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VORSORGE/473: Umorientierung in der gesundheitsbezogenen Prävention bei Kindern (DJI)


DJI Bulletin 3/2009, Heft 87
Deutsches Jugendinstitut e.V.

Gesundheit neu denken

Von Gisela Dittrich, Tina Gadow, Hanna Permien, Ekkehard Sander


Veränderte Bedingungen des Aufwachsens und die Zunahme von chronischen Krankheiten erfordern eine Umorientierung in der gesundheitsbezogenen Prävention und Gesundheitsförderung bei Kindern und Jugendlichen - eine Synopse zentraler Begriffe, Modelle und Konzepte.


Gesundheit ist nach dem Verständnis der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein positives Konzept, das neben körperlichem auch psychisches und soziales Wohlbefinden (sowohl subjektiv als auch objektiv) umfasst. Gesundheit wird als ein dynamischer Prozess begriffen, der lebenslang von Menschen in einer aktiv zu gestaltenden Balance zwischen gesunderhaltenden und krankheitsbegünstigenden Faktoren umgesetzt wird. In der sogenannten Ottawa-Charta, ein Dokument, das 1986 im kanadischen Ottawa zum Abschluss der ersten Internationalen Konferenz zur Gesundheitsförderung von der WHO veröffentlicht wurde, heißt es dazu: »Gesundheit wird von Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt: dort, wo sie spielen, lernen, arbeiten und lieben. Gesundheit entsteht dadurch, dass man sich um sich selbst und für andere sorgt, dass man in die Lage versetzt ist, selber Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben sowie dadurch, dass die Gesellschaft, in der man lebt, Bedingungen herstellt, die all ihren Bürgern Gesundheit ermöglichen« (W HO 1986).

Gesundheitsförderung ist → salutogenetisch orientiert und bezieht sich auf die Förderung von Ressourcen zur Erhaltung beziehungsweise Wiederherstellung der Gesundheit. Sie wird in der Ottawa-Charta der WHO folgendermaßen definiert: »Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl Einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. verändern können.« Da dazu die entsprechenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen notwendig sind, liegt - das betont die Ottawa-Charta ausdrücklich - die Verantwortung für Gesundheitsförderung nicht nur beim Gesundheitssektor, sondern bei allen Politikbereichen.

Gesundheitsbezogene Prävention ist → pathogenetisch orientiert und konzentriert sich auf die Vermeidung beziehungsweise Minderung von Risiken. Mit gesundheitsbezogener Prävention werden alle Formen von Praxishandeln bezeichnet, die auf die Vermeidung oder frühzeitige Linderung gesundheitlicher Belastungen sowie Krankheiten abzielen. Entscheidend dabei ist, dass es einen mindestens mittelbaren, begründbaren oder nachvollziehbaren Zusammenhang zwischen dem praktischen Handeln und dem anvisierten Ziel der Vermeidung gesundheitlicher Belastungen gibt.

Salutogenese ist ein Konzept des israelischen Gesundheitsforschers Aaron Antonovsky. Sein salutogenetisches Denkmodell, das sich auf die Entstehung und Erhaltung von Gesundheit konzentriert, formuliert eine Alternative zur Pathogenese, also zur Entstehung von Krankheiten. Gesundheit und Krankheit bilden in diesem Konzept ein Kontinuum und keine Polarität. Gefragt wird nicht, was krank macht, sondern wie Menschen es schaffen, gesund zu bleiben - trotz unterschiedlicher gesundheitlicher Belastungen. Von besonderer gesundheitsförderlicher Bedeutung sind dabei die Widerstandsressourcen oder auch → Schutzfaktoren einer Person, sowie der → Kohärenzsinn.

Der Kohärenzsinn stellt das Herzstück des salutogenetischen Modells dar. Er umschreibt die Haltung, dass es einen Sinn im Leben gibt und dass das Leben nicht einem unbeeinflussbaren Schicksal unterworfen ist. Der Kohärenzsinn bezieht sich auf drei wesentliche Komponenten:

1. Verstehbarkeit: Meine Welt erscheint mir verständlich, stimmig, geordnet; auch Probleme und Belastungen, die ich erlebe, kann ich in einem größeren Zusammenhang sehen.

2. Handhabbarkeit: Das Leben stellt mir Aufgaben, die ich lösen kann. Ich verfüge über Ressourcen, die ich zur Meisterung meines Lebens und meiner aktuellen Probleme mobilisieren kann.

