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ETHIK/697: "Hirntod" und "Organspende" (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 89 - 1. Quartal 2009
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

»Hirntod« und »Organspende«

Von Dr. med. Dr. theol. h. c. Maria Overdick-Gulden


Anders als die Frage, ob es sich bei dem Embryo im Mutterleib um einen Menschen handelt, wird die Frage, ob der Hirntod tatsächlich der Tod des Menschen sei, selbst unter Lebensrechtlern heftig diskutiert. Prinzipiell sind drei Antworten denkbar: Der Hirntod ist der Tod des Menschen (Mehrheitsmeinung). Der Hirntod ist nicht der Tod des Menschen (Minderheitenmeinung), und alternativ: Die Frage ist nicht entscheidbar. Mit dem folgenden Beitrag eröffnet LebensForum eine noch (weiter) zu führende Debatte.


Es sei kurz rekapituliert: Ab 1950 ist die oft lebensrettende Blutspende möglich, nachdem Carl Landsteiner das A-B-0-Blutgruppensystem entdeckt hatte. 1954 erfolgte die erste Nierentransplantation in Boston bei eineiigen Zwillingen, 1962 wurde die erste allogene (genetisch differente) Niere verpflanzt. Durch die Entdeckung des Heparin (1943), der HLA-Antigene, die Entwicklung der Herzlungenmaschine (1953) und die Eindämmung der Abstoßungsreaktionen nach Transplantation durch Bestrahlung und Medikamente (Cortison, 1960 Azathioprim, 1977 Cyclosperin), wurden zunehmend nachhaltigere Erfolge nach Knochenmarkstransplantationen bei Leukämiekranken und Strahlungsgeschädigten sowie bei Nieren- und Lebertransplantationen erzielt. Der südafrikanische Herzchirurg Christiaan Barnard (1922-2001) führte 1967 in Kapstadt mit einem 31-köpfigen Operationsteam die erste sensationelle Herztransplantation am Menschen durch. Die »Spenderin« war wenige Stunden nach ihrem Tod explantiert worden. Der Empfänger starb 18 Tage nach der Transplantation, vermutlich an einer Infektion. 1968 erfolgte in Paris die erste Herztransplantation in Europa. Von 109 Transplantierten überlebten damals 8 Personen, die maximale Überlebensdauer betrug 26 Monate.

Fest steht: Nur lebende funktionstüchtige Organe können lebendige Organe ersetzen. Die Konservierung isolierter Organe ist nur für eine begrenzte Zeit möglich (für Lunge 8-12 h, für Herz 4-6 h und für Niere 24-40 h).

Zur juristischen Absicherung der Transplantationsverfahren sprach 1968 eine Kommission der Harvard Medical School in Boston die Empfehlung aus, als Kriterium für den »Tod des Menschen« künftig den Tod des Gehirns anstelle des bis dato geltenden Herztods anzusehen. Sichere Todeszeichen waren bislang: Muskelrigor, Totenflecken, Autolyse. Unter dem Titel »Eine Definition des irreversiblen Komas« ging das neue Todeskriterium in die wissenschaftliche Literatur ein und wurde - zum »Hirntodkriterium« (»Harvard-Kriterium«) verwandelt - weltweit überraschend schnell - außer in Japan - als Todeskriterium akzeptiert. Im Laufe der nächsten zehn Jahre folgten etwa dreißig Varianten mit ebenso vielen - unterschiedlichen - Regelungen der Organentnahme in den einzelnen Ländern, nicht zuletzt mit der Tendenz, jeweils weniger streng zu sein als frühere. Im klinischen Wörterbuch »Pschyrembel« (258. Auflage) heißt es zu »Tod«: »Verläuft i. a. in drei Phasen: 1. klinischer T.: völliger Kreislaufstillstand (Fehlen von Karotispuls u. Atmung, max. Pupillenerweiterung, zyanotische Verfärbung von Haut und Schleimhäuten) mit potentiell reversibler (durch Reanimation) Aufhebung jeder Großhirnaktivität (s. Wiederbelebungszeit); 2. Hirntod: irreversibler Ausfall sämtl. Hirnfunktionen (auch von Klein-, Mittel- u. Stammhirn); gilt als Kriterium für den T. eines Individuums; 3. biologischer T.: Aufhören aller Organ- und Zellfunktionen.« Daraus folgt: das Sterben ist kein punktuelles Ereignis, sondern ein Prozess, an dessen Ende der Ganztod steht.


Welchen Tod stirbt man?

