Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) - 10.11.2016
Wie das Gehirn ursächliche Zusammenhänge erkennt
Tübinger Forscher finden heraus: Spiegelneurone sind an der Wahrnehmung von Kausalität beteiligt
Eine weiße Kugel schießt über den Billardtisch und stößt eine blaue Kugel an, die daraufhin losrollt und im Loch versinkt. Instinktiv ist uns klar: Der Zusammenprall löste die Bewegung der roten Kugel aus. Unter der Leitung von Professor Martin Giese und Professor Hans-Peter Thier haben Forscher am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung und dem Exzellenzcluster Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften der Universität Tübingen nun Nervenzellen entdeckt, die möglicherweise an der Wahrnehmung von ursächlichen Zusammenhängen beteiligt sind. In der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Current Biology berichten sie: Während wir eine solche Szene betrachten, aktiviert der abstrakte Kausalitätsreiz sogenannte Spiegelneurone im Gehirn. Diese Nervenzellen sind auch beim Ausführen und Betrachten motorischer Handlungen aktiv. Sie spiegeln das Geschehen, auch wenn der Beobachter an den Handlungen nicht aktiv beteiligt ist.
"Bislang war nicht bekannt, wie Kausalitätsurteile auf der Ebene von Nervenzellen verarbeitet werden", erklärt Martin Giese. "Man vermutete jedoch einen Zusammenhang mit der Verarbeitung von motorischen Handlungen - in beiden Fällen muss das Gehirn räumlich-zeitliche Zusammenhänge zwischen Reizen auswerten, die sich gegenseitig beeinflussen."
In ihrer Studie maßen die Wissenschaftler die Aktivität der Spiegelneurone in der motorischen Hirnrinde von Makaken. Während des Experiments wurden den Tieren auf einem Bildschirm natürliche Handbewegungen sowie abstrakte Reize in Form von bewegten Scheiben gezeigt. Der Bewegungsverlauf der Hände und Scheiben wird durch die gleichen kausalen Beziehungen beschrieben. Es zeigte sich: Die Aktivitätsmuster der Spiegelneurone waren für beide Reizarten fast identisch. "Das Ergebnis deutet darauf hin, dass motorische Bewegungen und bestimmte Aspekte visueller Kausalitätsurteile möglicherweise gemeinsam von den gleichen Nervenzellen verarbeitet werden", so Giese. "Beide Funktionen greifen scheinbar auf überlappende Gehirnbereiche zurück." Die Forscher vermuten, dass höhere Formen der Kausalitätswahrnehmung aus einfachen Mechanismen der Bewegungserkennung und Interpretation entstanden sein könnten.
Originalpublikation:
Vittorio Caggiano, Falk Fleischer, Jörn K. Pomper, Martin Giese & Peter
Thier (2016): Mirror neurons in monkey premotor area F5 show tuning for
critical features of visual causality perception.
http://dx.doi.org/10.1016/j.cub.2016.10.007
Kontakt:
Universität Tübingen
Hertie-Institut für klinische Hirnforschung
Prof. Dr. Martin Giese
martin.giese[at]uni-tuebingen.de
Werner Reichardt
Centrum für Integrative Neurowissenschaften
www.compsens.uni-tuebingen.de
- Das Hertie-Institut für klinische Hirnforschung
Das Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) wurde 2001 von der
Gemeinnützigen Hertie-Stiftung, dem Universitätsklinikum Tübingen und der
Eberhard Karls Universität gegründet. Das HIH beschäftigt sich mit einem der
faszinierendsten Forschungsfelder der Gegenwart: der Entschlüsselung des
menschlichen Gehirns. Im Zentrum steht die Frage, wie bestimmte Erkrankungen
die Arbeitsweise dieses Organs beeinträchtigen. Dabei schlägt das HIH die
Brücke von der Grundlagenforschung zur klinischen Anwendung. Ziel ist, neue
und wirksamere Strategien der Diagnose, Therapie und Prävention zu
ermöglichen. Derzeit sind 18 Professoren und rund 350 Mitarbeiter am Institut
beschäftigt.
- Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN)
Das Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN) ist
eine interdisziplinäre Institution an der Eberhard Karls Universität
Tübingen, finanziert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen der
Exzellenzinitiative von Bund und Ländern. Ziel des CIN ist es, zu
einem tieferen Verständnis von Hirnleistungen beizutragen und zu klären,
wie Erkrankungen diese Leistungen beeinträchtigen. Das CIN wird von der
Überzeugung geleitet, dass dieses Bemühen nur erfolgreich sein kann, wenn
ein integrativer Ansatz gewählt wird.
- Die Universität Tübingen
Innovativ. Interdisziplinär. International. Die Universität Tübingen
verbindet diese Leitprinzipien in ihrer Forschung und Lehre, und das seit
ihrer Gründung. Seit mehr als fünf Jahrhunderten zieht die Universität
Tübingen europäische und internationale Geistesgrößen an. Immer wieder hat
sie wichtige neue Entwicklungen in den Geistes- und Naturwissenschaften,
der Medizin und den Sozialwissenschaften angestoßen und hervorgebracht.
Tübingen ist einer der weltweit führenden Standorte in den
Neurowissenschaften. Gemeinsam mit der Medizinischen Bildgebung, der
Translationalen Immunologie und Krebsforschung, der Mikrobiologie und
Infektionsforschung sowie der Molekularbiologie der Pflanzen prägen sie
den Tübinger Forschungsschwerpunkt im Bereich der Lebenswissenschaften.
Weitere Forschungsschwerpunkte sind die Geo- und Umweltforschung, Astro-,
Elementarteilchen- und Quantenphysik, Archäologie und Anthropologie,
Sprache und Kognition sowie Bildung und Medien. Die Universität Tübingen
gehört zu den elf deutschen Universitäten, die als exzellent ausgezeichnet
wurden. In nationalen und internationalen Rankings belegt sie regelmäßig
Spitzenplätze. In diesem attraktiven und hoch innovativen Forschungsumfeld
haben sich über die Jahrzehnte zahlreiche außeruniversitäre
Forschungsinstitute und junge, ambitionierte Unternehmen angesiedelt, mit
denen die Universität kooperiert. Durch eine enge Verzahnung von Forschung
und Lehre bietet die Universität Tübingen Studierenden optimale
Bedingungen. Mehr als 28.000 Studierende aus aller Welt sind aktuell an
der Universität Tübingen eingeschrieben. Ihnen steht ein breites Angebot
von rund 300 Studiengängen zur Verfügung - von der Ägyptologie bis zu den
Zellulären Neurowissenschaften.
Weitere Informationen finden Sie unter
http://www.hih-tuebingen.de
Hertie-Institut für klinische Hirnforschung
http://www.cin.uni-tuebingen.de
Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften
https://www.uni-tuebingen.de
Eberhard Karls Universität Tübingen
Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/de/institution1351
*
Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH)
Dr. Mareike Kardinal, 10.11.2016
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de
veröffentlicht im Schattenblick zum 15. November 2016
Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang