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ETHIK/843: Sterbehilfe - Selbstbestimmung à la BGH (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 94 - 2. Quartal 2010
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

Selbstbestimmung à la BGH

Von Rainer Beckmann


Der Wille des Patienten kann nicht maßgeblich und gleichzeitig ignorierbar sein, kritisiert der Würzburger Medizinrechtler Rainer Beckmann das so genannte Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs zur »passiven Sterbehilfe«. In seinem Beitrag setzt sich der Autor auch mit Kritik auseinander, die das Urteil seiner Ansicht nach zu Unrecht erfahren habe.


Das Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs zur »Sterbehilfe« vom 25. Juni 2010 (Az. 2 StR 454/09) hat in der Politik und den Medien viel Zustimmung gefunden. Zahlreiche Kommentatoren sprachen von einer »Stärkung des Selbstbestimmungsrechts«. Kritik wurde nur vereinzelt geäußert, etwa von der Deutschen Bischofskonferenz. In einer ersten vorläufigen Einschätzung hieß es, dass die »grundlegende Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe« weiterhin maßgebend, aber in dem Urteil nicht genügend berücksichtigt worden sei.

Die Unterscheidung von »aktivem Handeln« und »Unterlassen« ist tatsächlich Gegenstand des BGH-Urteils. Dennoch trifft die Kritik der Bischofskonferenz nicht ins Schwarze. Bei oberflächlicher Betrachtung scheint die Aussage des BGH, aktive und passive Verhaltensweisen müssten gleich behandelt werden, dazu beizutragen, das Verbot der »aktiven Sterbehilfe« aufzuweichen. Davon kann aber keine Rede sein. So bedenklich, ja sogar gefährlich das Urteil ist - in diesem Punkt ist Kritik nicht angebracht. Die Unterschiede zwischen den üblicherweise als »aktive« bzw. »passive« Sterbehilfe bezeichneten Fallgestaltungen waren für den vom BGH beurteilten Fall ohne Bedeutung.

Die begriffliche Hauptunterscheidung zwischen so genannter »aktiver« und »passiver« Sterbehilfe - wie sie immer noch verbreitet ist - war aus (straf-)rechtlicher Sicht schon immer falsch. Straftatbestände können grundsätzlich sowohl durch Tun (»aktiv«) als auch durch Unterlassen (»passiv«) erfüllt werden (vgl. § 13 Abs. 1 StGB). Die herrschende Meinung in der Rechtswissenschaft verweigerte sich daher schon lange dieser Unterscheidung und stellte beim so genannten »technischen Behandlungsabbruch« das aktive Tun dem Untätigbleiben »normativ« gleich: das auf Wunsch des Patienten erfolgende Abschalten zum Beispiel eines Beatmungsgerätes könne nicht anders behandelt werden als das Nicht-in-Gang-Setzen desselben. Ob im einen Fall der Arzt aktiv handelt oder im anderen Fall untätig bleibt, ist zwar äußerlich wahrnehmbar, kann aber für die rechtliche Beurteilung keinen Unterschied machen.

Entscheidend ist nicht allein das Ergebnis eines Verhaltens oder die Art seiner Verursachung (durch »aktives« oder »passives« Verhalten), sondern die Frage, welche konkreten Pflichten gegenüber einem Patienten bestehen. Verweigert etwa ein bewusstseinsklarer Patient in eindeutiger Weise die Fortführung einer Behandlungsmaßnahme, darf der Arzt sie nicht »kraft selbstherrlicher Willkür« fortsetzen. Er ist vielmehr verpflichtet, die Behandlung einzustellen - egal ob er dies durch »aktives« Tun oder »passiv« (durch Unterlassen) bewirkt. In der mündlichen Urteilsbegründung hat daher die Vorsitzende Richterin Ruth Rissing-van Saan zu Recht den Begriff der »passiven Sterbehilfe« als »konturlos« bezeichnet und eine Ersetzung durch den Begriff des einvernehmlichen »Behandlungsabbruchs« gefordert. Ein Behandlungsabbruch sei gerechtfertigt, wenn er dem Patientenwillen entspreche.

