind zurücknahm oder zur Adoption freigab. Dadurch konnte die Gesamtzahl der Inanspruchnahmen erfasst werden (Stichtag: 31.05.2010). Die Anbieter nannten insgesamt 973 Kinder, von denen 652 Kinder (67 Prozent) anonym geboren, 278 Kinder (28,6 Prozent) in eine Babyklappe gelegt und 43 Kinder (4,4 Prozent) anonym übergeben wurden.

Der Befragung zufolge wurden bundesweit für insgesamt 376 Kinder, die im Zeitraum von 2000 bis Ende 2009 anonym geboren, anonym übergeben oder in eine Babyklappe gelegt wurden, Adoptionsvormundschaften eingerichtet. Die gesetzliche Amtsvormundschaft über die zur Adoption freigegebenen Kinder (kurz: Adoptionsvormundschaft) tritt ein, wenn die sorgeberechtigten Eltern oder der alleinsorgeberechtigte Elternteil wirksam in eine Adoption des Kindes einwilligen. 45 dieser 376 Kinder wurden durch die leiblichen Mütter/Väter zurückgenommen. Demzufolge wurde für mindestens 331 Kinder, die zu diesem Zeitpunkt keine Kenntnis über ihre Herkunft hatten, eine Adoptionsvormundschaft eingerichtet und damit ein Adoptionsverfahren eingeleitet.

»Rückgabe darf nur über das Jugendamt erfolgen.«

Der schon angesprochene öffentlichkeitswirksamste Befund der Studie ist aber folgender: Bei den Anbietern fehlen für gut ein Fünftel der Kinder Angaben über den weiteren Verlauf (Aufgabe der Anonymität, Adoptionsfreigabe oder Rücknahme durch die leibliche Mutter/Eltern). Gemäß den Angaben der Träger lag die Zahl der Kinder, die dauerhaft anonym geblieben sind, bei 314 (32,3 Prozent). In der Zusammenfassung der Studie heißt es: »Bei der Erhebung der Fallzahlen zeigte sich, wie schwierig eine exakte Erfassung der Anzahl betroffener Kinder ist. Dies liegt daran, dass diese Daten nicht an einer zentralen Stelle gesammelt werden, in einigen Fällen keinerlei Dokumentation der Vorgänge stattfindet beziehungsweise diese bei vielen Anbietern mangelhaft ist. Zudem waren sowohl einige Jugendämter als auch Träger im Rahmen der Befragung nicht bereit, Zahlen für die Studie zur Verfügung zu stellen.«

Hier liegt der eigentlichen Grund für die neu aufgekommene Debatte: Die Qualität der Träger sowie ihre Dokumentationen sind äußerst unterschiedlich. Seither mehren sich denn auch die Stimmen derjenigen, die die sogenannten Babyklappen verbieten wollen. »Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass in Deutschland keine neuen Babyklappen eröffnet werden dürfen, dass die bestehenden Projekte allmählich auslaufen sollten und möglichst rasch klare Vorschriften erhalten müssen«, äußerte etwa die Familienpolitikerin und stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Ingrid Fischbach (CDU).

Strengere Regeln forderte auch die stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen Ekin Deligöz. Die anonym geborenen oder abgegebenen Kinder seien bisher nicht ausreichend geschützt. »Es muss ein standardisiertes Verfahren entwickelt werden, wie mit dem Kind verfahren wird, um seine Rechte so weit wie möglich zu sichern«, meint Deligöz. Deswegen solle »eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe hierzu gemeinsame - für alle Beteiligten verpflichtende - Kriterien aufstellen«, so die Grünenpolitikerin weiter. Zu diesen klaren Vorschriften zählt Deligöz zufolge, »dass in jedem Fall das Kind unverzüglich von den Anbietern gemeldet werden muss«. Es müsse zudem jedes Mal ein Amtsvormund bestellt werden, »und das Adoptionsverfahren für das Kind muss strikt von den Trägern der anonymen Angebote getrennt werden. Zudem darf die Rückgabe des Kindes an die leibliche Mutter nur über das Jugendamt erfolgen«, so die Forderungen von Ekin Deligöz.