3. Bedeutsamkeit: Für meine Lebensführung ist jede Anstrengung sinnvoll. Es gibt Ziele und Projekte, für die es sich zu engagieren lohnt.

Mit Pathogenese ist die Beschreibung der Entstehung und Entwicklung einer Krankheit mit allen relevanten Faktoren gemeint. Dabei wird zwischen der formalen und kausalen Pathogenese unterschieden. Die kausale Pathogenese bezieht sich auf die Veranlagung des Individuums zu erkranken, während die formale die funktionalen und strukturellen Krankheitsprozesse im Individuum meint.

Die Verbindung von Salutogenese und Pathogenese schlagen die Gesundheitswissenschaften vor. Mit den Konzepten zur Prävention und Gesundheitsförderung sollen sowohl Zugänge zur Risikobearbeitung (Pathogenese) als auch zur Förderung von Handlungsressourcen (Salutogenese) geschaffen werden. Die Theorien der Sozialwissenschaften enthalten daran anschlussfähige Konzepte: vor allem den → Capability-Ansatz, die Konzepte zur Handlungsbefähigung und Selbstwirksamkeit sowie die Überlegungen zur positiven Jugendentwicklung (Lerner/Benson 2004). Letztere befassen sich - im Gegensatz zu der in der Forschung üblichen Frage nach den Ursachen von Krankheiten und Störungen - mit der Frage, was denn eine positive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ausmacht, welche Ressourcen sie dafür benötigen und wie man diese allen Heranwachsenden zur Verfügung stellen kann.

Die neue Morbidität kennzeichnet den Wandel des Krankheitsspektrums im Kindes- und Jugendalter seit Ende der 1960er Jahre von akuten zu chronischen Erkrankungen (Allergien, Übergewicht etc.) sowie von primär somatisch bedingten Erkrankungen (wie Masern) zu psychosomatischen, psychischen, funktionellen und verhaltensbezogenen Störungen (sprachliche und motorische Entwicklungsbeeinträchtigungen, Depression, Aufmerksamkeits- und Essstörungen etc.). Die Ergebnisse des bundesweiten Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS) des Robert Koch-Instituts untermauern diesen Wandel durch empirische Daten. Da Erkrankungen aus dem Spektrum der neuen Morbidität wesentlich durch Faktoren des Lebensstils und der Lebensverhältnisse (Qualität von Nahrung, ausreichender Wohnraum, Vorhandensein sozialer Netzwerke etc.) mitbestimmt werden, ist zugleich festzustellen, dass die Erkrankungswahrscheinlichkeit von Heranwachsenden aus Familien mit einem niedrigen sozioökonomischen Status höher ist als für Kinder und Jugendliche aus mittleren und hohen sozialen Statusgruppen (sozialer Gradient).

Schutzfaktoren können als grundlegende Ressource für eine gelingende Entwicklung von Kindern und Jugendlichen betrachtet werden. Zu den bedeutenden Schutzfaktoren gehören unter anderem ein guter allgemeiner Gesundheitszustand, Talente, Hobbies, Intelligenz, Selbsthilfefertigkeiten, familialer Zusammenhalt und soziale Unterstützung durch Freunde oder Verwandte. Den Schutzfaktoren kommt zum einen die bedeutsame Rolle von generell förderlichen Bedingungen in unterschiedlichen Entwicklungsdimensionen zu. Zum anderen können sie mögliche ungünstige Folgen von bestehenden Entwicklungsrisiken im Sinne einer Pufferwirkung mildern. Liegt ein starker Schutzfaktor (zum Beispiel eine sichere Bindung an eine Bezugsperson) vor, kann auch ein starker Risikoeffekt (etwa die psychische Erkrankung eines Elternteils) gemindert oder sogar völlig neutralisiert werden. Fehlen dagegen Schutzfaktoren, kommt der Risikoeffekt mit seinen kurz- und langfristigen Auswirkungen voll zum Tragen. Umgekehrt kann die positive Bewältigung von (risikoreichen) Entwicklungsübergängen und den damit verbundenen neuen Anforderungen (etwa eine gute soziale Integration in die neue Klassengemeinschaft) auch langfristig einen positiven Entwicklungsverlauf begünstigen.

