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MELDUNG/876: Nachrichten aus Forschung und Lehre vom 08.12.15 (idw)


Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilungen

→  Auszeichnung für die Erforschung des Phelan-McDermid-Syndroms
→  Bis aufs Atom: Bakterienskelett in der Nahaufnahme


Universität Ulm - 07.12.2015

Phelan-McDermid-Syndrom: 50.000 Euro für die Erforschung von geistiger Behinderung und Autismus

Für die Erforschung des seltenen Phelan-McDermid-Syndroms ist der Ulmer Arzt und Wissenschaftler Dr. Dr. Michael Schmeißer mit dem Care-for-Rare Science Award 2015 ausgezeichnet worden. Die 50.000 Euro Preisgeld sollen in ein Projekt fließen, in dem der 32-Jährige epileptische Anfälle beim Phelan-McDermid-Syndrom untersuchen will. Ansonsten zeichnet sich die tiefgreifende Entwicklungsstörung durch geistige Behinderung und etwa autistische Verhaltensweisen aus. In Ulm wird eine Spezialsprechstunde zum Phelan-McDermid-Syndrom angeboten. Seit 2012 verfügt die Universitätsmedizin zudem über ein Zentrum für Seltene Erkrankungen.

Erst rund 1000 Mal ist das Phelan-McDermid-Syndrom weltweit diagnostiziert worden. Die Dunkelziffer liegt vermutlich höher. Denn nur wenige Ärzte kennen die tiefgreifende Entwicklungsstörung, die sich vor allem durch geistige Behinderung, autistische Verhaltensweisen und Muskelschwäche bemerkbar macht. Für seine Forschung zu dieser seltenen Erkrankung ist der Arzt und Wissenschaftler Dr. Dr. Michael Schmeißer, tätig in der Universitätsklinik für Neurologie und im Institut für Anatomie und Zellbiologie der Universität Ulm, mit dem Care-for-Rare Science Award 2015 ausgezeichnet worden. Die 50.000 Euro Preisgeld sollen in ein translationales Projekt fließen, in dem der Nachwuchsgruppenleiter epileptische Anfälle beim Phelan-McDermid-Syndrom untersuchen will.

Eine Erkrankung gilt als selten, wenn weniger als fünf von 10.000 Menschen betroffen sind. Dieses Kriterium erfüllen mehr als 7000 meist genetisch bedingte Krankheiten, die oft unheilbar sind. Um ihre Erforschung voranzutreiben, zeichnet die Care-for-Rare Foundation unter der Schirmherrschaft von Professor Christoph Klein, Ärztlicher Direktor des Dr. von Haunerschen Kinderspitals in München, hervorragende junge Wissenschaftler aus. In diesem Jahr fiel die Wahl des international besetzten wissenschaftlichen Gremiums auf Michael Schmeißer, der zu seltenen neuropsychiatrischen Erkrankungen wie dem Phelan-McDermid-Syndrom forscht. "Das Syndrom, ausgelöst durch genetische Veränderungen auf Chromosom 22, die insbesondere das SHANK3-Gen betreffen, ist eine seltene Modellerkrankung, aus der wir möglicherweise auch allgemeingültige Schlüsse für das Verständnis und die Therapie von geistiger Behinderung und autistischen Verhaltensweisen ziehen können", sagt der 32-Jährige. Deshalb sei es wichtig, zugrunde liegende Krankheitsmechanismen weiter zu erforschen.

In Ulm wird die deutschlandweit einzigartige Spezialsprechstunde zum Phelan-McDermid-Syndrom mit ausführlicher Beratung und Untersuchungen angeboten. Seit 2012 verfügt die Universitätsmedizin zudem über ein Zentrum für Seltene Erkrankungen.

Der Care-for-Rare Science Award 2015 wurde Mitte November in der Münchner Residenz verliehen. Professor Stefan Endres, Forschungsdekan der Medizinischen Fakultät der LMU München, hielt die Laudatio auf Michael Schmeißer. "Ich freue mich, dass meine Arbeit, in der so viel Enthusiasmus und Herzblut steckt, gewürdigt wird. Das Preisgeld wird bei der Umsetzung des neuen Forschungsprojekts helfen", so der ausgezeichnete Wissenschaftler. Zweiter Preisträger des Abends war der Kabarettist und Autor Christian Springer, der sich mit seinem Verein "Orienthelfer" für syrische Flüchtlinge engagiert. Er erhielt den Bayerischen Stifterpreis der Werner Reichenberger Stiftung, dotiert mit 25.000 Euro. Mit ihrer gemeinsamen Initiative "pro.movere - mehr bewegen" und den beiden Auszeichnungen wollen die Care-for-Rare Foundation sowie die Werner Reichenberger Stiftung zu gesellschaftlichem und wissenschaftlichem Engagement aufrufen.

• Weitere Informationen:
michael.schmeisser@uni-ulm.de
Video-Interview von pro.movere:
http://www.pro-movere.org/?page_id=108

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/de/institution22

Quelle: Universität Ulm, Annika Bingmann, 07.12.2015

Raute

Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie (FMP) - 07.12.2015

Bis aufs Atom: Bakterienskelett in der Nahaufnahme

Bakterien galten lange Zeit als primitive Gebilde, erst durch modernste Bildgebung hat man ihre innere Feinstruktur entdeckt. Dem Berliner Biophysiker Adam Lange ist es nun gelungen, ganz nah heranzuzoomen: Mit Hilfe einer neuen Technik der Strukturaufklärung konnte er den Grundbaustein eines Bakterienskeletts bis ins atomare Detail darstellen. Das von seinem Team untersuchte Bactofilin kommt nur bei Bakterien vor und könnte somit zum Ansatzpunkt für neue Antibiotika werden.