Die familienpolitische Sprecherin der CSU, Dorothee Bär, ist ebenfalls dafür, »dass keine neuen Babyklappen mehr entstehen«. Zudem müssten die Regeln für bestehende Babyklappen »viel strenger werden«, so Bär. »Das Kind muss sofort vom Betreiber der Babyklappe beim Jugendamt gemeldet werden. Die Betreiber dürfen mit dem Adoptionsverfahren nichts zu tun haben. Das Jugendamt muss strengstens involviert sein. Nur das Jugendamt entscheidet, nicht der Betreiber, ob die leibliche Mutter das Kind wiederbekommt«, fordert die CSU-Politikerin. Im Grunde decken sich diese Forderungen, die nicht neu sind, mit dem Votum, das die Mehrheit des Deutschen Ethikrats im November 2009 zu diesem Themenkomplex abgegeben hat. Darin fordert die Mehrheit des Gremiums, die »vorhandenen Babyklappen und bisherigen Angebote zu anonymen Geburt« aufzugeben.

»Wissen um Herkunft versus Wunsch nach Anonymität.«

Fischbach und Bär sehen in der »vertraulichen Geburt« eine sinnvolle rechtliche Lösung. In diesem Fall werden die Daten der Frau einige Jahre lang unter Verschluss gehalten. Die CSU-Politikerin Bär denkt hier zum Beispiel an 14 Jahre. Wie eine »vertrauliche Geburt« aussehen könnte, findet sich ebenfalls im Mehrheitsvotum des Ethikrates. Demnach soll eine Frau verlangen können, dass die Personendaten »für die Dauer eines Jahres ab der Geburt des Kindes nur der Beratungsstelle und nicht dem Standesamt mitgeteilt werden«. Die Beratungsstelle dürfe diese Daten nicht an Dritte weitergeben und habe das Kind fristgerecht beim Standesamt als »vorübergehend anonym« zu melden. Nach Ende der einjährigen Geheimhaltungspflicht soll die Beratungsstelle »die ihr bekannten persönlichen Daten der Mutter und des Vaters« dem Standesamt nachmelden: Darüber hinaus hat die Beratungsstelle die Schwangere/Mutter umfassend über die bestehenden Hilfsmöglichkeiten zu informieren. Der Beschluss zu Adoption könne am Ende der Geheimhaltungspflicht erfolgen. Schließlich solle das Gericht über die bestehenden Regelungen des Adoptionsrechts hinaus die Einwilligung des Vaters ersetzen, »wenn der Frau oder dem Kind durch die Einwilligung des Vaters oder durch die Kontaktaufnahme mit dem Vater ein unverhältnismäßiger Schaden droht«.

Die Idee hinter der »vertraulichen Geburt« ist also: Die Mutter, die sich in einer sozialen und/oder psychischen Notlage befindet, soll die Sicherheit erhalten, dass die Geburt eine Zeit lang jenen Personen unbekannt bleibt, von denen sie Repressalien befürchtet, etwa von der Familie, vom Arbeitgeber oder von einzelnen Ämtern. Wegen der Erfassung ihrer Daten wäre die Frau bei der »vertraulichen Geburt« für Hilfsangebote und Beratung erreichbar. »Genau das möchten die betroffenen Frauen nicht«, meint jedoch Gabriele Stangl zu der Datenerfassung. Sie hat im Jahr 2000 die erste Babyklappe an einer Klinik initiiert und betreut im Zehlendorfer Krankenhaus Waldfriede Frauen, die anonym gebären wollen. Weil sie dabei oft ein Vertrauensverhältnis aufbauen kann, entscheiden sich viele, ihre Identität schließlich doch preiszugeben. Das zeigt, dass das Angebot der Anonymität Türen für eine mögliche langfristige Unterstützung öffnen kann.

Ingrid Fischbach sagt indessen, dass ein Gesetz zur »vertraulichen Geburt« zur Folge hätte, »dass anonyme Geburten nicht mehr durchgeführt werden können. Mit uns in der Union ist eine gesetzliche Regelung der anonymen Geburt nicht zu machen«, betont die CDU-Politikerin. Dies sehen allerdings nicht alle Unionspolitiker so. Beim Gesundheitsminister von Berlin, Mario Czaja (CDU), beispielsweise stoßen die Pläne, anonyme Geburten und Babyklappen zu verbieten, auf Ablehnung. »Das wird in Berlin so nicht geschehen. Wir haben gute Erfahrungen mit der Babyklappe gemacht, auch wenn man damit leider nicht jede Hilfe suchende Mutter erreichen kann. Aber die Berliner Hilfestruktur soll beibehalten werden«, so Czaja. Auch Brandenburgs Gesundheitsministerin Anita Tack (Die Linke) ist zwar der Meinung, dass Babyklappen und anonyme Geburten allein das Problem nicht lösen könnten. Sie betont aber auch: »Grundsätzlich muss es möglich sein, dass Frauen in extremen Notsituationen ihr Kind anonym zu Welt bringen oder anonym abgeben können - als letztes Mittel.«

