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GESCHICHTE/519: Der Weg der schleswig-holsteinischen Ärzteschaft in das "Dritte Reich" (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 8/2010

Der Weg der schleswig-holsteinischen Ärzteschaft in das "Dritte Reich"

"Bedingungslose Unterordnung" von Ärzten gefordert und erbracht

Von Dr. med. Karl-Werner Ratschko


Das vorübergehende Ende der Selbstbestimmung für zwölf Jahre: Wie die Gleichschaltung der Ärzteschaft in Schleswig-Holstein vollzogen wurde.


Knapp zwei Monate nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten verloren die Verbände und Körperschaften der deutschen Ärzteschaft durch einen nüchternen Verwaltungsakt des NS-Reichsinnenministers ihre Selbstbestimmung. Der Vorsitzendende des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes (NSDÄB), Dr. Gerhard Wagner, wurde am 24. März 1934, nachdem unter erheblichem Druck Einvernehmen(1) mit den Vorständen des Deutschen Ärztevereinsbundes und des Hartmannbundes erreicht worden war, zum Reichskommissar der ärztlichen Spitzenverbände ernannt.(2) Die ärztlichen Vorstände blieben unter seiner Führung zunächst noch im Amt, waren aber als Steigbügelhalter des neuen Kommissars von sachlich und zeitlich begrenztem Einfluss. Schon am nächsten Tag wandte sich der Vorsitzende der Spitzenverbände, Geheimrat Dr. Alfons Stauder, "als Zeichen der Unterwerfung"(3) unter das NS-Regime an die Untergliederungen der Verbände mit dem Ersuchen, dafür Sorge zu tragen, dass aus den Vorständen und Ausschüssen die jüdischen Mitglieder ausscheiden und dass auch "Kollegen, die sich innerlich der Neuordnung nicht anschließen können, ersetzt werden".(4) Wenig später wurden NSDÄB-Beauftragte als regionale Kommissare eingesetzt.

In einer Sitzung der erweiterten Vorstände der beiden Spitzenverbände gemeinsam mit den Gauobleuten des NSDÄB am 2. April 1933 in Leipzig wurde das Vorgehen der Ärzteverbandsführung einstimmig gebilligt. Wagner machte deutlich, dass zu einer "kollegialen Einigung" keine Alternativen bestanden hätten, ansonsten hätte in den einzelnen örtlichen Gruppen alles eingerissen werden und ein neuer Verband begründet werden müssen. Und etwas später führte er weiter aus: "Die Entfernung jüdischer Ärzte aus den führenden Stellungen, aus Vorständen und Ausschüssen hat keine Schwierigkeiten gemacht. Der NSDÄB verlangt überall im Lande den maßgebenden Einfluß, er zieht den legalen Weg vor, ist aber auch zur Anwendung anderer geeigneter Mittel entschlossen, wenn es notwendig sein sollte."(5)