Bei dem Vergleich der Vielfalt immer neuer Kriterien mit den bislang geltenden und allgemein akzeptierten - nämlich Stillstand des Kreislaufs, der Atmung und der Reflexe -, sind die Unterschiede in den jeweiligen Hirntodkonzepten auffallend. Angesichts dieser Situation fragen sich manche Ärzte, ob nicht der Hippokratische Eid verletzt wird, wenn ungleichartige »Todeszeichen« sowohl medizinisch wie juristisch akzeptiert werden? Anders formuliert: Wann ist der Patient tot? Oder: Gibt es auch »warme Leichen«?


Was heißt »Postmortale Spende«?

Von der freiwilligen, keineswegs unbedenklichen Lebendspende bei paarig angelegten Organen (Nieren) zu differenzieren ist die "postmortale« Spende von Herz, Bauchspeicheldrüse, Leber, Nieren und anderer Organe. 2005 wurden allein in Deutschland 2190 Nieren, 366 Herzen, 844 Lebern, 238 Lungen und 152 Bauchspeicheldrüsen von Hirntoten übertragen. Für jugendliche Diabetiker und Kranke mit dialyseabhängigen Nierenleiden führt die Transplantation überwiegend zu einer wesentlichen Verbesserung der Lebenssituation. Das ist ein eigens zu behandelndes Thema und wird hier nicht dargestellt. Die längsten bekannten Überlebenszeiten liegen zwischen 18 und 20 Jahren. Als Hauptprobleme nach Organtransplantation gelten: die immunobiologischen Reaktionen, die umso schwächer sind, je geringer die genetischen Unterschiede zwischen Spender und Empfänger sind, sowie die Schwächung der Immunabwehr gegen Infektionserreger durch die zur Unterdrückung der Abstoßungsreaktion verabreichten Medikamente. Das dritte Risiko bildet die medikamentenresistente chronische Abstoßungsreaktion, die mit einer Rate von drei bis fünf Prozent je Jahr zu beobachten ist.


Was bedeutet: »Hirntot«?

Bei Hirnblutungen, Schädelhirnverletzung, Herzinfarkten, Lungenembolien und Narkosezwischenfällen kann es zu einer irreversiblen Hirnschädigung mit Totalausfall kommen. Gleichzeitig können die Funktionen lebenswichtiger Organe durch die moderne Medizintechnik über längere Zeit aufrechterhalten werden, auch wenn sich das Netzwerk Gehirn nicht mehr erholt. Das juristisch anerkannte Hirntodkonzept erlaubt in Deutschland bei Vorliegen eines Spenderausweises oder bei Zustimmung der Angehörigen die Organentnahme am künstlich beatmeten irreversibel Komatösen; nach dem Eingriff werden die lebensverlängernden Maßnahmen abgestellt, und der Patient stirbt »biologisch«. Der wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer definierte 1991 den Hirntod als einen »Zustand des irreversiblen Erloschenseins der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms bei einer durch kontrollierte Beatmung künstlich noch aufrechterhaltenen Herzkreislauffunktion. Mit dem Hirntod ist naturwissenschaftlich-medizinisch der Tod des Menschen festgestellt.«

Juristisch gilt die Diagnose »Hirntod« in Deutschland, wenn alle Auflagen der Bundesärztekammer (vom 29.6.1991 / Richtlinien zur Hirntoddiagnostik 1997/1998) erfüllt sind. Danach erfährt das »Nulllinien-EEG« nach den Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für klinische Neurophysiologie mit einer »mindestens dreißig Minuten« dauernden »hirnelektrischen Stille« eine besondere Bewertung. Die Gesamtdiagnostik (diverse Reflexprüfungen, Scintigrafie und Angiografie) und der Zeitpunkt der abgeschlossenen Untersuchung müssen in einem standardisierten Protokoll festgehalten sein. Für Spende und Entnahme gilt juristisch das Transplantationsgesetz vom 1.12.1997.


Ist der Hirntote, was man intuitiv Leiche nennt?

»Der Organismus stirbt, wenn die einzelnen Organe und Organsysteme nicht mehr zur übergeordneten Einheit des Lebewesens im Sinn einer funktionellen Ganzheit integriert werden; denn das bedeutet den Verlust der Selbständigkeit, der Selbsttätigkeit und der Integration des Organismus«, schrieb der Kliniker F. Oduncu 1997. Der Moraltheologe F. Böckle stützte diesen Standpunkt: Der Hirntod sei ein »Realsymbol für das Ende des personalen Lebens«. Im Hirntod sei die leib-seelische Einheit des Menschen zerstört.