»Wir haben gute Erfahrungen mit der Babyklappe gemacht.«

Die erstaunliche Stimmenvielfalt zeigt auch den Kern der Problems an: Denn die politischen Meinungsverschiedenheiten, die hier deutlich werden, zeigen sich auch in der Studie. So liegt die größte Differenz zwischen den Jugendamtsmitarbeitern und den Trägern von Angeboten anonymer Kindesabgabe in der fachlichen Ausrichtung: Es geht letztlich um die Frage, ob Mutter oder Kind im Fokus der Hilfeleistung stehen. Je nachdem, wie man sich in dieser Frage der konkurrierenden Interessen des Kindes (Wissen um Herkunft) und der Mutter (Wunsch nach Anonymität) positioniert, gelangt man auch zur einer Befürwortung oder Ablehnung der Angebote anonymer Kindesabgabe.

So wird denn auch die Rechtmäßigkeit der Angebote der anonymen Kindesabgabe sehr unterschiedlich eingeschätzt. Die Mitarbeiter der Jugendämter äußerten sich in vielen Fällen kritisch zu den Angeboten. Unter den Anbietern hingegen gibt es drei Gruppen: eine wünscht eine Legalisierung der Angebote; eine zweite sieht die eigenen Angebote kritisch und plädiert für eine Schließung, weiß aber nicht, wie diese bewerkstelligt werden und welche alternativen Angebote es geben könnte; die dritte Gruppe erachtet die bestehende rechtliche Lage als ausreichend. Zusammenfassend sagt die Studie: »Sowohl für die Mitarbeiter/innen der Träger als auch der Jugendämter birgt die gegenwärtige Situation, die Duldung der Angebote in Widerspruch zur bestehenden Rechtslage, Schwierigkeiten in ihrer täglichen Arbeit.«

Die Studie betont aber auch, dass trotz unterschiedlicher Haltungen und Einschätzungen bezüglich der Angebote anonymer Kindesabgabe die Aussagen der Mitarbeiter von Trägern und Jugendämtern »im Hinblick auf die Situation der betroffenen Frauen weitestgehend übereinstimmen oder sich konstruktiv ergänzen«. So ist man sich einig, dass die Zusicherung von Anonymität und das Bestehen anonymer Beratungsangebote ausgesprochen wichtig sind, um Frauen zu erreichen, die sich in subjektiv als unlösbar empfundenen Notsituationen befinden. Beide Seiten sehen in der zugesicherten Anonymität ein wesentliches Element der Niedrigschwelligkeit der Hilfsangebote, die bei anderen Hilfsangeboten fehlt. Der Niedrigschwelligkeit gegenüber stehen die »vielfachen psychischen, physischen und medizinischen Belastungen, die hinter der anonymen Abgabe eines Kindes« stecken.

Träger und Jugendämter stimmen auch darin überein, dass die Lebenssituation, die zur Abgabe des Kindes geführt hat, sich durch die anonyme Kindesabgabe nicht verändert. Man ist sich zudem einig, dass die Nutzerinnen der Angebote ausgesprochen heterogen sind und diese keineswegs ausschließlich zu den ursprünglich im Fokus stehenden Frauen zählen (Prostituierte, Drogenabhängige, junge Mädchen, Frauen, die ihr Neugeborenes töten oder aussetzen). So gibt es beispielsweise Frauen, die sich für ein solches Angebot entscheiden, weil sie durch außerehelichen Geschlechtsverkehr schwanger geworden sind. Andere lehnen eine reguläre Adoptionsfreigabe ab, da sie bereits Kinder haben und/oder zu einem früheren Zeitpunkt ein Kind zur Pflege oder zur Adoption freigegeben hatten. Diese Frauen befürchten, dass bei einer (erneuten) Adoptionsfreigabe ihre Erziehungsfähigkeit generell in Frage gestellt und ihnen womöglich weitere Kinder, die in der Familie aufwachsen, durch das Jugendamt entzogen würden. Auch der bürokratische Aufwand sowie die Stigmatisierung der abgebenden Mutter im Falle einer regulären Adoptionsfreigabe werden als Gründe genannt.

Trotz der Heterogenität der Nutzerinnen gibt es auffällige Gemeinsamkeiten: Die Studie nennt »diffuse, panikartige Ängste und eine damit verbundene Sprachlosigkeit« der Frauen. Außerdem die Tatsache, dass die meisten der Frauen ihre Schwangerschaft »relativ spät, d.h. gegen Ende des zweiten, am Anfang des dritten Trimenon oder noch später realisieren«, die Schwangerschaft verdrängen und Strategien der Verheimlichung (z.B. sozialer Rückzug, Verleugnung, Kaschieren durch Tragen weiter Kleidung) anwenden.