Für Hitler war die Gleichschaltung der Ärzteschaft unentbehrlich. Zitat Hitler: "Ich kann euch alle entbehren: Juristen, Baumeister, Ingenieure und was es sei. [...] Euch aber, Euch nationalsozialistische Ärzte kann ich nicht einen Tag, nicht eine Stunde entbehren. Wenn Ihr nicht seid, wenn Ihr versagt, ist alles umsonst."(6) Dieser Einschätzung ist es vermutlich zu verdanken, dass Hitler nach einer Berichterstattung Wagners am 5. April 1933 Stauder mit weiteren ärztlichen Vorstandsmitgliedern empfing, eine Erneuerung des Gelöbnisses der Ärzteschaft entgegennahm und den Vertretern der Ärzteschaft weitere Aufgaben zuwies.(7) Eine Zusammenarbeit der NS-Führung mit der gewählten Führung der Ärzteschaft konnte jedoch trotz einiger inhaltlicher Übereinstimmungen und weitgehender Unterwerfung wie auch bei den anderen gesellschaftlichen Verbänden in der "nationalen Revolution" kaum lange halten, da die Nationalsozialisten die unangefochtene Führung und bedingungslose Unterordnung einforderten. So verwundert es nicht, dass Stauder am 7. Juni 1933 zusammen mit den übrigen Vorstandsmitgliedern seinen Rücktritt mit der Empfehlung einreichte, Wagner an seiner Stelle zum 1. Vorsitzenden zu wählen, eine Empfehlung, die, wie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr anders zu erwarten war, befolgt wurde.(8) Damit war das Ende der selbstbestimmten deutschen Ärzteschaft auch formal für mehr als zwölf Jahre besiegelt. So sehr aber Zweifel an der inneren Freiwilligkeit der Entscheidungen der Ärzteführung auf Reichsebene im Frühjahr 1933 erlaubt sind, sie trafen durchaus auf Zustimmung in der Mehrheit der deutschen Ärzteschaft, die sich von manchen Versprechungen der Nationalsozialisten - nicht zu Unrecht - Vorteile erhofften.(9) Für die Nationalsozialisten andererseits gab es kein Hindernis mehr, um die für ihre "Blut-und-Boden"-Ideologie mit den die Ärzte betreffenden "Werkzeugen" Rassenhygiene, Zwangssterilisation, Bevölkerungshygiene und Kriegsvorbereitung strategisch wichtige Ärzteschaft "gleichzuschalten" und in ihre Pläne einzubeziehen. Diese reichsweite Entwicklung blieb natürlich auch in Schleswig-Holstein nicht ohne Folgen.


Die Ärztekammer Schleswig-Holstein im Frühjahr 1933

Die "Ärztekammer"-(Versammlung) tagte am 8. März 1933 zum letzten Mal als frei gewähltes Organ der schleswig-holsteinischen Ärztekammer. Allerdings war dies den Teilnehmern zum damaligen Zeitpunkt noch nicht bewusst. Die dramatischen Veränderungen auf Reichsebene standen noch bevor. So verwundert es nicht, dass es eine Versammlung war wie auch in den Jahren davor. Der jährlichen Routine folgend wurden der Jahresbericht des Vorsitzenden Sanitätsrat Dr. Johann Lubinus, der Kassenbericht sowie weitere Berichte des Ehrengerichtes, der Vertragskommission und der Pensionskasse entgegengenommen und die Kammerumlage für 1933 festgesetzt. Unter dem Tagesordnungspunkt "Eingänge" soll aus einer ganzen Reihe von Mitteilungen des Vorsitzenden Lubinus eine besonders hervorgehoben werden: Der Facharzt für Jugend- und Säuglingskrankheiten Dr. Otto Spiegel (Kiel, Lorentzendamm) war in den unter der Führung des Landeshauptmannes gebildeten Ausschuss für Mütter-, Säuglings-, Kleinkind- und Schullandfürsorge berufen worden. Spiegel war der jüngere Bruder des jüdischen Rechtsanwaltes und SPD-Mitgliedes Wilhelm Spiegel, der drei Tage später in der Nacht zum 12. März von "Unbekannten" in seinem Wohnhaus ermordet worden war.(10) Otto Spiegel wurde in der Folge als Chefarzt des Mütter- und Säuglingsheimes und als Leiter der Säuglingsfürsorgestelle von der Stadt Kiel gekündigt und durfte als Jude bis zu seiner Emigration nach Kolumbien im Jahre 1938 nur noch eine kleine Privatpraxis führen.(11)

Drei Themen von berufspolitischer Bedeutung befanden sich auf der Tagesordnung. Die Verabschiedung einer Stellungnahme zu den "Richtlinien für die Organisation der Bekämpfung der Erkrankungen an Krebs in Schleswig-Holstein" sowie die Themen "Eugenik im Dienste des Volkswohls" und "Bekämpfung des Kurpfuschertums".(12)