Ist das Menschsein des Menschen also an das funktionierende Gehirn zu binden? Berechtigte Nachfragen gegenüber der Identifikation des Hirntods mit dem »Ganztod« ergaben sich aus mehreren Tatsachen: Hirntote zeigen Spontanbewegungen wie beispielsweise das Lazarussyndrom, das vermutlich durch vom Rückenmark ausgehende Reflexe ausgelöst ist; daher werden während der gesamten Entnahmeoperation (Explantation) Muskelrelaxantien verabreicht. Öfter wurden EEG-Restaktivitäten aufgezeichnet, beruhend wohl auf noch intakten Zellverbänden in einzelnen Hirnabschnitten. Auf noch vorhandene Empfindung war anlässlich spontaner nicht anders erklärbarer Blutdruckanstiege nach Schmerzreizen zu schließen. Konsequenz: die Organentnahmen erfolgen unter Narkose. Außerdem zeigt der Hirntote Stoffwechselleistungen. Hirntote Frauen können Schwangerschaften austragen, so 1992 in Erlangen, und so jene 26-jährige Krebskranke in den USA, die 2005 drei Monate nach der Diagnose »Hirntod« ein gesundes Kind zur Welt brachte und danach verstarb. Konnte sich ihr Kind allein durch externe Hormongaben weiterentwickeln? Hat nicht diese Mutter »postmortal« zur Entwicklung ihres Kindes beigetragen? Wie konnte Lebenskraft ohne integrative Steuerung von dieser »Toten« auf das neue Leben in ihr ausströmen? Und liegt dem nicht eine »ganzheitliche Leistung« zugrunde?

Ist »der irreversible Hirntod« vielleicht nur eine (fragwürdige) Prognose und keine durch eindeutige Fakten zu belegende Diagnose? Hat dieser Tod sich zum unhinterfragten »Dogma« entwickelt? Oder ist das Hirntodkonzept vielleicht nur zweckbedingt konstruiert?

Bereits im Jahr 2000 wurde gefragt, ob man mit dem so genannten Hirntoten nicht »begrifflich jenes Potenzial unpersonalen, aber zur Disposition der Lebendigen stehenden 'Menschenmaterials' geschaffen« hat, dessen reale Erzeugung man z. B. in Bezug auf das Klonen in Deutschland noch von sich weist? Im herkömmlichen Verständnis steht das »Schutzgut des Lebens unter dem Regime des 'Entweder-Oder'; die Abstufung des Lebensschutzes ist neu und rechtsdogmatischen Bedenken ausgesetzt«, gibt der Strafrechtler Josef Isensee bezüglich dieser Thematik zu bedenken. In der Intensivmedizin werde der natürliche Sterbeprozess »technisch überformt« und damit in bestimmtem Maß »menschlicher Willkür verfügbar«. So habe das Bild des Todes seine Eindeutigkeit verloren. Die Medizin haftet für die Symptom-Präzision des biologischen Todes. Fällt aber die Definition von Tod und Leben auch in ihr Ressort? Kann eine Naturwissenschaft, Biologie, Physiologie oder Genetik, ja überhaupt jemand, Leben »definieren«? Wir stehen mitten im Leben - aber auch darüber?

Nach Isensee stelle sich der Justiz die Frage, wie sie den »moriturus«, den Versterbenden, »im Interim zwischen Hirntod und klinischem Tod« behandelt. Wird er als Leiche qualifiziert oder noch als menschlicher Organismus? Die Würde des Menschen ist unantastbar! Daraus leitet sich das Lebensrecht ab. Das bedeutet auch: Kein Eingriff ohne Zustimmung der Person! Genügt die derzeitige Regelung zur Rechtssicherheit bei dem erhöhten Organbedarf?

Im Rahmen der Diskussion um Zulässigkeit einer so genannten. »Widerspruchslösung« bei Organentnahmen wurde 2007 juristisch erörtert, warum eine Obduktion ohne ausdrückliche Zustimmung des Toten zulässig sei, dagegen die Organentnahme nicht. Nach der Neukommentierung des Grundgesetzkommentars Mainz/Düring durch Matthias Herdegen (2004), argumentiert Dr. Sophia Wille vom Institut für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht in Mannheim, sei festgestellt, dass das traditionelle »Wortlautargument« in Artikel 1 GG eine Güterabwägung nicht per se ausschließe! Im Gegensatz zur Obduktion, die »lediglich mittelbar dem Schutz anderer Menschen« diene, erfolge »eine Organentnahme zu Transplantationszwecken aufgrund des Interesses eines konkreten Menschen am Überleben und am Leben mit höherer Lebensqualität«, also unmittelbar! Erscheint es da nicht »dem Einzelnen durchaus zumutbar, dass er sein Interesse an der Integrität des eigenen Leichnams zurückstellt«? Ist der Einzelne nicht auch »eine vielfältig durch die Gemeinschaft verpflichtete Person«? Besteht eine Art »Spendenpflicht«?