Risikofaktoren steigern die Wahrscheinlichkeit eines problematischen Entwicklungsverlaufs, so etwa der Alkohol- und Drogenkonsum der Mutter in der Schwangerschaft, die psychische Erkrankung eines Elternteils, ein niedriger sozioökonomischer Familienstatus und fehlende Freundschaftsbeziehungen. Voraussetzung dafür ist aber immer eine Anfälligkeit oder Verletzlichkeit (Vulnerabilität) auf Seiten des Kindes. So sind beispielsweise Kinder mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) stärker als unbeeinträchtigte Kinder in Gefahr, im Lebensverlauf delinquentes Verhalten oder eine Suchtkrankheit zu entwickeln. Dies gilt besonders, wenn weitere Risikofaktoren (wie ein ungünstiges Erziehungsverhalten der Eltern) hinzukommen und es an → Schutzfaktoren fehlt.

Resilienz (Widerstandsfähigkeit) kennzeichnet die Fähigkeit von Menschen, trotz Konfrontation mit biologischen, psychischen und sozialen Entwicklungsrisiken psychisch relativ unbeschadet mit deren Folgen umzugehen und spezifische Bewältigungskompetenzen zu entwickeln. Es weist damit einen hohen Grad an Übereinstimmung mit Aaron Antonovskys Konzept der Salutogenese auf. Resilienz ist ein lebenslanger Prozess: Sie zeigt sich in einer kontinuierlich erfolgreichen Bewältigung oder Abmilderung widriger Umstände. Diese Fähigkeit kann sich im Entwicklungsverlauf jedoch verändern. Denn was bei Kindern die Entwicklung von Resilienz unterstützt (etwa der familiale Zusammenhalt), kann beispielsweise im Jugendalter entwicklungshemmend wirken, wenn es um Ablöseprozesse von der Familie geht. Resilienz fördernde Faktoren weisen in empirischen Studien einen hohen Übereinstimmungsgrad mit → Schutzfaktoren auf. Die Berücksichtigung dieser Faktoren ist besonders vor dem Hintergrund der Prävention der → neuen Morbidität bedeutsam, da dadurch zum einen modifizierbare Risikolagen identifiziert und entschärft werden können. Zum anderen kann bei kaum veränderbaren Risikolagen die Entwicklung oder Stärkung protektiver Faktoren zur Abwehr von Störungen oder Krankheiten oder zumindest zu einer besseren psychosozialen Bewältigung führen.

Unter Verwirklichungschancen (capabilities) versteht der indische Ökonom und Nobelpreisträger Amartya Sen die Möglichkeit von Menschen, »bestimmte Dinge zu tun und über die Freiheit zu verfügen, ein von ihnen mit Gründen für erstrebenswert gehaltenes Lebens zu führen«. Entscheidend dafür sei das individuelle Handeln, andererseits sei die individuelle Handlungsfreiheit zwangsläufig bestimmt und beschränkt durch die » sozialen, politischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten, über die wir verfügen. ... Es ist sehr wichtig, gleichzeitig die zentrale Bedeutung der individuellen Freiheit und die Macht gesellschaftlicher Einflüsse auf Ausmaß und Reichweite der individuellen Freiheit zu erkennen« (Sen 2000). Die individuellen Verwirklichungschancen hängen nicht nur vom Realeinkommen ab, sondern auch von persönlichen Eigenheiten, von Umweltbedingungen, vom sozialen Klima sowie von den relativen Erfolgsaussichten für die eigenen Pläne.

Als Befähigungsgerechtigkeit wird das zentrale Ziel für alles politische und professionelle Handeln bezeichnet, allen Heranwachsenden die Chance zu geben, die notwendigen Entwicklungsressourcen für eine selbstbestimmte Lebenspraxis zu erwerben. Sollte diese Möglichkeit durch Geschlechtszugehörigkeit, Migrationshintergrund, Behinderung oder den sozio-ökonomischen Status eingeschränkt sein, gilt es, betroffenen Mädchen und Jungen möglichst früh förderliche Lebensbedingungen sowie formelle und informelle Bildungs- und Inklusionsmöglichkeiten zu eröffnen, um sozialer Ungleichheit entgegenzuwirken und damit gesundheitliche Ressourcen zu stärken.

In der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 haben im Sinne des Paragraphen 24 alle Kinder ein Recht »auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit sowie auf Inanspruchnahme von Einrichtungen zur Behandlung von Krankheiten und zur Wiederherstellung der Gesundheit«. Insofern sind alle Maßnahmen an einer → Inklusionsperspektive auszurichten, die keine Aussonderung akzeptiert. Notwendig ist vor allem, die Inklusion von Kindern, die in Armut und/oder mit Behinderungen aufwachsen, und von Heranwachsenden mit Migrationshintergrund.