Auf die Beratungen zum Thema Eugenik soll hier näher eingegangen werden. Sie waren wohl auch der Grund, dass die Direktoren der Universitätskliniken für Nervenkrankheiten, Innere Medizin und Chirurgie, die Professoren Stertz, Schittenhelm und Anschütz, als Gäste an der Sitzung teilnahmen. Ihr Fakultätskollege Robert Schröder bedurfte keiner besonderen Einladung, da er 1932 zu einem der 21 Mitglieder der "Ärztekammer"-Versammlung gewählt worden war. Schon die Wortwahl bei der Formulierung des Themas verdient Aufmerksamkeit, weil nicht nur in diesem Zusammenhang deutlich wird, dass sich die Ärzte der "Ärztekammer" an diesem 8. März 1933 über die Schwere der mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten sich anbahnenden Änderungen offensichtlich noch nicht bewusst geworden waren. Nicht die von den Nationalsozialisten vereinnahmte "Rassenhygiene" als andere denn die "arische Rasse" diskriminierende "Eugenik" sollte Gegenstand der Beratungen sein, sondern die "Eugenik" als Anwendung humangenetischer Erkenntnisse auf die Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik. Die Vorgaben erfolgten noch vor der NS-Zeit durch den preußischen Staatsrat anhand einer im Januar 1932 erarbeiteten Stellungnahme zur Eugenik sowie durch den preußischen Landesgesundheitsbeirat, der am 2. Juli 1932 Richtlinien für eugenische Maßnahmen aufgestellt und den Entwurf eines Sterilisierungsgesetzes vorgelegt hatte. Im Kieler Ärzteverein war am 10. Februar 1933 die Vorlage des Landesgesundheitsbeirates beraten und ein Änderungsvorschlag des Medizinalrats Engelmann angenommen worden, mit dem abweichend vom Entwurf des Landesgesundheitsbeirates die Zwangssterilisation gefordert und ein "Schutzgesetz für die erbgesunden, geordneten Familien [...]" vorgeschlagen wurde.(13)

Die Einführung in das Thema erfolgte durch Lubinus. Er wies auf den Geburtenrückgang in Deutschland hin, der sich "fast allein auf den erbgesunden Teil der Bevölkerung [erstreckt]" und sagte weiter: "Der erbkranke Teil setzt ungehemmt seinem Triebleben folgend Kinder in die Welt, die in erheblicher Zahl geistig und körperlich minderwertig, fortzeugend die Zahl der Erbkranken vermehren. [...] Die schwere Notlage, in der sich unser Vaterland nach dem Weltkrieg befindet, macht die Belastung umso untragbarer, als wir kaum imstande sind, das Millionenheer gesunder Erwerbsloser kümmerlich mit Wohnung, Kleidung und Nahrung zu versorgen". Es folgen Ausführungen von Stertz, der Lubinus inhaltlich beipflichtete, dann besonders auf die materiellen Gesichtspunkte hinweist. Wörtlich: "Im preußischen Staatsrat ist dieser Punkt bereits beraten. Es ist eine ganze Reihe von Möglichkeiten entworfen, wie dieser ungünstigen Entwicklung entgegenzuarbeiten ist. Es kommt eine gewisse Sparsamkeit der Fürsorge in Betracht. [...]" In der sich anschließenden Diskussion ging es im Wesentlichen um die Möglichkeit einer Zwangssterilisation. Robert Schröder - er wird am 1. Mai 1933 der NSDAP beitreten - sprach sich gegen sie aus und sah gute Möglichkeiten, "die Leute zu überreden". Stertz, der 1937 wegen seiner Verheiratung mit einer "nichtarischen" Ehefrau gegen seinen Willen in den vorzeitigen Ruhestand geschickt werden wird(14), stimmte ihm zu, während Stadtmedizinalrat Klose, Leiter des Kieler Gesundheitsamtes, für eine Zwangssterilisation plädierte; Anschütz folgte Klose inhaltlich. Der Antrag des Kieler Ärztevereins wurde angenommen, die "Ärztekammer" folgte dem Ärzteverein in der Forderung nach Verankerung der Zwangssterilisation in dem Entwurf des preußischen Sterilisationsgesetzes.(15) Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses wurde am 14. Juli 1933 erlassen. Es sah die Möglichkeit der Zwangssterilisation bei "angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie, manisch-depressivem Irresein, erblicher Fallsucht, erblichem Veitstanz, erblicher Blindheit und Taubheit, schwerer körperlicher Missbildung und schwerem Alkoholismus"(16) vor.