Das erst vor fünf Jahren entdeckte Bactofilin findet man unter anderem im Bakterium Helicobacter pylori, das für einen Großteil der Magengeschwüre verantwortlich ist. Während man früher davon ausging, dass Bakterien über kein stabilisierendes Zytoskelett verfügen, weiß man heute, dass auch die Winzlinge von komplexen Architekturen durchzogen werden, ähnlich wie die größeren und evolutionär gesehen moderneren Zellen von Pflanzen und Tieren. Durch Bactofilin erhält Helicobacter pylori seine typische schraubenförmige Gestalt, dank der sich das Bakterium durch die schützende Schleimschicht der Mageninnenwand bohren kann. Die einzelnen Bactofilin-Moleküle polymerisieren im Inneren der Bakterien spontan zu feinsten Fasern und höher geordneten Strukturen. Dabei spielt ein ungewöhnliches Strukturmotiv eine Rolle, wie das Team von Adam Lange am Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie (FMP) schon in einer Anfang des Jahres veröffentlichten Arbeit herausgefunden hatte. Es handelt sich um die sogenannte Beta-Helix, die man nie zuvor in einem Zytoskelett gefunden hatte. Die Bactofilin-Moleküle ähneln in ihrer Form Spiralnudeln mit sechs Windungen, bei der Polymerisation lagern sie sich weiter zu langen, extrem dünnen Fasern aneinander.

Die Untersuchung solcher Faserproteine ist eine Herausforderung für Strukturbiologen, da sie sich weder in Flüssigkeit lösen noch auskristallisieren lassen, wie es für die gängigen Untersuchungsmethoden notwendig ist. Die beiden Erstautoren der Arbeit, Chaowei Shi und Pascal Fricke, setzten daher die relativ junge Festkörper-NMR ein, und das außerdem in einer neuen, am FMP entstanden Weiterentwicklung, die eine besonders hohe Auflösung ermöglicht. NMR steht für "Nuclear magnetic resonance", auf Deutsch Kernspinresonanz. Diese beruht auf der Eigenschaft mancher Atomkerne, in einem starken äußeren Magnetfeld selbst zu kleinen Magneten zu werden. Anhand ihrer charakteristischen Resonanz mit Radiowellen kann man durch komplizierte Rechenverfahren die Lage der Atome innerhalb von Molekülen ermitteln. Das Besondere an der Festkörper-NMR besteht darin, dass die Probe im Magnetfeld sehr schnell rotiert, um die Bewegungen gelöster Moleküle zu simulieren.

Da man nun die exakte Form der Bactofilin-Bausteine und ihre chemischen Eigenschaften kennt, kann man nach kleinen Molekülen fahnden, die die Polymerisierung der Fasern stören. Auf diese Weise könnte man Wirkstoffe entwickeln, die spezifisch bestimmte Bakterien abtöten. Die Bactofilinfasern durchziehen dabei nicht nur das Innere von Helicobacter - im harmlosen Caulobacter crescentus bilden die Fasern sogar eng verwobene Matten aus. Diese Matten sind das Fundament für einen langen Stiel, mit dem die Bakterien sich an Oberflächen anheften oder Nahrung aufnehmen können.

"Alle Vorgänge in lebenden Organismen werden letztlich von Proteinen angetrieben, und um zu verstehen, wie sie funktionieren, müssen wir ihre Strukturen kennen", sagt Adam Lange. Der Biophysiker gehört zu einem der weltweit führenden Experten auf dem Gebiet der Festkörper-NMR, möchte künftig aber die Kombination verschiedener Techniken vorantreiben. "Auch auf dem Gebiet der Kryoelektronenmikroskopie gab es in den letzten Jahren beeindruckende Durchbrüche, hier wollen wir Kooperationen bilden", sagt Lange. "Will man Proteinstrukturen in all ihren Dimensionen und Details verstehen, darf nicht jeder Experte für sich allein arbeiten, vielmehr müssen wir die modernen machtvollen Techniken in gemeinsame Projekte integrieren."

•Quelle:
Chaowei Shi*, Pascal Fricke*, Lin Lin, Veniamin Chevelkov, Melanie Wegstroth, Karin Giller, Stefan Becker, Martin Thanbichler, and Adam Lange: Atomic-resolution structure of cytoskeletal bactofilin by solid-state NMR. Science Advances, 04 Dec 2015, Vol. 1, no. 11, e1501087, DOI: 10.1126/sciadv.1501087
* gleichberechtigte Erstautoren

Prof. Dr. Adam Lange
Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie (FMP)
alange@fmp-berlin.de

Public Relations
Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie (FMP)
Robert-Rössle-Straße 10
13125 Berlin

Silke Oßwald
Email: osswald@fmp-berlin.de

* Das Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie (FMP) gehört zum Forschungsverbund Berlin e.V. (FVB), einem Zusammenschluss von acht natur-, lebens- und umweltwissenschaftlichen Instituten in Berlin. In ihnen arbeiten mehr als 1.900 Mitarbeiter. Die vielfach ausgezeichneten Einrichtungen sind Mitglieder der Leibniz-Gemeinschaft. Entstanden ist der Forschungsverbund 1992 in einer einzigartigen hist0orischen Situation aus der ehemaligen Akademie der Wissenschaften der DDR.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/de/institution1624

Quelle: Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie (FMP), Silke Oßwald, 07.12.2015

*

Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Dezember 2015

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