Die UN-Konvention der Rechte von Menschen mit Behinderung, die die Bundesregierung im Januar 2009 ratifiziert hat, fordert im Wesentlichen von den Staaten:

die Sicherung der Menschenrechte und Grundfreiheiten der Menschen mit Behinderungen sowie ihre uneingeschränkte gesellschaftliche Teilhabe;
die Sicherung der möglichen individuellen Autonomie und Unabhängigkeit für Menschen mit Behinderungen einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen;
das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen und es nicht hinter Institutionen-Interessen zurücktreten zu lassen;
dass Kinder und Jugendliche nicht aufgrund ihrer Behinderung vom Besuch von Regelschulen (sowohl Grundschulen als auch weiterführenden Schulen) ausgeschlossen werden;
die Einbeziehung der Geschlechterperspektive vor dem Hintergrund der Feststellung einer Mehrfachdiskriminierung von Mädchen und Frauen mit Behinderung;
dass Kinder und Jugendliche mit Behinderung gleichberechtigt mit anderen Kindern Zugang zur physischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Umwelt, zu Gesundheit und Bildung sowie zu Information und Kommunikation haben;
die Förderung von Schulungen zur Schärfung des Bewusstseins für Menschen mit Behinderung und deren Rechte.

Inklusion (lateinisch inclusio, »der Einschluss«) bedeutet Einbeziehung, Einschluss, Eingeschlossenheit, Dazugehörigkeit und tritt unter anderem als Fachbegriff in der Pädagogik und dort als soziale Inklusion und schulische Inklusion auf. Die soziale Inklusion beschreibt vor allem die uneingeschränkte Teilhabe an der Gesellschaft und fordert sozialethisch die »Barrierefreiheit« für Menschen mit Behinderung, aber auch mit sozialen oder durch Migration bedingten Benachteiligungen und Einschränkungen. Die Zugänge zu Hilfen, Bildung, sozialen Netzen, Wohnmöglichkeiten, Kultur und Rechtssystem sollen also so gestaltet werden, dass sie auch für Menschen mit Beeinträchtigungen und ihre Familien mit zumutbarem Aufwand erreichbar sind. Alle genannten Lebensbereiche sollen aktiv im Sinne eines eigenen Lebensstils gestaltet werden können. Barrierefreiheit bezieht sich aber nicht allein auf die räumliche Zugänglichkeit, sondern auch auf die Haltung derer, die Barrierefreiheit im Alltag zu gestalten haben. Gefordert wird eine Gesellschaft, die alle Menschen in ihren Unterschieden respektiert und als gleichberechtigt behandelt. Das bedeutet, dass Menschen mit Beeinträchtigungen nicht dadurch zusätzlich behindert werden sollen, dass sie unter Androhung von sozialem Ausschluss an für sie nicht erreichbaren Normen gemessen werden. In der Bildungsdebatte wird zunehmend die schulische Inklusion, also der barrierefreie Zugang zu allen schulischen Regelangeboten, gefordert und das System der Sonderschulen in Frage gestellt. Befürworter der schulischen Inklusion betonen, dass die Heterogenität der Schülerinnen und Schüler die Normalität darstelle. Sie plädieren für die Schaffung einer Schule, die die Bildungs- und Erziehungsbedürfnisse aller Lernenden befriedigen kann.

Integration und die Verwendung dieses Begriffs in der Praxis bilden die Debatte ab, die der Inklusion vorausgegangen ist. Vor dem Hintergrund der → UN-Konvention der Rechte von Menschen mit Behinderung werden inzwischen Inhalte und Ziele integrativer Prozesse problematisiert. Denn dabei blieben bisher meist die Strukturen und Normvorstellungen unangetastet, die sich an Menschen ohne Behinderungen und Beeinträchtigungen orientieren. So wurden innerhalb von Schulen, Kindertageseinrichtungen oder Freizeitangeboten gesonderte Möglichkeiten für die Hereinnahme von einzelnen (jungen) Menschen mit Behinderungen ermöglicht, ohne die Strukturen der Einrichtungen und Angebote zu verändern, so dass die Aufnahme aller zum Regelfall wird. Bei integrativen Angeboten behält sich die Institution vor, über die Möglichkeit einer Aufnahme zu entscheiden und kann Aufnahmen aus strukturellen und finanziellen Gründen auch ablehnen.