Die Vorgänge auf Reichsebene wirken sich auf Schleswig-Holstein aus

Die Vorgänge in den ärztlichen Spitzenverbänden auf Reichsebene blieben erwartungsgemäß nicht ohne Folgen für die schleswig-holsteinische Ärzteschaft. Ähnlich wie in Berlin bei den ärztlichen Spitzenverbänden ging die NS-Führung schrittweise vor und versuchte, gegenüber der ärztlichen Basis den Eindruck von Freiwilligkeit bei der Machtübernahme in der Ärzteschaft zu wahren. Dabei stieß sie wegen der vielleicht gelegentlich taktisch begründeten Willfährigkeit der schleswig-holsteinischen Ärztevertreter auf erstaunlich wenig Widerstand. Am Ostermontag, dem 11. April 1933, fand in der Kieler Universitätsaula unter Leitung von Lubinus ein außerordentlicher Ärztetag statt, bei dem alle Verbände der schleswig-holsteinischen Ärzte vertreten waren. Lubinus betonte in seiner Begrüßung, dass am 21. März des Jahres (dem "Tag von Potsdam", einer propagandistisch gelungenen Inszenierung der Nationalsozialisten anlässlich der Einberufung des neuen Reichstages, mit der die Machtergreifung in einen preußisch-deutschen Zusammenhang gesetzt werden sollte), "eine neue große Epoche der deutschen Geschichte angebrochen sei" und forderte die Versammlung auf: "Auch wir schleswig-holsteinischen Ärzte müssen zeigen, dass wir den Geist der Zeit erfasst haben und geschlossen hinter der Regierung stehen." Die Vorsitzenden des Schleswig-Holsteinischen Ärztevereins, Schenke (Flensburg), und des Provinzial-Ärzteverbandes, Boyksen (Pinneberg), schlossen sich an. Eine zwei Tage vorher in einer gemeinsamen Vorstandssitzung der Ärzteverbände in Neumünster vorbereitete Ergebenheitsadresse wurde einstimmig angenommen und als Telegramm an Hitler und Wagner geschickt. Ihr Wortlaut: "In gewaltiger Kundgebung in der Kieler Universitätsaula wurde soeben beschlossen: Die schleswig-holsteinische Ärzteschaft, von jeher eine geschlossene Einheit von entschieden nationaler Einstellung, tritt rückhaltlos hinter die Regierung der nationalen Revolution. Getragen von der mächtigen Welle neu erwachsenden Volksbewusstseins, reicht sie freudig der nationalsozialistischen Führung die Hand und bekundet damit, dass die Ziele der Regierung und ihrer Organe die ihren sind." Neben den Vorsitzenden der traditionellen ärztlichen Verbände, Lubinus, Schenke und Boyksen, ergriff nun auch der Gauobmann des NSDÄB, Köhler, das Wort und setzte den von Boyksen zum Ausdruck gebrachten Erwartungen, dass bei dieser Einstellung der schleswig-holsteinischen Ärzte "ein Staatskommissar hoffentlich nicht in Frage komme, sondern dass die Einigung auf der Basis gefunden werde, dass überall bei den Ärzteorganisationen der Einfluss der neuen Regierung sichergestellt werde", sofort einen Dämpfer auf. Köhler betonte, dass "er wahrscheinlich doch Staatskommissar werden würde", aber, fügte er hinzu, "daß er nichts anderes zu tun habe als seine Pflicht".(17) Ähnlich wie die Spitzenverbände hatten auch die schleswig-holsteinischen Verbände versucht, durch Einlenken das Schlimmste zu verhüten und noch einen Rest Selbstständigkeit zu bewahren. Auch sie erreichten nur das Gegenteil. In Schleswig-Holstein waren damit die Würfel gefallen. Die Ärzteschaft hatte ihre Selbstständigkeit weitgehend verloren. Der Verlust des Restes bis zur vollständigen Beherrschung durch den weitgehend ungeliebten NSDÄB war nur noch eine Frage der Zeit.

