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ETHIK/1317: Menschenwürde im medizinischen Alltag - Bericht über den Christlichen Gesundheitskongress in Kassel 2020 (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 3/2020

Medizinethik
Unterjüngte Gesellschaft
7. Christlicher Gesundheitskongress in Kassel am 25. Januar 2020

von Horst Kreussler


Christlicher Gesundheitskongress in Kassel. Menschenwürde im medizinischen Alltag schützen ist nötiger denn je. Besonderer Schwerpunkt: menschenwürdiger Umgang mit alten Patienten.


Braucht unser Gesundheitswesen hauptsächlich mehr Geld, mehr (digitale) Technik, mehr Personal? Definiert sich die Leistungsfähigkeit der Kliniken und Praxen primär nach ihrem finanziellen Gewinn? Ganz klar nein, lautete die Botschaft des 7. Christlichen Gesundheitskongresses im Januar im Kassel. In einer Zeit zunehmender Bedrohung der individuellen Arzt-Patienten-Beziehung gehe es um den Schutz der Menschenwürde von Patienten wie auch Mitarbeitern als zentraler Wert einer ethisch fundierten Medizin. Dieser ursprünglich christliche Begriff hat nicht nur unser Grundgesetz geprägt (Art. 1), sondern auch das ärztliche Gelöbnis für alle Ärzte. So heißt es in der Fassung des Weltärztebundes von 2017, der Arzt gelobe, sich in den Dienst der Menschlichkeit sowie der Gesundheit und des Wohlergehens der Patienten zu stellen und "die Autonomie und die Würde meiner Patientin oder meines Patienten zu respektieren". Dementsprechend schrieb der Präsident der Bundesärztekammer Dr. Klaus Reinhardt in seinem Grußwort an den Kongress, dieser Wert sei in der Gesundheitsversorgung von besonderer Bedeutung und müsse insbesondere bei den ethischen Fragen am Anfang und Ende des Lebens beachtet werden.

So konnten in Kassel Mediziner jeder Weltanschauung von zahlreichen Hinweisen und Impulsen profitieren, die in Richtung praktische Umsetzung gingen. In Plenarsitzungen und Seminaren kamen viele positive Fallbeispiele zur Sprache. So wurde von allein lebenden betagten Patienten berichtet, die von einem Netzwerk von Hausarzt, Pflegediensten und weiteren Diensten und hilfreichen Nachbarn ("caring community") gut versorgt werden.

Auch in der klinischen Altersmedizin, sagte Kongressvorstand Dr. Georg Schiffner (Hamburg-Wilhelmsburger Krankenhaus Groß-Sand), gebe es gute Möglichkeiten, mit "christlich geschulter Aufmerksamkeit" und im Verbund mit Seelsorge und Musik viele - ja zumeist getaufte - Patienten über ihre Lebensgeschichte zu erreichen.

Dr. Robert Wilhelm (Diakonieklinikum Harz, Elbingerode) informierte über Patienten, die auf Wunsch auch spirituell angesprochen werden und dann mit Schmerzen etwa bei Herz-/Kreislauferkrankungen und Krebs deutlich besser zurechtkommen. Wichtig sei, auch bei scheinbar diagnostisch klaren Fällen zu fragen, was der Patient genau möchte, und dann eventuell weiter zu fragen: "Was hat Ihnen in schwierigen Situationen geholfen?" Diese Frage nach möglicherweise spirituell-religiösen Erfahrungen dürfe seit einigen Jahren auch in der Psycho-Medizin gestellt werden, sagte Prof. Dr. phil. Michael Utsch (Berlin) in einem anderen Seminar, um sie therapeutisch zu nutzen. Immerhin sei "Spiritual Care" nach einigen Studien auch von der Weltgesundheitsorganisation WHO als heilender Faktor anerkannt. Viele Psychotherapeuten klammerten diesen Bereich allerdings immer noch aus. Er sei jedoch sicher, dass in Zukunft mit zunehmender Technisierung eine christlich inspirierte Medizin immer wichtiger werde. Auch wenn die Kerntugenden vieler Religionen wie Menschlichkeit, Liebe, Gerechtigkeit, Mäßigung, Mut, Weisheit und Transzendenz/Sinnsuche in der nichtreligiösen Welt anerkannt seien, sei zu berücksichtigen, dass Glaube nicht immer positiv für die Gesundheit sei, sondern im Extrem mit übersteigertem Wunschdenken und Fanatismus auch schaden könne.

