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AUSLAND/1610: Gazastreifen - Der vermeidbare Tod der zweijährigen Nasma Abu Nasheen (medico Jerusalem)


In und um Gaza - Oktober 2010
Neues von medico-Partnern in Israel / Palästina

Der Tod der zweijährigen Nasma Abu Nasheen

Der vermeidbare Tod einer 2-jährigen, die Gesundheitssituation im Gazastreifen und neue Zeugenaussagen zum Vorgehen der israelischen Armee während der Operation "gegossenes Blei"


Nasma Abu Lasheen starb am Samstag, den 16. Oktober 2010. In Gaza. Die israelischen Behörden haben es versäumt ihr eine Ausreisegenehmigung zu erteilen für eine lebensrettende medizinische Behandlung im Ha-Emek Krankenhaus im Norden Israels. Sie war zwei Jahre alt.

Nasma hatte Leukämie. Zehn Tage vor Ihrem Tod wurde der Antrag gestellt. Als die israelischen Behörden nicht auf den Antrag reagierten, wandte sich die Familie an den medico-Partner Ärzte für Menschenrechte. Die israelische Organisation bemühte sich mächtig bei den israelischen Behörden. Doch diese reagierten nicht, ließen sich Zeit. Als die Genehmigung kam, war das Kleinkind schon zu krank und nicht mehr transportfähig. Die Ärzte für Menschenrechte - Israel verlangen jetzt eine Untersuchung, um die Verantwortlichen für die Verzögerung ausfindig zu machen und zu belangen.

Abgestellter Rollstuhl in dem vergitterten, langen Durchgang am israelischen Checkpoint Erez - Foto: © Anne Paq

Patienten aus Gaza müssen über den israelischen Checkpoint Erez ausreisen für viele Behandlungen, die es in Gaza nicht gibt. Von Mai bis August 2010 verweigerten die israelischen Behörden jedoch 500% mehr Patienten die Ausreise als im vorangegangenen Zeitraum.
Foto: © Anne Paq


Die Gesundheitssituation im Gazastreifen

Nasmas Tod ereignete sich wenige Tage, nachdem die Ärzte für Menschenrechte vor einer israelischen Untersuchungskommission über die Folgen der langjährigen israelischen Isolationspolitik des Gazastreifens berichtet hatten, die nach der Machtübernahme durch die Hamas im Sommer 2007 weiter verschärft und zu einer Blockade wurde. "Eine verzögerte oder gar abgelehnte Genehmigung", so Ran Yaron von den Ärzten für Menschenrechte, "führt häufig zu unnötigem Leid der Patienten. Oder, wie im Fall Nasma Abu Lasheen, zum Tod." Nach Informationen der Ärzte für Menschenrechte verhinderten die israelischen Behörden zwischen Mai und August dieses Jahres die Abreise von 569 Patienten. Eine Steigerung um 500% gegenüber den ersten vier Monaten 2011. Das wiegt umso schwerer, als der Zustand der Gesundheitsdienste im Gazastreifen schon vor der Blockade besorgniserregend war. Deshalb kann eine Vielzahl vor allem schwerer und lebensbedrohlicher Krankheiten im Gazastreifen nicht oder nur unzureichend behandelt werden.

Nicht nur schwer- und todkranke Patienten leiden unter der israelischen Blockadepolitik. Zwar verzeichnen wir begrüßenswerte Erleichterungen bei der Einfuhr von medizinischem Gerät seit der Gaza-Flotillenaffäre und aufgrund des durch die Affäre entstandenen internationalen Drucks. Doch nach wie vor ist die Einfuhr von Materialien, die auch für militärische Zwecke genutzt werden könnten, stark eingeschränkt. Mangels Zement, Glas oder Stahl kann ein Großteil der 56 Gesundheitseinrichtungen, die während der israelischen Angriffe auf den Gazastreifen vor bald zwei Jahren beschädigt wurden, nicht wiederaufgebaut werden. Medico bemüht sich momentan bei den israelischen Behörden um die Einfuhr von Zement und Stahl für die fällige Rehabilitierung einer Tagesklinik des Partners Palestinian Medical Relief Society (PMRS). Ob wir dieses vom BMZ unterstützte Vorhaben durchführen können, wird sich erst in den kommenden Monaten zeigen.

Zerstörtes mehrstöckiges Haus - Foto: © Anne Paq Eine Frau sitzt mit zwei Kindern vor einem Zelt - Foto: © Anne Paq

links: Ohne Zement und Stahl verzögert sich auch bald 2 Jahre nach den israelischen Angriffen der Aufbau zerstörter Infrastruktur. Darunter das Gros der 56 Gesundheitseinrichtungen, die durch israelische Angriffe zerstört oder beschädigt wurden.
rechts: ...und ohne Wiederaufbau leben viele noch immer in Zelten.
Fotos: © Anne Paq

Vier Kinder beim Abfüllen von Wasserflaschen auf einem Karren - Foto: © Anne Paq Frau, die unter freiem Himmel kocht - Foto: © Anne Paq

links: Die Wasserqualität in Gaza verschlechtert sich. Über 90% des Wassers ist mittlerweile von bedenklicher Qualität.
rechts: Zu essen gibt es genug, doch die Armutsrate ist alarmierend hoch. Seit 2007 wuchs die Anzahl der Kinder mit Wachstumsproblemen um 150%.
Fotos: © Anne Paq