Schlag auf Schlag ging es weiter hinein in eine vollständig NS-beherrschte schleswig-holsteinische Ärzteschaft. Am 4. Mai wurde Köhler - wie erwartet - zum vorläufigen Beauftragten des Reichskommissars der ärztlichen Spitzenverbände für die Provinz Schleswig-Holstein ernannt.(18) Er setzte als erstes die beiden Vorsitzenden des Kieler Ärztevereins und der Kieler KV, Georg Schirren und Adolf Hadenfeldt, ab und den Kieler Reinhold Demme an ihrer Stelle ein. Schirren fand zusammen mit Demme, Georg Weisner und Friedrich Völker in dem von Köhler vorläufig eingesetzten geschäftsführenden Vorstand beider Kieler Ärzte-Verbände weitere Verwendung. Zitat: "Von einer Einberufung einer Mitgliederversammlung haben wir Abstand genommen, da wir auch ohne eine Befragung überzeugt sind, dass die Ärzteschaft diese Regelung, mit der wir das Beste unseres Standes wollen, billigt."(19)

So einfach war das damals! Von Widerstand aus der Ärzteschaft ist nirgendwo etwas zu lesen, obwohl er bis zum Frühsommer 1933 noch möglich gewesen wäre, wenn nur alle diejenigen, die nach 1945 frühe Distanz zum NS-Regime behaupteten, mehr Mut zu Widerspruch und weniger Anpassungsbereitschaft gezeigt hätten. Deswegen vermieden nicht nur die Berliner NS-Akteure, sondern auch Köhler in Schleswig-Holstein Maßnahmen, die zu Widerstand oder sogar Aufruhr hätten führen können. Trotzdem ging die Demontage der letzten Vertreter der Selbstverwaltung am 14. Mai 1933 weiter. In Neumünster, dem Wohnort Köhlers, wurde unter seiner Leitung ein "Führerrat" aus etablierten Standespolitikern, nämlich Hadenfeldt und Lubinus (beide Kiel), Reiner (Segeberg), Reimers (Wandsbek), Schenke (Flensburg) und Stubbe (Heide) gebildet. Der Führerrat seinerseits bestellte Georg Weisner (Kiel) zum Führer der Schleswig-Holsteinischen Ärzteschaft.(20) Weisner war bisher nicht in höheren ärztlichen Ämtern vertreten gewesen. Sein Vertreter wurde Hadenfeldt. Der bisherige Vorsitzende des mächtigen ärztlichen Provinzialverbandes, Boyksen (Pinneberg), war bei Köhler in Ungnade gefallen und fand keine weitere Verwendung.(21)

Zum 11. Juni wurde ein schleswig-holsteinischer Ärztetag nach Kiel einberufen. Dieser Ärztetag wurde von dem bisherigen Kieler Ärztevereinsvorsitzenden und Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten, Carl Georg Schirren, ausgestaltet. Die Kapelle des SS-Fliegersturms spielte auf, Grußworte des Polizeipräsidenten, des Vertreters des Kieler Oberbürgermeisters, der Marine und der Universität bildeten den Auftakt. Nach einer Eröffnungsrede des Führers des Provinzialverbandes der Ärzte Schleswig-Holsteins (Hartmannbund), Weisner, sprach Köhler zum "Überblick über die politische Lage"; der Vertreter des Reichsärzteführers, Gerhard Wagner, und der Duzfreund Heinrich Himmlers, Hans Deuschl, sprachen zum Thema "Unsere Ziele"; der Leiter des neu eingerichteten Amtes für Aufklärungspolitik und Rassenpflege (ab 1934 in "Rassenpolitisches Amt" umbenannt), Walter Groß, referierte zu "Bevölkerungspolitik und Rassenpflege". Es folgten die Annahme erneuter Ergebenheitsadressen an Hitler und Wagner sowie Schlussworte Weisners. Der offizielle Teil der Veranstaltung endete, Zitat Kieler Neueste Zeitung: "[...] und machtvoll bricht es in einem dreifachen 'Sieg Heil' aus dem Saale hervor, das in dem Deutschlandlied und dem Horst-Wessel-Lied ausklingt", bevor die Anwesenden dann mit einem "einfachen" Essen im "Haus der Arbeit" mit Gesprächen, preußischen Märschen der Kapelle des SS-Fliegersturms und einer Dampferfahrt zum geselligen Teil übergingen.(22)