»Diffuse, panikartige Ängste und Sprachlosigkeit.«

Schließlich herrscht bei Trägern und Jugendämtern Einigkeit darüber, dass die Babyklappe aufgrund der mangelnden medizinischen Versorgung sehr kritisch zu sehen und die »Ultima Ratio« ist. »Vor die Wahl gestellt, ein Angebot der anonymen Kindesabgabe in ihrem Jugendamtsbezirk zu unterstützen, wurde in der Mehrheit die anonyme Geburt als ganzheitliches Angebot für Frauen und Kinder gewählt, da hier ein Mindestmaß an medizinischer Versorgung, Kontakt und Beratung gewährleistet werden kann«, so der Wortlaut der Zusammenfassung. Die Studie schlussfolgert, dass für alle Beteiligten durch eine eindeutige Rechtslage Handlungssicherheit zu schaffen sei. Trotz der deutlichen Kritik an den Angeboten anonymer Kindesabgabe spricht sie sich jedoch nicht für ein gesetzliches Verbot derselben, sondern »nur« für eine klare gesetzliche Regelung aus.


INFO
Anonyme Kindsabgabe

Drei Angebote der anonymen Kindesabgabe sind zu unterscheiden: die anonyme Geburt, die anonyme Übergabe und Babyklappen.

Die anonyme Geburt gewährleistet eine medizinische Versorgung von Mutter und Kind vor, während und nach der Geburt. Sie wurde erstmals 1999 im Rahmen des »Moses Projektes« der Schwangerschaftsberatung »Donum Vitae« im bayerischen Amberg angeboten.

Bei der Nutzung von Babyklappen hingegen gibt es keinen persönlicher Kontakt zwischen der Mutter und den Mitarbeitern des Angebotes. Babyklappen sind öffentlich zugängliche, geschützte Wärmebetten, in die Frauen ihr Neugeborenes legen und damit zur Adoption freigeben können. Dabei wird eine Klappe geöffnet, die wenige Minuten nach dem Wie derverschließen ein Signal auslöst: So wird die Einrichtung auf den Säugling aufmerksam und kann ihn versorgen; zugleich ist die Anonymität der Frau gewahrt. Eine medizinische Versorgung oder Beratung ist nur dann möglich, wenn sich die Mutter vor oder n ach der Abgabe des Kindes beim Träger meldet. Die erste Babyklappe wurde 2000 in Hamburg eingerichtet. Die Idee ist nicht neu: Schon Ende des 12. Jahrhunderts ließ Papst Innozenz III. verfügen, dass an den Pforten vieler Findelhäuser sogenannte Drehladen installiert wurden, in die Kinder reingelegt werden konnten.

Bei einer anonymen Übergabe übergibt die abgebende Person ihr Kind bei einem persönlichen Treffen, nachdem sie zuvor telefonisch Ort und Zeitpunkt mit dem Anbieter vereinbart hat. Die unterschiedlichen Angebote haben dieselbe Intention: eine mögliche Kindstötung (Neonatizid) oder Aussetzung des Neugeborenen soll verhindert werden, indem es Müttern in problematischen Lebenssituationen ermöglicht wird, ihr Kind anonym zu gebären bzw. abzugeben.

In Deutschland werden Babyklappen sowie anonyme Übergaben und Geburten toleriert, obwohl eine gesetzliche Grundlage fehlt. Nach § 1591 BGB ist die Mutter stets die Frau, die das Kind geboren hat, das heißt, in der Geburtsurkunde muss zwingend der Name der Mutter stehen. Das Personenstandsgesetz unterwirft jede Person, die von der Geburt eines Kindes weiß bzw. an einer Entbindung beteiligt ist, der Anzeigenpflicht gegenüber dem Standesamt. Frauen, die ihr Kind anonym abgeben, und alle Personen, die bei einer anonymen Geburt oder Übergabe beteiligt sind oder institutionell eine Babyklappe betreiben, handeln demnach rechtswidrig.

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KOMMENTAR
Im Zweifel für das Leben

Wer das Votum der Mehrheit des Deutschen Ethikrates liest, kann sich nur schwer des Eindrucks erwehren, hier werde das Recht auf Informationen über die eigne Abstammung absolut gesetzt. Dass das Recht auf Informationen über die genetische Herkunft wichtig ist, steht außer Frage. Unbestritten sollte aber auch sein, dass das Lebensrecht über diesem steht. Das Recht auf Informationen über die eigne Herkunft kann nämlich nur wahrgenommen werden, wenn zuvor das Recht auf Leben gewahrt wurde. Auch kann ein Subjekt nur dann ein Rechtssubjekt sein, wenn es lebt! Das Recht auf Leben ist die Grundvoraussetzung für alle anderen Rechte. Es ist das Fundament, auf dem alle anderen Rechte aufbauen.

