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ETHIK/716: Hirntod-Kontroverse - Zeichen des Lebens (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 90 - 2. Quartal 2009
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

Zeichen des Lebens

Von Rainer Beckmann


Der Hirntod ist der Tod des Menschen. Hiervon sind viele Menschen überzeugt. Eine öffentliche Diskussion zu dieser Frage findet nicht statt. Mit der vergangenen Ausgabe hat LebensForum eine Debatte gestartet. Auf den vielbeachteten Überblicksartikel von Dr. med. Maria Overdick-Gulden folgt nun ein Bericht über eine Tagung in Rom. Für die nächste Ausgabe ist ein Beitrag eines Befürworters des Hirntod-Kriteriums geplant.(*)


Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt wird in Kreisen der katholischen Kirche seit einigen Jahren wieder intensiv die Frage debattiert, ob der sogenannte Hirntod mit dem Tod des Menschen gleichgesetzt werden kann. Mehrfach hat sich die Päpstliche Akademie der Wissenschaften - dominiert von Vertretern medizinischer Fachbereiche - dafür ausgesprochen, den Hirntod als wahren Tod des Menschen anzuerkennen. Dies geschah zuletzt in einer Publikation im Jahr 2006, aus der eine wesentliche Stellungnahme Ende 2008 nochmals veröffentlicht wurde. Als unmittelbar darauf ein Grußwort des Papstes bei einem Transplantationskongress (7. November 2008) in Rom bevorstand, glaubten viele, dass bei dieser Gelegenheit eine klare Äußerung des Papstes der Diskussion um den Hirntod ein Ende bereiten würde.

Doch der Papst äußerte sich anders als erwartet. Er betonte die Notwendigkeit, "daran zu erinnern, dass die einzelnen lebenswichtigen Organe ausschließlich 'ex cadavere' entnommen werden können". Es müsse "auf jeden Fall immer die Achtung vor dem Leben des Spenders als Hauptkriterium gelten, so dass die Organentnahme nur im Falle seines tatsächlichen Todes erlaubt ist". Hätte Papst Benedikt den Hirntod als "tatsächlichen Tod"anerkennen wollen, hätte nichts näher gelegen, als dies vor den versammelten Transplantationsmedizinern auch zum Ausdruck zu bringen. Doch der Papst sagte hierzu kein Wort.

Dies ermutigte zahlreiche Wissenschaftler, darunter auch einige Mitglieder der Päpstlichen Akademie für das Leben, im Februar 2009 in Rom einen Kongress mit dem Titel "Signs of life - Is 'brain death' still life?" zu organisieren. Unterstützt von der italienischen "Associatione Famiglia Domani", der "American Life League", "Human Life International", der deutschen Vereinigung "Kritische Aufklärung Organtransplantation - KAO" und anderen Organisationen trafen sich Experten aus Kanada, den USA, Großbritannien, Brasilien, Italien und Deutschland, um den Argumenten gegen das Hirntod-Konzept Gehör zu verschaffen.

Ihre Ausführungen stießen auf großes Interesse. Unter den etwa 200 Teilnehmern waren auch zwei Kardinäle und weitere kirchliche Würdenträger. Aus unterschiedlichsten Perspektiven wurde deutlich, dass bei genauerer Prüfung das Hirntod-Konzept in sich widersprüchlich und wenig plausibel ist. Das gilt insbesondere dann, wenn man - wie die katholische Kirche - kein materialistisches, sondern ein personales Menschenbild vertritt.

Der amerikanische Neonatologe Paul Byrne demonstrierte an zahlreichen Fällen, dass in der Praxis durchaus falsche Hirntod-Diagnosen vorkommen. Immer wieder kam es in den Vereinigten Staaten vor, dass Angehörige nach der angeblichen Feststellung des Hirntodes eines Patienten um die Zustimmung zur Organentnahme gebeten wurden, diese Patienten aber keineswegs tot waren. In den letzten Jahrzehnten haben sich - so Byrne - zahlreiche unterschiedliche Hirntod-Konzepte entwickelt, so dass man gar nicht mehr von einem einheitlichen Todeskonzept sprechen könne. Ein und derselbe Patient könne in einem Land als tot, in einem anderen jedoch als lebendig angesehen werden. Zwischen einem hirntoten und einem wirklich toten Menschen bestünden gravierende Unterschiede. Das Hirntod-Konzept diene nicht dem Patienten, sondern der Transplantationsmedizin, deren Interessen bei der Todesdefinition jedoch nachrangig sein müssten.

Das Hirntod-Konzept kostet vielen Menschen das Leben.

Dass die Hirntod-Konzeption tatsächlich vielen Menschen das Leben kostet, verdeutlichte Professor Cicero Coimbra aus Brasilien. Die Fixierung des medizinischen Personals auf die Todesdeklaration bei schwerst hirngeschädigten Patienten führe dazu, dass notwendige, und in bestimmten Fällen auch erfolgversprechende Therapiemaßnahmen unterblieben. Oft werde bereits bald nach Einlieferung eines komatösen Patienten der sogenannte "Apnea Test" - Einstellung der künstlichen Beatmung für bis zu zehn Minuten - durchgeführt, um eine baldige Hirntod-Diagnose stellen zu können. Durch diesen Test werde jedoch in zahlreichen Fällen eine endgültige Hirnschädigung erst herbeigeführt. Es gebe Fälle, in denen der Schädelinnendruck zwar groß genug sei, um die elektrische Aktivität der Synapsen zum Erliegen zu bringen, was zur Hirntod-Diagnose führe; tatsächlich sei jedoch der Druck nicht so hoch, dass auch eine Zerstörung des Gehirns als Ganzes erfolge. Durch Abkühlung könne die Überlebenswahrscheinlichkeit drastisch erhöht werden. An intensiven therapeutischen Bemühungen bestehe aber weithin kein Interesse mehr, sobald das EEG eine Null-Linie zeige und man damit einen potentiellen Organspender zur Verfügung habe. Die Fixierung auf die Todesdefinition des Hirntodes sei so extrem, dass entgegenstehende Lebenszeichen für irrelevant erklärt würden. Coimbra zeigte den schriftlichen Vermerk eines Kollegen in einer Patientenakte, nach dem der Patient rechtlich als tot betrachtet werden müsse, sobald er einmal die Hirntod-Kriterien erfüllt habe - unabhängig davon, ob diese Kriterien auch noch zu einem späteren Zeitpunkt erfüllt seien!