Ein groteskes Ehrengerichtsverfahren aus den Jahren 1933/34

Die "neue Zeit" hat in den Köpfen einiger NS-Ärzte wirre Vorstellungen über den Umgang mit Kollegen aufkommen lassen, die der NS-Bewegung nicht so nahe standen oder gestanden hatten, sich nun aber anschließen wollten. Das Beispiel eines besonders skurrilen Vorganges findet sich in der Akte EG 29/33 der Ärztekammer(23) [Namen der unmittelbar Beteiligten, soweit nicht in offizieller Funktion tätig, anonymisiert. Verf.]. Hier wird deutlich, wie ein einzelner NS-Arzt versucht, seine Stellung als SA-Anwärter und SS-Mitglied zur Beseitigung eines missliebigen Konkurrenten zu nutzen. Dieser Fall, der eigentlich nur wegen der Verbohrtheit der Beteiligten zu einem offiziellen Ehrengerichtsverfahren geworden war, lässt erahnen, dass ähnlich gelagerte Fälle nicht immer aktenkundig geworden sind, besonders dann nicht, wenn einer der beiden Kontrahenten als "Nichtarier" praktisch keine Rechte mehr besaß.

Der Sachverhalt: Der prakt. Arzt Pg. Dr. M. Koch aus Quickborn schreibt am 21.8.1933 an den Obmann des NSDÄB, Pg. Dr. Köhler, und beantragt ein ehrengerichtliches Verfahren gegen den prakt. Arzt Pg. Dr. F. Lange aufgrund der Tatsache, dass dieser ihn zweimal einen Lügner genannt habe. Köhler gab den Vorgang recht ratlos an das Ehrengericht weiter. Der Sachverhalt: Koch hatte in der NSDÄB-Zeitschrift "Ziel und Weg" in einem Artikel, der sich mit denjenigen Parteigenossen befasste, die als sog. Konjunkturritter kurz vor Toresschluss in die NS-Bewegung eingetreten waren und dort deswegen als charakterlos bezeichnet worden waren, markante Stellen mit Rotstift unterstrichen und die Zeitschrift an Dr. Lange, den er für einen solchen hielt, zur Kenntnisnahme gesandt. Lange sei am letzten möglichen Termin, am 30. April 1933, in die NSDAP eingetreten [danach wurde der Beitritt neuer Mitglieder in die NSDAP für etwa vier Jahre gesperrt. Verf.], deswegen sei er, der bis zum Schluss Gegner der Bewegung gewesen sei, so Koch, ein "Konjunkturritter" und deswegen habe er ihm "Ziel und Weg" mit den unterstrichenen Stellen geschickt. Daraufhin war Lange wenig später bei Koch in der Sprechstunde erschienen, habe Koch, wie dieser schreibt, in "geradezu unflätiger Art und Weise die heftigsten Vorwürfe" gemacht und zweimal zu ihm "Sie Lump" gesagt. Koch beantragte ein Ehrengerichtsverfahren, das vom Vorsitzenden des Ehrengerichts, Sanitätsrat Dr. John Reimers, Wandsbek, am 30. August 1933 eingeleitet wurde. Lange wurde um eine Stellungnahme gebeten. Er macht geltend, dass er seit April Angriffen seitens einer Reihe von Kollegen ausgesetzt gewesen sei, die ihn wirtschaftlich schädigen wollten, weil er stets von den Ärzten des Ortes die größte Praxis gehabt habe. So habe ein Kollege behauptet, er sei jüdischer Abstammung, dies habe er widerlegen können. Lange habe damals bestritten, dass sich die roten Unterstreichungen auf Koch bezögen, deswegen habe er ihn nicht fordern können. Damit dieser ihn nun fordere, habe er ihn zweimal einen Lumpen genannt. Koch habe die für eine Forderung vorgesehene Frist von drei Tagen ungenutzt verstreichen lassen und erst nach elf Tagen - also zu spät - einen Beauftragten gesandt.