Disability Mainstreaming lässt sich nicht wörtlich in die deutsche Sprache übersetzen, meint aber die »Gleichstellung von Menschen mit Behinderung als Querschnittsaufgabe«. In der englischen Sprache verweist der Begriff der Disability auf den Zusammenhang, dass Behinderung nicht allein eine körperliche Einschränkung von Menschen bezeichnet, sondern dass auch sozial und strukturell bedingte Behinderungen in den Lebensräumen von Menschen geschaffen werden. Der Begriff hat sich in Analogie zum Begriff Gender Mainstreaming entwickelt und bezeichnet die Absicht, die Gleichstellung all derer, die von Behinderungen und anderen Teilhabebeeinträchtigungen wie zum Beispiel Armut oder Sprachproblemen betroffen sind, auf allen gesellschaftlichen Ebenen durchzusetzen, also Sprach-, Status- und Segregationsbarrieren abzubauen.

Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (International Classification of Functioning, Disability and Health, ICF) ist ein relativ neues Klassifikationsschema der WHO, mit der ein festgestellter Zustand von Gesundheit eines Menschen vor dem Hintergrund möglicher Barrieren oder Förderfaktoren in seinem Umfeld standardisiert dokumentiert wird. Zweck der ICF ist es, eine gemeinsame Sprache für die Beschreibung funktionaler Gesundheit zu geben und die Kommunikation zwischen Fachleuten im Gesundheits- und Sozialwesen sowie mit Menschen mit Beeinträchtigungen zu verbessern. In der ICF ist Behinderung ein Oberbegriff für Schädigungen oder Beeinträchtigungen auf den Ebenen der Körperstrukturen (Organe, Gliedmaßen etc.) und Körperfunktionen (Sprache, Wahrnehmung, Stoffwechsel etc.), der Aktivitäten (Lernen, Kommunizieren etc.) und der Teilhabe (Erwerbsleben, soziale Netzwerke, Bildung etc.). Diese drei Bereiche beeinflussen sich wechselseitig und stehen in Abhängigkeit zu Kontextfaktoren. Der gesamte Lebenshintergrund eines Menschen, seine Umwelt, seine sozialen Beziehungen und persönlichen Voraussetzungen (Alter, Lebensstil, Geschlecht etc.) wirken hinderlich oder förderlich bei der Umsetzung seines Lebensplans. Behinderung ist nach diesem biopsychosozialen Modell das Ergebnis negativer Wechselwirkungen zwischen einer Person, ihren Gesundheitspotenzialen und den jeweiligen Umweltfaktoren. Behinderung entsteht folglich immer dann, wenn eine unzureichende Passung zwischen den Fähigkeiten einer Person, den an sie gerichteten Erwartungen und Umweltbedingungen besteht.

Da die ICF für Heranwachsende eine mangelnde Passung aufweist, wurde eine ICF-Version für Kinder und Jugendliche (ICF-CY) entwickelt mit dem Ziel, Funktionsfähigkeit und Entwicklung zusammenzubringen, ungewöhnliche Entwicklungswege zu analysieren, Lebenswelten als Umweltfaktoren in die Aufmerksamkeit zu rücken und sich auf Partizipation mit nachhaltiger Wirkung auszurichten. An der deutschsprachigen Version der ICF-CY wird derzeit noch gearbeitet.

(New) Public Health lässt sich als Theorie und Praxis der Verhinderung von Krankheiten, der Lebensverlängerung und der Förderung von Gesundheit mit Hilfe von öffentlich getragenen Bemühungen umschreiben. Public Health ist somit sowohl ein »interventionsorientiertes Handlungsfeld zur Erreichung von Gesundheitszielen« (von Lengerke 2007) in der Bevölkerung als auch eine wissenschaftliche Disziplin (Gesundheitswissenschaften). Im Zuge der Weiterentwicklung des klassischen Public-Health-Ansatzes zu New Public Health kam es zu einer stärkeren Beachtung der gesellschaftlichen Einflussfaktoren auf Gesundheit sowie der sozial bedingten ungleichen Gesundheitschancen. Der Ansatz von New Public Health stellt die konsequente Umsetzung der Prinzipien der → Gesundheitsförderung und der → Salutogenese dar. Im Sinne von New Public Health entwickelte Strategien sollen damit nicht nur präventiv wirken, das heißt Erkrankungen und Störungen verhindern helfen, sondern sich vielmehr auf die Ausbildung und Stärkung der Gesundheitskompetenz konzentrieren. Dabei werden die Stärkung von physischen und psychosozialen Gesundheitsressourcen, die Verminderung von Risikofaktoren, die Unterstützung zur Bewältigung von Beschwerden sowie die Verbesserung des Gesundheitsverständnisses in zielgruppengerechten Maßnahmen angestrebt.