Gesundheit ist jedoch mehr als nur medizinische Hilfe. Die Blockade von Gaza führt dazu, dass die Mehrheit der 1,5 Millionen Einwohner immer ungesünder lebt. Die Armut der Zivilbevölkerung wächst, und die Qualität von 90% - 95% des Trinkwassers im Gazastreifen ist nicht mehr unbedenklich. Die Verschlechterung der Gesamtbedingungen führen unter anderem dazu, das der Anteil der Kinder, die unter Wachstumsproblemen (Untergewicht, Verhältnis zwischen Alter, Gewicht und Größe) leiden, seit 2007 um 150% gewachsen ist. Im Zentrum für chronisch Kranke der PMRS, die medico mit eigenen Spenden und mithilfe des Auswärtigen Amts finanziert, ist das Team vom Patientensturm überwältigt. Die Zunahme an chronischen Krankheiten führt der Leiter, Dr. Hassan Zainelddin auf vermehrten Stress zurück, der durch die Blockade und die prekäre interne Situation seit der Machtübernahme der Hamas verursacht wird. Zudem, so der Ernährungsexperte des Zentrums, sei die schlechte Qualität der Nahrungsmittel, die durch die Tunnel nach Gaza geschmuggelt werden, Grund für große Besorgnis, vor allem bezogen auf junge Menschen, die sich noch in der Wachstumsphase befinden.

Mehrere Patienten am Empfangstresen einer medizinischen Einrichtung - Foto: © Anne Paq Zwei Labormitarbeiterinnen bei der Arbeit - Foto: © Anne Paq

links: Im Zentrum für chronische Krankheiten der PMRS verzeichnet das Team eine Stress bedingte Zunahme chronischer Krankheiten.
rechts: Labormitarbeiterinnen im Zentrum für chronische Krankheiten.
Fotos: © Anne Paq

Neue Zeugenaussagen: Bombardierte die israelische Luftwaffe ein Armenviertel trotz Informationen, dass sich dort Zivilisten befinden?

Ebenfalls mithilfe des BMZ wurde eine Mobile Klinik der PMRS diesen Herbst in nachhaltigere Strukturen von Advanced Field Clinics umgewandelt. Dabei werden in sieben besonders unterversorgten und armen Gemeinden allgemeinärztliche und spezialisierte Arztdienste zu festen Zeiten angeboten. Eine der Gemeinden ist Zaitun, ein Vorort von Gaza Stadt. Am 5. Januar 2009, also während der "Operation gegossenes Blei" bombardierte die israelische Luftwaffe den Ort. 21 Mitglieder der Großfamilie Samuni (medico berichtete zeitnah [1]), darunter etliche Kinder und Frauen, kamen dabei ums Leben. 19 weitere Familienmitglieder wurden zum Teil schwer verletzt. Jetzt hat medico-Partner Breaking the Silence neue Informationen über das Geschehen veröffentlicht. Die Informationen der israelischen Reservistenorganisation fußen wie stets auf Zeugenaussagen israelischer Soldaten. Dabei wird immer wahrscheinlicher, dass das Luftbombardement genehmigt wurde, obwohl sich vor Ort befindende Soldaten der Samuni-Familie das Haus als sicherer Zufluchtsort zugewiesen hatten und davor gewarnt hatten, dass sich im Haus nur Zivilisten befinden.

Dass diese Zeugenaussagen vor einem israelischen Untersuchungsausschuss verhandelt werden, ist vor allem den Bemühungen israelischer und palästinensischer Organisationen zuzuschreiben. Akteure wie die medico-Partner Ärzte für Menschenrechte, Al Mezan Human Rights Center Gaza oder Breaking the Silence brachten Informationen zutage, die dazu führten, dass eine zuerst zögerliche internationale Gemeinschaft die Untersuchung der Geschehnisse während der "Operation gegossenes Blei" beschloss. Die daraufhin berufene Goldstone-Kommission der Vereinten Nationen konnte auf die von medico mitgetragenen Berichte dieser Organisationen zurückgreifen (siehe etwa [2] und [3]), um die Geschehnisse zu rekonstruieren. Der Goldstone-Bericht bestätigte die Verdachtsmomente auf gravierende Menschenrechtsverletzungen und forderte interne Untersuchungen durch Israel und die Hamas. Aufgrund des internationalen Drucks willigte Israel ein, und mehrere Untersuchungen laufen momentan. Allerdings mehren sich die Stimmen in Armee und Politik, die Untersuchungen ins Leere laufen zu lassen. Medico und seine Partner hoffen auf weiteren Druck der internationalen Gemeinschaft, damit diese Untersuchungen nicht nur transparent stattfinden, sondern damit die politischen und personellen Konsequenzen hieraus gezogen werden.

Einstieg in einen der Versorgungstunnel durch eine senkrechte Betonröhre - Foto: © Anita Heiliger

Der Zugang zu einem der vielen Tunnel, die den Gazastreifen mit Ägypten verbinden. Aus Ägypten eingeführte Lebensmittel werden kaum kontrolliert und sind oft gesundheitsschädlich.
Foto: © Anita Heiliger

[1] www.medico.de/themen/nothilfe/dokumente/von-normalitaet-kann-keine-rede-sein/3155/
[2] http://www.medico.de/themen/krieg/nahost/dokumente/israelische-soldaten-bestaetigen-menschenrechtsverletzungen-in-gaza/3272/
[3] http://www.medico.de/presse/pressemitteilungen/menschenrechtsverletzungen-gaza/3199/


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Quelle:
medico Jerusalem - Samstag, 23. Oktober 2010
Tsafrir Cohen, Representative in Palestine & Israel
medico international e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Oktober 2010