Nachdem zwischenzeitlich Vermittlungsversuche gescheitert waren, wird das Verfahren wegen des Verdachts auf unwürdiges Verhalten des Arztes im April 1934 gegen Lange eröffnet. In der am 25. Juni erfolgten Vernehmung schilderte Lange über den bekannten Sachverhalt hinaus, dass gegen ihn vielfältig agiert worden sei, um ihn aus Quickborn zu vertreiben. Der Grund soll eine Schwangerschaftsunterbrechung gewesen sein, die er begangen haben soll. Koch und zwei weitere (namentlich genannte) Personen wollten ihn dann festnehmen lassen. Dazu sollen sie versucht haben, einen Polizisten hinzuzuziehen. Koch seinerseits erklärte, dass er SS-Sturmführer sei und angenommen habe, in seiner Eigenschaft als SS-Mann beleidigt worden zu sein und dass dies aus seiner Sicht ein Grund sei, Lange in einem Lager zu internieren. Sein Vorgesetzter SS-Sturmbannführer B. sei der gleichen Auffassung gewesen. Deswegen sei er dann mit B. und anderen (darunter dem SS-Haupttruppführer P., dessen Vorgesetzter Koch war) nach Pinneberg gefahren, um den Polizisten Oberleutnant S. zu befragen, ob Lange verhaftet werden könne. S. wurde nicht angetroffen, sodass die Gruppe unverrichteter Dinge wieder nach Hause fahren musste. Die Zweifel an der arischen Abstammung Langes hätten ihn, Koch, zu einer Anfrage bei Köhler veranlasst. Dies alles hätte er von seinem Standpunkt als Nationalsozialist für geboten gehalten. Hier handelt es sich um einen erschreckenden Einblick in die primitive Vorstellungswelt von einzelnen Ärzten im Umbruch zur NS-Zeit, der keinesfalls verallgemeinert werden sollte, aber doch deutlich macht, mit welchen Mitteln versucht wurde, aus der plötzlich gewachsenen Bedeutung als "Alter Kämpfer" Vorteile zu verschaffen. Es überrascht nicht, dass dieser peinliche Vorgang im Hauptverfahren am 31. Oktober 1934 nun doch noch auf dem "Wege der Vermittlung" beigelegt wurde.


Der neue schleswig-holsteinische "Ärzteführer" Dr. Köhler

Nachdem die Machtfrage im Juni 1933 im Grundsatz gelöst war, konnte die weitere Übernahme der schleswig-holsteinischen Ärzteverbände systematisch und ohne allzu große Hast erfolgen. Im August 1933 wurde aus dem Ärztlichen Provinzialverband von Schleswig-Holstein eine Provinzstelle Schleswig-Holstein der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands (KVD). Neuer Amtsleiter wurde, kaum überraschend, NSDÄB-Gauobmann Hans Köhler. Das Büro wurde auf "Beschluss der Führerversammlung" am 28. August 1933 aus Kiel an Köhlers Wohnsitz Neumünster verlegt. In Kiel blieben noch (in der Caprivistraße 24) für kurze Zeit die Ärztekammer sowie die Pensionskasse der Ärztekammer und natürlich die Bezirksstelle Kiel der KVD.(24) Noch fehlte das Training in rücksichtsloser Machtausübung. Die neuen schleswig-holsteinischen Machthaber Köhler und sein Adlatus Hinrichsen, Flensburg, hielten noch eine Rechtfertigung für diesen Vorgang für erforderlich. Dies sollte später - jedenfalls öffentlich - nicht mehr vorkommen.