Diese Erkenntnis ist zwar nicht neu, war aber in dieser Klarheit von einem Strafsenat des BGH bislang nicht ausgesprochen worden. Es wäre wünschenswert, wenn das Urteil des BGH nun dazu beitragen könnte, von den irreführenden Begriffen »aktive« bzw. »passive Sterbehilfe« wegzukommen. Erst dann wird die grundlegende Fragestellung ins Zentrum der Auseinandersetzung gerückt, welche Pflichten gegenüber schwer kranken und sterbenden Menschen bestehen und wie diese am besten erfüllt werden können.

Eine generelle Pflicht ist es, das Leben anderer zu achten, also andere nicht zu töten. Daher ist die Tötung von Menschen (auch von Patienten, unabhängig davon, in welchem Krankheitsstadium sie sich befinden) verboten. Eine weitere Pflicht ist es, das Leben anderer zu erhalten. Gerade christlich motivierte Lebensschützer nehmen diese Pflicht sehr ernst. Man muss aber erkennen, dass die Pflicht zur Lebenserhaltung deutlich weniger bindend ist als das Tötungsverbot. Christen sollten zwar immer darauf hinwirken, dass ihre Mitmenschen auch in Krankheit und Leid ihr Leben als lebenswert empfinden und einen Sinn in ihrer Existenz sehen. Wenn dies aber nicht gelingt und ein Patient zum Beispiel eine (lebenserhaltende) Behandlungsmaßnahme ablehnt, dann besteht keine Verpflichtung, diesen Patienten gegen seinen erklärten Willen zur Fortsetzung der Behandlung zu zwingen. So, wie es keine Zwangsbekehrung geben darf, darf man auch Patienten, die Behandlungsmaßnahmen ablehnen, nicht »zu ihrem Glück« zwingen - weder unmittelbar physisch noch unter Zuhilfenahme des säkularen Rechts. Auch wenn es in bestimmten Fällen aus christlicher Sicht heraus eine Verpflichtung gäbe, gegen den Tod anzukämpfen, sollte diese nicht gegen den Willen des Patienten durchgesetzt werden. Die Grundaussage des BGH, dass der Patient selbst über die Zulässigkeit von Behandlungsmaßnahmen entscheidet, ist daher nicht zu beanstanden.

Die Problematik des Urteils liegt auf einer ganz anderen Ebene. Das Gericht ging davon aus, dass die betroffene Patientin sich eindeutig gegen eine künstliche Ernährung ausgesprochen habe. Daran müssen aber erhebliche Zweifel angemeldet werden. Eine schriftliche Verfügung lag nicht vor. Mündliche Äußerungen sind regelmäßig weniger verlässlich und sollen häufig auch weniger Verbindlichkeit zum Ausdruck bringen als schriftliche Erklärungen. Der Gesetzgeber hat dies bei der Verabschiedung der neuen Bestimmungen zur Patientenverfügung berücksichtigt und die Schriftlichkeit zur Wirksamkeitsvoraussetzung von Patientenverfügungen gemacht (§ 1901 a Abs. 1 S. 1 BGB). Durch diese Formvorschrift soll dem Verfügenden bewusst gemacht werden, dass er eine verbindliche und gegebenenfalls über Leben und Tod entscheidende Erklärung abgibt. Wie ist das im vorliegenden Fall gewesen? War sich die Patientin der Tragweite ihrer Aussage bewusst? Die Patientin soll - so die Feststellungen der Vorinstanz - von ihrer Tochter aufgefordert worden sein, die Äußerung zur Ablehnung künstlicher Ernährung schriftlich niederzulegen. Das hat sie nicht getan. Gibt das nicht Anlass zu überlegen, ob die Patientin ihrer Äußerung wirklich verbindlichen Erklärungswert beimessen wollte? Hatte sie nicht doch Zweifel, eine derartige Handlungsweise als Richtschnur für eine künftige Behandlung festzulegen?

