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ETHIK/1154: Epigenetik - Neue Möglichkeiten zwischen Freiheit und Verantwortung (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 5/2014

Epigenetik
Neue Möglichkeiten zwischen Freiheit und Verantwortung

Von Horst Kreussler



Fortbildungsseminar "Ethik der Epigenetik" an der Evangelischen Akademie Loccum in Hannover.


Mit der boomenden Genomforschung entwickelte sich auch das Bestreben, die entdeckten genetischen Korrelationen von Gendefekten und Krankheiten durch die Erforschung schädlicher oder günstiger genprägender Verhaltensweisen zu ergänzen. Es geht um die Einwirkung des eigenen Handelns auf das Genom mit eventuell weitreichenden, aber auch umkehrbaren Wirkungen für folgende Generationen. So war es zu hören bei der Einführung in das Fortbildungsseminar des Zentrums für Gesundheitsethik (ZfG) an der Akademie Loccum von Philipp Bode vom ZfG und Prof. Nils Hoppe vom mitveranstaltenden Centre for Ethics and Law in the Life Sciences in Hannover. Tenor der Referate und Diskussionen von Medizinern, Biowissenschaftlern, Ethikern, Juristen und Theologen war die Überzeugung, dass die noch unsicheren naturwissenschaftlichen Möglichkeiten und die rechtlich-ethischen Fragen genauer geklärt werden sollten und zugleich die interne Fachdiskussion in die breitere Fachöffentlichkeit getragen werden sollte.

Genetiker Prof. Jörn Walter von der Universität des Saarlandes zeigte den Forschungsstand auf. Auf der einen Seite könne die Epigenetik zusätzlich zur Entschlüsselung des Genoms tiefere Einsichten in das menschliche Genom liefern. Epigenetik meine die (umkehrbare) Veränderung der etwa drei Milliarden DNA-Basen oder der Chromatin-Proteine, die die Funktion unserer Chromosomen beeinflussen. Ausgehend von den USA werde auch in Deutschland vor allem in einem Forschungskonsortium (darunter Kiel) versucht, Epigenomkartierungen mit vielen Daten etwa zu Persönlichkeitsmerkmalen und zu Alterungsprozessen zu gewinnen. Dahinter steht auch die Frage, wieweit ein individueller Alterungsprozess genetisch vorgegeben ist oder durch günstige Lebensweise beeinflusst werden kann. Ein anderes Beispiel aus der Zwillingsforschung ist die Frage, warum einer der eineiigen Zwillinge eine Erbkrankheit bekommt, der andere aber (epigenetisch?) nicht. Nach einer Studie werde zwar generell ein höheres Risiko durch künstliche Befruchtung nicht gesehen, könne aber in Einzelfällen nicht ausgeschlossen werden, so Walter. Der Referent kritisierte die vielfach euphorische Behandlung des Themas Epigenetik und meinte zurückhaltend: "Wir haben bisher die Vielfalt der genetischen Variationen noch nicht ausreichend verstanden." Er forderte verbesserte molekularbiologische Analysemethoden und bessere Studien. Und dann müsste die Bedeutung epigenetischer Prozesse für die Gesundheit der Bevölkerung und für die Gesellschaft geklärt werden.

Ähnlich äußerte sich der Ethiker PD Joachim Boldt aus Freiburg. Aus seiner Sicht muss bei der modernen "Big-Data-Forschung am Rechner" bedacht werden, dass sie oft ohne vorherige sorgfältig formulierte Hypothesen betrieben wird. Wenn dann herauskomme, dass eine bestimmte Lebensweise in etwa 20 Prozent der Fälle riskant sei, sei dies erst einmal statistisches, nicht aber "existenzielles Wissen" des betroffenen Individuums. Für das Individuum ergebe sich aus dem statistischen Wissen "20 Prozent Risiko" eine Handlungsfreiheit, sich so oder anders zu entscheiden. Diese Freiheit sei ein wesentlicher Grund für den "Sympathiebonus der Epigenetik". Der Einzelne könne sich ethisch verantwortungsbewusst sich selbst und der Gemeinschaft gegenüber verhalten, aber auch anders und dabei allgemeine Ziele wie Gesundheit für sich geringer bewerten. Jeder habe eigene Maßstäbe, ab welcher Wahrscheinlichkeit er sein Verhalten z. B. als Adipöser oder Diabetiker ändern wolle und bis zu welchem Grad er bereit sei, sein Leben zu ändern. Fazit: Eine andere Frage ist dann, ab wann und wieweit die staatliche Gemeinschaft mit rechtlichen Regulierungen zum Schutz der Allgemeinheit Grenzen setzt.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 5/2014 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2014/201405/h14054a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Mai 2014
67. Jahrgang, Seite 49
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juni 2014