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MEINUNG/091: Das Alter kann medizinisch nur geschätzt werden (IPPNW)


IPPNW-Stellungnahme vom 09.01.2018
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland

Das Alter kann medizinisch nur geschätzt werden

"Medizinische Altersfestsetzung"


Zum gestrigen [08.01.2018] Artikel auf Welt-online über den Widerstand gegen die "medizinische Altersfeststellung" erklärt die deutsche IPPNW-Sektion:

In der aktuellen Diskussion um die Altersdiagnostik bei jungen Flüchtlingen müssen einige Begriffe geklärt werden. Immer wieder ist von "Altersfeststellung" die Rede. Das unbekannte Alter kann aber nicht festgestellt, bestimmt oder definiert werden. Mit welchen Methoden auch immer: Es ist lediglich eine Altersschätzung möglich. Das ist unstrittig. Aufgrund einer solchen Schätzung wird dann seitens der zuständigen Behörden das Alter eines betroffenen jungen Menschen fiktiv festgesetzt.

Eine andere Begriffsverwirrung betrifft die Röntgenaufnahme der Hand. Es wird immer von "Handwurzelaufnahmen" gesprochen. Es geht jedoch nicht nur um die Handwurzelknochen, sondern mehr noch um die Wachstumsfugen der Mittelhandknochen, der Finger und der Unterarmknochen. Die Beurteilung der Handaufnahmen wird üblicherweise mit Hilfe des Greulich-Pyle-Atlas von 1959 vorgenommen. Er ist dafür konzipiert, bei Kindern mit Normabweichungen des Wachstums, festzustellen, ob das Knochenalter dem chronologischen Alter voraus eilt oder hinter diesem zurückbleibt. Der Atlas ist dagegen ungeeignet, das unbekannte Alter eines jungen Menschen zu definieren, da das Knochenalter vom chronologischen Alter um 2-3 Jahre nach oben und unten abweichen kann. Ein Knochenalter von 17 Jahren kann also zu einem jungen Menschen von 15 - 19 gehören, im Extremfall sogar von 14-20.

Der Londoner Medizinstatistiker Timothy Cole hat dargestellt, dass die Ausreifung des Handskeletts bei 61 % der Jugendlichen bereits vor dem 18. Lebensjahr abgeschlossen ist. Demnach trägt die Hand-Röntgenaufnahme zur entscheidenden Frage der Volljährigkeit nichts bei. Auch die "Panorama-Aufnahme" des Gebisses und die Computertomografie der Schlüsselbein-Brustbein-Gelenke liefern für die Frage "unter oder über 18" keine Sicherheit und stellen zudem eine sehr erhebliche, nach der Röntgenverordnung unzulässige Strahlenbelastung dar.

Die zahlreichen Fehler des Artikels von Marcel Leubecher auf Welt.de wären vermeidbar, hätte der Autor vorab mit der IPPNW Kontakt aufgenommen. Der Autor hat unhinterfragt Aussagen des österreichischen Allgemeinarztes Dr. Dr. Rudolf zitiert. Sie sind auf der Homepage der Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik (AGFAD) veröffentlicht. Dr. Dr. Rudolf behauptet, die Empfehlung der Zentralen Ethikkommission (Zeko) bei der Bundesärztekammer sei "Ausdruck einer ideologischen Position zu werten und ohne Belang für eine faktenbezogene Diskussion". Dabei hat die IPPNW ebenso wie auch die AGFAD ihre Argumente der Zeko vorgelegt. Die AGFAD konnte aber nicht überzeugen - weder die Zeko noch die Fachgesellschaften für Kinderheilkunde, für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychosomatik und für Kinderradiologie, auch nicht zahlreiche Deutsche Ärztetage, die sich allesamt gegen die Altersdiagnostik durch Röntgen und Genitaluntersuchungen aussprechen.

Statt den VertreterInnen der deutschen Ärzteschaft jegliche Kompetenz abzusprechen, Entscheidungen zur Altersdiagnostik zu treffen, sollte die AGFAD lieber endlich Beweise vorlegen, dass ihre Verfahren zur sicheren "Feststellung" der Volljährigkeit geeignet sind. Entsprechende Anfragen der IPPNW aus dem Jahr 2014 sind bis heute nicht beantwortet.

"Bei derart sensiblen und ohnehin polarisierenden Themen ist eine verständigungsorientierte Berichterstattung, die Heranziehung verschiedener Quellen sowie ihre Prüfung unerlässlich. Dazu gehört auch die Anhörung kritisierter Personen", erklärt die stellvertretende IPPNW-Vorsitzende Susanne Grabenhorst.

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Quelle:
Stellungnahme vom 9. Januar 2018
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
Körtestr. 10, 10967 Berlin
Telefon: 030/69 80 74-0, Fax: 030/69 38 166
E-Mail: ippnw@ippnw.de
Internet: www.ippnw.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Januar 2018

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