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STATISTIK/106: Barmer Arztreport - Jung, gebildet, psychisch leidend (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 7-8/2018

Barmer Arztreport
Jung, gebildet, psychisch leidend

von Martin Geist


Ein Viertel der jungen Erwachsenen hat psychische Leiden. Akademiker besonders betroffen. Situation in Schleswig-Holstein angespannter als im Bundesdurchschnitt. Hilfe auch digital.


Wer jung ist und auf dem Land lebt, erfreut sich nach verbreiteter Auffassung in aller Regel bester Gesundheit. Zahlen aus dem Arztreport 2018 der Barmer legen nahe, dass diese Rechnung nicht mehr aufgeht. Mehr als jeder vierte junge Erwachsene zwischen 18 und 25 Jahren leidet demnach unter einer psychischen Erkrankung. Gegenüber dem Jahr 2005 bedeutet das eine Zunahme um 40 Prozent.

Zugrunde liegen dem aktuellen Arztreport der Barmer Ersatzkasse Daten aus dem Jahr 2016, als allein bei 8,7 Prozent der jungen Schleswig-Holsteiner eine Depression diagnostiziert wurde. Dies entspricht einer Steigerung um 70 Prozent innerhalb von zehn Jahren. Somatoforme Störungen, für die keine organischen Ursachen gefunden werden, stellen mit einer Betroffenenrate von sechs Prozent die zweithäufigste Störung dar. Unterm Strich wurde bei 27,6 Prozent der Jüngeren im Land eine psychische Störung festgestellt, was etwa 70.000 Betroffenen entspricht.

"Schon überraschend" sind diese Zahlen für Barmer-Landesgeschäftsführer Dr. Bernd Hillebrandt, zumal das ländlich geprägte Schleswig-Holstein bei fast allen psychischen Erkrankungen leicht über dem Bundesdurchschnitt liegt. Das gilt auch für den Bereich der Hochschulen (siehe Info unten). Die Folgen dieser Bestandsaufnahme sind aus Sicht von Hillebrandt nicht zu unterschätzen. Vielfach seien mit psychischen Erkrankungen auch körperliche Beschwerden wie Schmerzzustände oder Magen-Darm-Erkrankungen verbunden, betonte er.

Dass psychische Krankheiten bei jüngeren Leuten querbeet auf dem Vormarsch sind, überrascht den psychologischen Psychotherapeuten Heiko Borchers aus Kiel nicht. Er macht das Bildungssystem mit verantwortlich: Einschulung mit sechs Jahren unabhängig von der Reife des Kindes, die aus Sicht von Borchers verfehlte Inklusion, das achtjährige Gymnasium und schließlich das auf Tempo und Leistung gepolte Studium: Vom ersten Schultag bis zum Master steht der Nachwuchs nach Borchers' Diagnose unter extremen Leistungsvorgaben.

Gerade für den studierten Teil der jüngeren Schleswig-Holsteiner hört der Stress zudem nach dem Abschied von Uni oder Fachhochschule keineswegs auf. "Von befristeten Verträgen sind vor allem Akademiker betroffen", betont Borchers. In der damit verbundenen dauernden Unsicherheit sieht er einen wesentlichen Grund dafür, dass an seiner Praxistür viele Hochschulabsolventen, aber kaum jüngere Handwerker anklopfen: "Die werden von ihren Betrieben schnell fest übernommen, gründen eine Familie oder arrangieren sich auf andere Weise fest in und mit ihrem Leben."

Therapeutische oder ärztliche Betreuung gilt zwar vielfach als unerlässlich, Hilfe gibt es aber auch digital. So fördert die Barmer das nicht nur Kassenmitgliedern zugängliche Online-Angebot "StudiCare". Mit Videos, Erklärtexten und Anleitungen für praktische Übungen soll die App etwa zur Überwindung von Prüfungsängsten beitragen oder depressiv veranlagte Studenten zum Aufbau einer Tagesstruktur mit positiven Akzenten anleiten. Ein führender Kopf hinter dem Programm ist Dr. David Daniel Ebert vom Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Er ist überzeugt, dass Online-Hilfe frühzeitig gegen eine dramatische Verschlechterung bei psychischen Problemen wirken kann. Außerdem, hebt er hervor, trage das netzgestützte Instrumentarium maßgeblich dazu bei, dass Betroffene, die von sich aus nie nach Unterstützung fragen würden, überhaupt erst erreicht werden.

Der Barmer-Arztreport birgt wie jede Statistik auch seine Tücken. Aus der dramatisch anmutenden Zunahme der Diagnosen kann nicht geschlussfolgert werden, dass die Zahl der psychischen Erkrankungen bei den jungen Erwachsenen im Land im selben Maß zugenommen hat. Entsprechende Leiden, erläutert Borchers, verlassen immer mehr die Tabu-Ecke, sodass Betroffene eher um Hilfe ersuchen. Außerdem haben sich nach seinen Angaben schlicht die diagnostischen Möglichkeiten verbessert. Wahrscheinlich ist also, dass psychische Erkrankungen tatsächlich ein Stück weit zugenommen haben und zugleich eine ganze Reihe von schon lange Betroffenen jetzt erst überhaupt in Erscheinung getreten ist.


7.000

der ungefähr 36.000 Studierenden im Land leiden an einer psychischen Erkrankung. Mit 18,2 Prozent liegt diese Gruppe über dem bundesweiten Durchschnitt von 17 Prozent.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 7-8/2018 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2018/201807/h18074a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
70. Jahrgang, Juli-August 2018, Seite 25
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. August 2018

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