Mit fadenscheinigen Argumenten gegen "ungeeignete" Angestellte

Der hauptamtliche Geschäftsführer Dr. Hüne - ohnehin von Köhler nicht geliebt, da geradlinig und rechtschaffen - musste dafür herhalten. Grund: Dem Amtsleiter erschien es notwendig, "die neue Kassenärztliche Vereinigung aus den durchaus unklaren Verhältnissen der Caprivistraße herauszunehmen, damit sie vom ersten Tag ihrer Existenz entsprechend den Prinzipien der nationalsozialistischen Bewegung offen und klar geführt werden kann." Der "in Krieg und Frieden bewährte" Hüne war dafür nicht mehr geeignet, da "die neue Zeit neue Männer und neue Entscheidungen [braucht], vor allen Dingen solche Männer, die ohne Belastung weltanschaulicher oder sonstiger Art in sie hineingehen müssen".(25) Im November war eine weitere Rechtfertigung mit weiteren Angriffen gegen Hüne offenbar aufgrund interner Kritik erforderlich, aber inhaltlich genauso fadenscheinig wie schon der erste Versuch, Hüne loszuwerden. Dieser Rechtfertigungsversuch endete mit den hilflosen Worten: "Wir werden uns nicht davon abhalten lassen, entsprechend den Befehlen unseres Führers stets so zu handeln und das zu sagen, was erforderlich ist, ohne Ansehen von Person und Sache. Wir werden uns entsprechend nat.-soz. Führerprinzip nicht auf Dispute etc. einlassen [...]".(26) Köhlers verbleibende Zeit in verantwortlicher NS-Funktion war zu diesem Zeitpunkt auch schon übersehbar geworden. Zunächst sollte er aber noch einen weiteren Höhepunkt in seiner Karriere als ärztlicher Verbandsführer erleben. Auf eine Anfrage des schleswig-holsteinischen NS-Gauleiters und (seit Ende März 1933) Oberpräsidenten Hinrich Lohse wohl nach geeigneten Leuten für die Führung der Ärztekammer (die Anfrage liegt im Wortlaut nicht vor) teilt Köhler mit, dass er Lubinus für geeignet hielte, die Kammer weiter zu führen. Als "Pg-Anwärter" sei dieser "innerlich nahe genug". Sich selbst schlägt er - "damit ich einmal Gelegenheit habe, mich einzuarbeiten" - anstelle des von ihm für ungeeignet gehalten Boyksen - "einer der bedenklichsten Reaktionäre und Störenfriede, die man sich denken kann, er muss unbedingt aus der Kammer raus" - als Stellvertreter vor.(27) Lohse seinerseits schlägt nun dem Berliner Innenministerium den bisher gar nicht in Erscheinung getretenen Arzt Dr. Pallesen aus Heide als Vorsitzenden der Ärztekammer und Köhler als seinen Stellvertreter vor.(28) Berlin wollte es anders und machte mit Wirkung vom 23. Dezember 1933 Köhler zum Vorsitzenden und Pallesen zum Stellvertreter.

Damit war Köhler über die Position des NSDÄB-Gauobmanns für Schleswig-Holstein zum Führer aller ärztlichen Organisationen in Schleswig-Holstein geworden, ein letztlich wohl auch für das NS-Regime unhaltbarer Zustand.

Im Juni 1935 wird der Segeberger Arzt Dr. Hans Rinne Nachfolger Köhlers als schleswig-holsteinischer KV-Vorsitzender, am 13. August 1935 auch als Ärztekammer-Vorsitzender. Die ärztlichen Organisationen verlegen ihren Sitz aus Neumünster nach Bad Segeberg. Die Amtsführung Köhlers bis zur Übergabe der Ämter an Rinne ist die Zeit, in der eine blühende, bei allen Schwächen doch sehr lebendige, recht transparente und pluralistisch strukturierte Ärzte-Selbstverwaltung in eine rigide, autoritäre und rassistische Ärztekammer-Diktatur verwandelt wird. Der Amtszeit Köhlers wird ein weiterer Beitrag in einem späteren Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatt vorbehalten bleiben müssen.


Literatur und Quellenangaben beim Verfasser oder im Internet www.aeksh.de

Dr. med. Karl-Werner Ratschko, MA, Havkamp 23, 23795 Bad Segeberg


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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 8/2010 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2010/201008/h10084a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Die Aula befand sich in dem 1944 total zerstörten Universitätshauptgebäude im Kieler Schlossgarten.
Das Hauptportal des Universitätshauptgebäudes.
(aus: Feyerabend, Kurt, Die Universität Kiel, ihre Anstalten, Institute und Kliniken, Düsseldorf 1929)

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt August 2010
63. Jahrgang, Seite 32 - 37
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-119, -127, Fax: -188
E-Mail: aerzteblatt@aeksh.org
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. September 2010