Merkwürdig ist vor allem, dass der von der Tochter behauptete Patientenwille erst sehr spät im weiteren Krankheitsverlauf ins Spiel gebracht wurde. Die Patientin war seit Ende 2002 nicht mehr ansprechbar und auf künstliche Ernährung angewiesen. Damit war von Anfang an eine Situation gegeben, in der die Betroffene gemäß ihrer »mündlichen Patientenverfügung« neben einer Verbringung ins Pflegeheim auch »lebensverlängernde Maßnahmen in Form von künstlicher Ernährung« untersagt hatte. Diese Einstellung wurde aber erst im März 2006 gegenüber der seinerzeitigen Betreuerin vorgebracht - und damit zunächst einmal knapp dreieinhalb Jahre ignoriert. Warum? Weil noch eine Zeit lang Hoffnung auf eine Besserung des Zustandes bestanden hatte? Eine solche Bedingung ist in der »mündlichen Patientenverfügung« nicht enthalten. Oder sind die Äußerungen der Patientin vielleicht doch nicht so eindeutig und verbindlich gewesen, dass man glaubte, jahrelang andere Erwägungen für vorrangig halten zu können? Zeigt nicht die späte Berufung auf den Willen der Patientin, dass es hier im Kern nicht um den Patientenwillen, sondern um eine nachträgliche Beurteilung der Situation ging, um eine Beurteilung des sich lange hinziehenden Siechtums als sinnlos und menschenunwürdig? Das sind allerdings ganz andere Erwägungen als die »Beachtung des Patientenwillens«.

Es stellt sich letztlich die Frage, ob eine nur mündlich übermittelte Patientenäußerung, deren Befolgung zum baldigen Tod führen wird, einfach so und gerade bei fragwürdigen sonstigen Umständen akzeptabel sein kann. Für den konkreten vorliegenden Fall - und erst recht als generelle Leitlinie rechtsstaatlichen Handelns - ist dies abzulehnen. Die Anerkennung der Behauptung, es habe eine auf Behandlungsverzicht bzw. Behandlungsabbruch zielende mündliche Erklärung der Betroffenen gegeben, öffnet dem Missbrauch Tür und Tor. Es ist ja keineswegs abwegig, dass Angehörige auf den Gedanken kommen könnten, lediglich zu behaupten, dass ein Wunsch nach Behandlungsverzicht geäußert worden sei, damit sie sich der persönlichen und möglicherweise auch finanziellen Belastung durch den erkrankten Verwandten entledigen können. Solange eine solche Behauptung in sich schlüssig vorgetragen wird, dürfte es praktisch unmöglich sein, den Wahrheitsgehalt dieser folgenreichen Erklärung zu überprüfen. Wer sich dann damit abfindet, dass eine behauptete Behandlungsverzichtserklärung durch die Krankheitsumstände bekräftigt werde - die in diesem Fall objektiv schwierig und bedauernswert waren -, stützt sein Urteil nicht mehr auf einen verifizierbaren Willen der Betroffenen, sondern auf Vorstellungen über »menschenwürdige Lebensumstände«, wie sie auch vom LG Fulda hilfsweise zur »Beglaubigung« der Angaben der Angehörigen herangezogen worden waren. Dann geht es gerade nicht mehr um »Selbstbestimmung« und »Patientenautonomie«, sondern um eine Be- und Abwertung menschlichen Lebens am Lebensende.