Die zentrale Frage der Debatte um die Babyklappe und andere Angebote der anonymen Kindsabgabe ist denn auch eine andere: Werden mit ihnen Leben gerettet? Die Mehrheit des Ethikrates sagt, es sei nicht wahrscheinlich, »dass Frauen, bei denen die Gefahr be steht, dass sie ihr Neugeborenes töten oder aussetzen, durch die Angebote überhaupt zu erreichen sind«. Im ergänzenden Votum zweier Ethikratsmitglieder heißt es sogar, die These der Lebensrettung durch die besagten Angebote sei »lediglich spekulativ« und durch »keinerlei empirische Erkenntnisse« gestützt.

Dem ist entgegenzuhalten, dass die These, Angebote anonymer Kindesabgabe retteten kein Leben, genauso spekulativ ist. Dies liegt in der Natur der Sache: Es lässt sich mit den Mitteln der Empirie weder beweisen, dass die Angebote Leben retten, noch nachweisen, dass sie keine Leben retten. Ob Frauen, die ihre Kinder anonym abgeben oder gebären, bei einem Nichtvorhandensein solcher Angebote ihr Kind ausgesetzt oder getötet hätten, lässt sich nicht feststellen, da die Fragestellung an sich schon hypothetisch ist. Keine Umfrage der Welt kann im konkreten Einzelfall in den Kopf der Mutter schauen, die mit der extremen Entscheidung ringt, ihr Kind auszusetzen oder zu töten. Auch die DJI-Studie gibt auf diese Frage keine Antwort. Sie gehört eben zu den Fragen, die sich nicht beantworten lassen.

Wir wissen nicht, »welches Schicksal die abgegebenen Kinder ohne diese Angebote getroffen hätte«, formuliert es das Sondervotum des Deutschen Ethikrates und resümiert: »Da nicht auszuschließen ist, dass Leben und Gesundheit der von Aussetzung bedrohten Kinder in extremen Notfällen durch die Angebote anonymer Kindesabgabe tatsächlich gerettet werden und da die Vermittlung der abgegebenen Kinder an Adoptivfamilien nicht per se als problematisch einzustufen ist, kann diese Möglichkeit als Ultima Ratio auch ohne rechtliche Grundlage toleriert werden.«

Anders gewendet: Weil erstens das Lebensrecht über dem Recht auf Wissen um die eigne Herkunft steht und weil es sich zweitens niemals beweisen lassen wird, dass die Angebote der anonymen Kindesabgabe kein Leben retten, muss der Staat eine Situation aushalten, die nicht wünschenswert, aber vertretbar ist. Wer hingegen die bestehenden Möglichkeiten verbietet, stuft letztlich das Recht auf Informationen über die Abstammung höher ein als das Lebensrecht.

Worauf die Politik aber hinwirken muss, ist die Einführung und Überprüfung von Qualitätsstandards. Es ist nicht hinnehmbar, dass bei einem Fünftel der anonym abgegebenen Kinder nicht gesagt werden kann, wo diese abgeblieben sind. Allerdings dürfen auch nicht alle Anbieter von Angeboten der anonymen Geburt in einen Topf geworfen werden. Denn die Studie zeigt auch, dass es viele, sehr vorbildliche Träger gibt. Diese müssen künftig der Maßstab für alle anderen sein.

Matthias Lochner


IM PORTRAIT

Matthias Lochner - Der Autor, Jahrgang 1984, studierte Deutsch, Geschichte und Katholische Theologie für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen an der Universität zu Köln. Er ist seit 2001 Mitglied der ALfA und seit Mai 2007 Vorsitzender der »Jugend für das Leben« (JfdL) Deutschland, der Jugendorganisation der ALfA. Als freier Journalist publiziert Matthias Lochner regelmäßig auch in »LebensForum«. Er ist verheiratet und lebt im Rheinland.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Ingrid Fischbach, CDU
- Christina Schröder, CDU
- Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen
- Dorothee Bär, CDU
- Mario Czaja
- Anita Tack

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Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 102, 2. Quartal 2012, S. 4 - 8
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
Herausgeber: Aktion Lebensrecht für Alle e.V.
Bundesvorsitzende Dr. med. Claudia Kaminsky (V.i.S.d.P.)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Juli 2012