Moralisch bedeutet »Spende« eine freiwillige Gabe, ein Geschenk der Liebe!

Nach anfänglicher positiver Bewertung solcher Spende als letztem zwischenmenschlichem Liebesdienst wurde in Theologenkreisen weiter um Klarheit gerungen. Im Katechismus der Katholischen Kirche (No 2297) von 1993 wirkt die Aussage eher einschränkend: Die Organspende »entspricht ... dem sittlichen Gesetz und kann sogar verdienstvoll sein, wenn die physischen und psychischen Gefahren und Risiken, die der Spender eingeht, dem Nutzen, der beim Empfänger zu erwarten ist, entsprechen. Die Invalidität oder den Tod eines Menschen direkt herbeizuführen, ist selbst dann sittlich unzulässig, wenn es dazu dient, den Tod anderer Menschen hinauszuzögern.« Hier wird die Methode hinterfragt: Ist Organentnahme (immer) ein »gutes Mittel«?

Deutlich drückte sich Papst Johannes Paul II. am 14. Dez 1989 vor den Teilnehmern der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften betreffend der Bestimmung des Todeszeitpunkts aus: »Es besteht eine wirkliche Wahrscheinlichkeit, dass jenes Leben, dessen Fortsetzung mit der Entnahme eines lebenswichtigen Organs unmöglich gemacht wird, das einer lebendigen Person ist, während doch der dem menschlichen Leben geschuldete Respekt es absolut verbietet, dieses direkt und positiv zu opfern, auch wenn dies zum Vorteil eines anderen Menschen wäre, bei dem man sich für berechtigt hält, ihn derart zu bevorzugen.« In der Enzyklika Evangelium vitae spricht Johannes Paul II. gar von der Versuchung zur Euthanasie im Umfeld der Organtransplantationen (1995; Nr. 64). Allerdings vertraute Papst Johannes Paul fünf Jahre später darauf, dass das exakt angewandte Hirntodkonzept - als das »völlige und endgültige Aussetzen jeder Hirntätigkeit« verstanden - »moralisch vertretbar« sei. Moraltheologisch war zuvor erklärt worden: »Eine unaufhebbare totale Zerstörung jener höheren Hirnstrukturen muss sich (...) wesensmäßig auf die Einheit von Leib und Geist auswirken.«


Wesensmäßig?

Es waren Ärzte, Juristen, Philosophen - alles andere als »Fundamentalisten« oder »Beseelungsexperten« -, welche die Diskussion lebendig hielten. Der Professor für Neurophysiologie Detlev Linke schrieb 1993: »Kann ein Mensch für tot angesehen werden, wenn 97 Prozent seiner Körperzellen noch funktionieren, aber nur die 3 Prozent, die sein Gehirn ausmachen, ausgefallen sind?« »Einige liberal-progressive Denker bezeichnen die Organentnahme beim Hirntoten als Gestattung einer Ausnahme vom Euthanasieverbot.«

Der Neurowissenschaftler Gerhard Roth äußert sich 1995 so: Die »Aussage (...), der Tod eines Menschen sei dann eingetreten, wenn seine gesamten Hirnfunktionen irreversibel ausgefallen sind (...), ist aus physiologischer Sicht nicht haltbar«. Man dürfe hier nicht von einer Leiche sprechen, denn nach naturwissenschaftlich gesicherten Kriterien sei dieser Körper lebendig. »Der Gehirnstamm ist im Hinblick auf die Aufrechterhaltung des Lebens ein Organ wie andere Organe auch und kann wie diese zumindest teilweise ersetzt werden.«

Paul Byrne und andere Mediziner konstatieren: »Brain Death« is not death! Der Hirntod ist ein »irriges Konzept«. Denn »Tod ist der Zustand des Körpers ohne Leben«. Die Hirntodtheorie verlange aber, »den Lebensbegriff so zu konzipieren, dass die Aussagen 'er bewegt sich, schwitzt und atmet' oder 'er ist bewusstlos' nicht länger unter die Prämissen von 'er lebt' gerechnet werden können", bringt es Michael Reuter auf den Punkt. Damit verändere sie den Lebensbegriff, »sie kann z. B. den entscheidenden Übergang von 'sein Herz schlägt' zu 'die Entnahme seines schlagenden Herzens ist Tötung' nicht mitvollziehen.«

Professor Dr. med. Linus Geisler zitiert Georg Lucács, der in solchen Weltanschauungen und Menschenbildern ursächlich »eine transzendentale Obdachlosigkeit des Menschen« zu erkennen glaubt. Das Hirntodkriterium treibe »die Medizin in eine Form maskierter Euthanasie«, pointiert der Philosoph Robert Spämann. Die Kirche habe sich immer von einer rein konsequenzialistischen Moral distanziert und akzentuiert, dass kein noch so guter Zweck ein schlechtes Mittel heilige, so auch die Enzyklika »Veritatis splendor« vom 6.8.1993.