Große Lösung meint die Neukonzeption der Zuständigkeitsordnung für die Förderung junger Menschen mit Behinderung, um den Zuständigkeitsdschungel in Hinblick auf die Schaffung von Teilhabe zu entwirren. Die Stellungnahme der Bundesregierung zum 13. Kinder- und Jugendbericht plädiert für sie. Darin wird weiter vorgeschlagen, die Leistungen zur Teilhabe und zu der in den Gesetzen verankerten Förderung in der Kinder- und Jugendhilfe zusammenzuführen. Damit wäre das örtliche Jugendamt als die sozialpädagogische Fachbehörde mit pädagogischer Kompetenz bei der Hilfeplanung für alle Heranwachsenden mit Behinderung zuständig. Die Diskussion einer solchen »Großen Lösung« findet von fachlicher Seite seit der Reform des Kinder- und Jugendhilferechts Mitte der 1990er Jahre statt. Damals wurde festgeschrieben, dass für seelisch Behinderte (§ 35a SGB VIII) die Jugendhilfe zuständig ist und für geistig wie körperlich Behinderte die Sozialhilfe (SGB IX). Die Aufhebung dieser Trennung wurde auch in den 10. und 11. Kinder- und Jugendberichten gefordert. Behindertenverbände und Wohlfahrtsverbände wie Teile der Elternschaft stehen einer solchen Reform jedoch skeptisch gegenüber, da sie durch diese bestehende Rechte gefährdet sehen. Von dorther stellt eine solche »Große Lösung« eine große Herausforderung dar, die ernst genommen Synergieeffekte in der Zuständigkeitskonzentration entwickeln könnte. Jörg Fegert, anerkannter Experte auf diesem Feld, stellte bereits 1999 fest: »Eine Integration aller Kinder mit Behinderungen unter einem Dach wäre sinnvoll und wegen der nicht lösbaren Abgrenzungsproblematik bei Mehrfachbehinderungen oder im Bereich der Frühförderung sogar absolut wünschenswert. Da das Jugendamt die Behörde ist, die sich für Hilfen für Kinder und Jugendliche und ihre Erziehungspersonen engagiert, sollte generell hier die Zuständigkeit liegen. In der Jugendhilfe muss sich dabei ein stärkeres Selbstbewusstsein für die eigene Fachlichkeit entwickeln, damit die Anforderungen des interdisziplinären Handelns akzeptiert werden könn en. Allerdings werden ohne finanzielle Ausgleichsmaßnahmen die Kommunen keinerlei Interesse haben, noch eine weitere teure finanzielle Verpflichtung zu übernehmen. Insofern gilt es bei künftigen Regelungen Ausgleiche zu schaffen und vor allem Systembrüche auf der Kostenebene zu vermeiden.«


Literatur:

Deutscher Bundestag (2009):13. Kinder- und Jugendbericht. Drucksache 16/12860. PDF zu beziehen über: www.dji.de, Druckexemplar über:
publikationen@bundesregierung.de

Fegert, Jörg M. (1999): Brauchen wir doch noch die große Lösung? In: Gemeinsam leben - Zeitschrift für integrative Erziehung, Heft 4. Neuwied

Lerner, Richard M. / Benson, Peter L. (Eds.) (2004): Developmental assets and asset-building communities: Implications for research, policy, and practice. New York

von Lengerke, Thomas (2007): Individuum und Bevölkerung zwischen Verhältnissen und Verhalten: Was ist Public-Health-Psychologie? In: von Lengerke, Thomas (Hrsg.): Public-Health-Psychologie: Individuum und Bevölkerung zwischen Verhältnissen und Verhalten. Weinheim/München, S. 11-18

Sen, Amartya (2000): Ökonomie für den Menschen. Wege zur Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. München

UN-Kinderrechtskonvention: Verfügbar über: www.aufenthaltstitel.net/unkinderrechtskonvention.html

UN-Konvention der Rechte von Menschen mit Behinderung. Bundesdrucksache 16/10808. Verfügbar über:
www.lebenshilfe.de/wDeutsch/aus_fachlicher_sicht/artikel/un-konvention.php

Weltgesundheitsorganisation (WHO) (1986): Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung. Verfügbar über:
www.euro.who.int/AboutWHO/Policy/20010827_2?language=German


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Quelle:
DJI-Bulletin Heft 3/2009, Heft 87, S. I-IV
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Dezember 2009