Nun könnte man einwenden, der BGH könne als Revisionsinstanz nur Rechtsfragen klären und müsse die Tatsachen so akzeptieren, wie sie die Vorinstanz festgestellt habe. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. In anderen Fällen hat der BGH auch Mittel und Wege gefunden, das Urteil zurückzuverweisen, wenn ihm die Feststellungen nicht »passten«. Ein angeblicher Patientenwille, der erst jahrelang unbeachtet bleibt und dann plötzlich rechtlich verbindlich sein soll, ist nicht glaubwürdig. Das Gleiche gilt für ein oberstes Gericht, das die Fortsetzung der Behandlung nunmehr für rechtswidrig hält, weil die Patientin diese abgelehnt hat, aber die zuvor über drei Jahre durchgeführte »rechtswidrige« Ernährungsbehandlung nicht zum Anlass nimmt, die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen fortgesetzter Körperverletzung anzuregen.

Erschwerend kommt hinzu, dass nach der nunmehr geltenden Rechtslage ganz offiziell nicht nur eine eindeutige schriftliche Patientenverfügung, sondern auch der so genannte »mutmaßliche Wille« einen Behandlungsabbruch rechtfertigen können soll. In der Praxis wird die Entscheidungsgrundlage häufig noch dürftiger sein als in dem vom BGH entschiedenen Fall, weil es nicht einmal behauptete, sondern tatsächlich gar keine konkreten Erklärungen der Betroffenen gibt. Wie dann der »mutmaßliche Wille« festgestellt werden soll, ist weitgehend ungeklärt. Die im Gesetz genannten Kriterien sind völlig unscharf und die Missbrauchsgefahr ist mit Händen zu greifen. Sind sich der Arzt und der rechtliche Vertreter des Patienten einig, kommt es zu keiner gerichtlichen oder sonstigen Kontrolle mehr (§ 1904 Abs. 4 BGB).

In diesem Kontext muss die BGH-Entscheidung nicht nur als in sich widersprüchlich, sondern auch als gefährlich bezeichnet werden. Das Urteil legt zum einen die Annahme nahe, dass es für eine spätere Geltendmachung unschädlich sei, den (angeblichen) Patientenwillen zunächst jahrelang zu ignorieren. Zum anderen reicht es nach der gesetzlichen Regelung in künftigen Fällen schon aus, »Mutmaßungen« über den Patientenwillen anzustellen. Beides hat mit Selbstbestimmung wenig zu tun und führt in der Praxis zu einem letztlich unkontrollierten Entscheidungsfreiraum über das Leben schwerkranker und sterbender Patienten, die sich selbst nicht mehr äußern können. Verifizierbare Entscheidungen des Patienten müssen beachtet werden, fragwürdige Behauptungen über den Patientenwillen dagegen nicht. Wenn sich die vom BGH eingeschlagene Linie des Umgangs mit Sterbehilfefällen trotzdem fortsetzen sollte, besteht die Gefahr, dass sich unter dem Deckmantel des Schlagworts der Selbstbestimmung und eines bloß behaupteten Patientenwillens ganz andere Kriterien als Maßstab für Behandlungsabbruchentscheidungen etablieren werden.

Die Problematik der »Sterbehilfe« bleibt auch nach dem BGH-Urteil für Politik und Rechtsprechung auf der Tagesordnung. Die unaufhaltsame Zunahme des Anteils alter Menschen an der Gesamtbevölkerung wird den Streit über den richtigen Umgang mit Leben, Leiden, Sterben und Tod noch weiter verschärfen.


IM PORTRAIT

Rainer Beckmann
Jg. 1961, Richter am Amtsgericht Würzburg, Lehrbeauftragter für Medizinrecht an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg, Dozent an der Palliativakademie Würzburg, Stellvertretender Vorsitzender der Juristen-Vereinigung Lebensrecht e. V. (Köln).


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Wessen Wille gilt? Der des komatösen Patienten oder vielleicht doch der Wille seiner Angehörigen?
- Architektonisch haben der Sitz des BGH und der Reichstag, dem eigentlichen Hort der Politik, wenig gemein.


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Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 94, 2. Quartal 2010, S. 15 - 17
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. September 2010