Selbst die »Wahrscheinlichkeit« des eingetretenen Todes sei noch nicht hinreichend, um mit der Explantation und dem nachfolgenden Abbruch lebenserhaltender Behandlung den todbringenden Eingriff zu rechtfertigen, so Manfred Balkenohl. Der Hirntote ist ein Versterbender. Der Jurist Ralph Weber schreibt: »Eine Todesdefinition, die sich nicht an der physischen Existenz orientiert, sondern dem Menschen aufgrund des Fehlens bestimmter kognitiver Fähigkeiten das Recht auf sein Leben abspricht, ist schon mit Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes nicht vereinbar. Das bedeutet, dass der Tod des Menschen nur und erst bei einem Funktionsverlust beider wesentlicher Systeme, des Bewusstseins und des physischen Organismus, eintritt.«

Der Philosoph Hans Jonas sah in der Erklärung des Hirntodkriteriums »das Zusammenwirken all jener Faktoren, die uns willig machen, neuen Errungenschaften der Technik (...) ihren Lauf zu lassen, dem technologischen Diktat die Verdinglichung auch unserer selbst zu beugen, ja sogar unser irrationales Empfinden, tiefsitzende Sensibilitäten dem einmal machbar Gewordenen anzupassen.«

In dieser fortwährenden Diskussion war es eigentlich nicht überraschend, dass anlässlich des 40. Jahrestags der Harvard Erklärung am 2. September 2008 der »Osservatore Romano« einen Artikel der Autorin Lucetta Scaraffia, Mitglied der Nationalen Ethikkomitees Italiens, des Inhalts veröffentlichte: Die Todesdefinition von 1968 bedeute eine radikale Änderung im Menschenbild, da sie Leben und Existenz des Menschen mit seiner Hirntätigkeit gleichsetze, was neue Forschungen nicht mehr stützen könnten. Scaraffia erinnerte an die Argumentation des Australiers Peter Singer: Wenn katholische Theologen diese Position zur Organentnahme im Fall des Hirntods akzeptierten, »so müssten sie auch imstande sein, dasselbe im Fall einer Anencephalie zu akzeptieren«, d. h. einen solchen Fetus oder Säugling zur Tötung freizugeben.

Erfolgt die Organentnahme beim Hirntoten »ex cadavere«, wie Papst Benedikt es am 7. November 2008 unmissverständlich einforderte? »In einem Bereich wie diesem darf es nicht den geringsten Verdacht auf Willkür geben, und wo die Gewissheit noch nicht erreicht sein sollte, muss das Prinzip der Vorsicht den Vorrang haben«, so sein Plädoyer. Forschung und Wissenschaft und das interdisziplinäre Denken müssen so »gefördert werden, dass die öffentliche Meinung mit der durchsichtigen Wahrheit hinsichtlich der anthropologischen, sozialen, ethischen und rechtlichen Implikationen der Transplantationsmedizin konfrontiert wird.« Es muss »jedenfalls immer die Achtung vor dem Leben des Spenders als Hauptkriterium gelten«!

Im Februar 2009 wird in Rom um bioethische Klarheit gerungen. Wir werden berichten.


IM PORTRAIT

Dr. med. Dr. theol. h. c. Maria Overdick-Gulden
Jahrgang 1931, ist Ärztin. Sie war im Fach Innere Medizin als klinische Oberärztin und in freier Praxis tätig. Sie beschäftigt sich eingehend mit der wissenschaftlichen Thematik der Bioethik, hält Vorträge und publiziert, unter anderem im LebensForum, zu verschiedenen Lebensrechtsthemen. Für eines ihrer Bücher erhielt sie die Ehrendoktorwürde der Theologischen Fakultät der Universität Trier. Seit dem Jahr 2000 ist sie Mitglied des Bundesvorstands der Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA) e.V.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Alles auf Null?: Wann die Seele den Körper verlässt, lässt sich nicht messen.


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Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 89, 1. Quartal 2009, S. 26 - 29
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. März 2009