Die Hirntod-Kontroverse ist noch lange nicht beendet.

Professor Josef Seifert von der Internationalen Akademie für Philosophie (Liechtenstein) wandte sich aus philosophischen Erwägungen gegen eine Gleichsetzung von Hirntod und Tod des Menschen. Verdächtig sei bereits, dass der für die Einführung des Hirntod-Konzepts maßgebliche Harvard-Report von 1968 überhaupt keine sachlichen Gründe für den Wechsel des Todeskonzepts anführen konnte. Die später nachgeschobene Begründung, das Gehirn sei das entscheidende Integrationsorgan des menschlichen Körpers, ignoriere zahllose körperliche Integrationsvorgänge. Darüber hinaus könne die menschliche Seele auch ohne die Gehirnfunktionen mit dem Körper des Menschen verbunden sein und diesen "beleben". Das Gehirn sei nicht der Sitz der Seele, so dass keineswegs vom Tod des Organs Gehirn unmittelbar auf den Tod des Menschen geschlossen werden könne.

Der jüdische Pädiater Ari Joffe von der Universitäts-Kinderklinik Alberta (Kanada) befasste sich intensiv mit unterschiedlichen Versuchen, das Hirntod-Kriterium zu rechtfertigen. Das erstaunliche daran sei, dass in der Literatur zunehmend die Kritik am Hirntod-Kriterium anerkannt werde. Dies führe jedoch nicht dazu, "hirntote" Patienten als lebend zu respektieren, sondern dazu, andere Todeskriterien zu erfinden oder einfach auf den Tod als Voraussetzung von Organspenden zu verzichten. Diesem "Ausweg" folgend, schlug das "President's Council on Bioethics" (USA) im Dezember 2008 vor, auf die "falsche Annahme, dass das Gehirn der 'Integrator' der Lebensfunktionen" sei, zu verzichten. Stattdessen solle künftig der Tod durch das neurologische Kriterium des irreversiblen Bewusstseinsverlustes und des Verlustes aller Stammhirnfunktionen gekennzeichnet sein. Eine Begründung, weshalb diese Funktionsverluste als äquivalent mit dem Gesamttod des Menschen gelten sollten, werde nicht mehr für notwendig gehalten.

In mehreren Beiträgen wurden die wesentlichen Integrationsleistungen "hirntoter" Patienten dargestellt, die als "Zeichen des Lebens" Beachtung finden müssten: Herzschlag, Sauerstoffanreicherung des Blutes in der Lunge (mit maschineller Unterstützung), Verdauung, Blutwäsche (Nieren), Ausscheiden von Abfallprodukten, Immunabwehr, Rückenmarksreflexe, Körper-, Haar- und Nagelwachstum, Wundheilung etc. Menschen ohne Hirnfunktionen seien dem Tod oft nahe, ihr Zustand könne aber deutlich von dem Zerfallsprozess eines wirklich toten menschlichen Körpers unterschieden werden. Gerade die Fähigkeit hirntoter Patientinnen, Schwangerschaften auszutragen, sowie einzelne Fälle des langfristigen Überlebens "hirntoter" Patienten seien klare Hinweise auf die Fehlerhaftigkeit der Hirntod-Konzeption.

Welche Wirkungen der Kongress auf die innerkatholische und allgemeine Hirntod-Debatte haben wird, ist noch nicht abzusehen. Auf jeden Fall ist die Kontroverse pro und contra Hirntod noch lange nicht beendet. Angesichts der starken Lobby der Transplantationsmedizin und des verständlichen Wunsches nach einem höheren Angebot transplantierbarer Organe, ist nicht mit einem raschen Konsens in dieser Frage zu rechnen.


(*) Der Überblicksartikel von Dr. Maria Overdick-Gulden ist im Schattenblick zu finden unter:
Schattenblick -> Infopool -> Medizin -> Fakten
ETHIK/697: "Hirntod" und "Organspende" (ALfA LebensForum)


IM PORTRAIT

Rainer Beckmann
Jahrgang 1961. Studium der Rechtswissenschaften in Würzburg. Zwischen 1992 und 2000 Staatsanwalt in Nürnberg und Würzburg. Seit 2000 Richter am Amtsgericht Kitzingen. Stellvertretender Vorsitzender der "Juristen-Vereinigung Lebensrecht e.V." und Chefredakteur der "Zeitschrift für Lebensrecht" (ZfL). Sachverständiger der Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestags "Recht und Ethik der modernen Medizin" (2000-2002) und "Ethik und Recht der modernen Medizin" (2003-2005). Rainer Beckmann ist verheiratet und Vater von vier Kindern.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Ist das Gehirn das entscheidende Organ des Menschen? Diese Frage wird kontrovers diskutiert.


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Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 90, 2. Quartal 2009, S. 28 - 29
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
Herausgeber: Aktion Lebensrecht für Alle e.V.
Bundesvorsitzende Dr. med. Claudia Kaminsky (V.i.S.d.P.)
Verlag: Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Juni 2009