Weitere eindrucksvolle Beispiele zeigten sich bei den Bewerbungen für den Christlichen Gesundheitspreis 2020 sowie am Rand des Kongresses etwa bei den Ausstellern wie der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Mediziner. Den ersten Preis gewann ein Künstler, der hölzerne "Königsskulpturen" gezielt in Kliniken und Hospizen aufstellt, um auf die (Königs-)Würde jedes einzelnen hinzuweisen. Hinzu kamen zum Beispiel eine medizinische Straßenambulanz in Frankfurt, ein von einem Arztehepaar mit Spenden finanziertes Krankenhaus für die als diskriminiert geltenden Quechuas in Peru, ein Kursangebot für Menschen mit entwürdigenden Erfahrungen oder eine Suchtprävention mit einer neuartigen App.

Einen besonderen Schwerpunkt des Kongresses bildete die Gerontologie und Geriatrie, weil alte (multi-)morbide Menschen oft besonders hilfsbedürftig sind, weil der Zeitraum für Hilfsmöglichkeiten kürzer ist und - moralisch gesehen - weil Jüngere den Älteren überhaupt die Voraussetzungen für ihr Tun verdanken. PD Dr. Rupert Püllen, Chefarzt der Medizinisch-Geriatrischen Klinik der Agaplesion Frankfurter Diakonie-Kliniken, wies auf die Geringachtung der Würde alter Menschen im Gesundheitswesen hin: "Unser Gesundheitswesen ist unzureichend auf ältere Patienten eingestellt."

Nicht nur gängige Begriffe wie "Überalterung" seien falsch (eher "Unterjüngung"), auch landläufige Wünsche ("Hauptsache gesund!" - besser Hauptsache selbstständig!). Die WHO habe daher zutreffend gesundes Altern (healthy ageing) als die Fähigkeit definiert, Wohlbefinden (well-being) im höheren Alter zu ermöglichen. Auch das abwertende Kostgänger-Argument sei nicht einmal rechnerisch korrekt, wenn - wie in einer Studie für Großbritannien - die volkswirtschaftlichen Leistungen älterer Menschen wie etwa Steuern, ehrenamtliche Arbeit, nützliche Konsumausgaben den Ausgaben für Senioren gegenübergestellt würden.

Ein menschenwürdiger Umgang mit alten Patienten sei sicher nicht immer einfach. Er erfordere etwa bei Multimorbidität und Multimedikation viel Kommunikation der Ärzte und Therapeuten, um zu einem sinnvollen Absetzen unnötiger Medikamente wie Cholesterinsenker bei fortgeschrittenem Karzinom ("deprescribing") zu kommen. Eine menschenwürdige Kommunikation könne dann aber auch schwere Komplikationen wie ein Delir verhindern. Räumlich gesehen - wie auf einem gezeigten Bild des Referenten im Patientengespräch - nicht wie häufig bei der Visite von oben nach unten, sondern auf Augenhöhe, der Arzt neben dem Patienten sitzend. Auf den Punkt gebracht hat dies einmal der langjährige Ärztliche Direktor des geriatrischen Modellprojekts Albertinenhaus in Hamburg-Schnelsen, Dr. Peter Meier-Baumgartner: "Wichtigste Grundlage geriatrischen Handelns ist die Menschenwürde. Die Würde gilt bis zum Tod, und sie kann nicht durch Krankheit verlorengehen, auch und besonders nicht durch Demenz."

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Info

Der Christliche Gesundheitskongress findet jährlich in Kassel statt, in 2020 zum siebten Mal. In diesem Jahr hieß das Kongressthema "Du bist es wert - Menschen. Würde. Achten".

Der Christliche Gesundheitskongress ist nach eigenen Angaben der einzige Kongress im deutschsprachigen Raum, der Berufsgruppen aus dem Gesundheitswesen und Mitarbeitende aus Kirchengemeinden aus allen christlichen Konfessionen verbindet.
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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 3/2020 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2020/202003/h20034a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
73. Jahrgang, März 2020, Seite 21
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. April 2020

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