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AUSLAND/1779: Niederlande - Quo vadis Euthanasie? (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 100 - 4. Quartal 2011
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

Ausland
Quo vadis Euthanasie?

Von Matthias Lochner


Wie erst jetzt bekannt wurde, haben Ärzte in den Niederlanden im Frühjahr dieses Jahres eine 64-jährige, an Alzheimer erkrankte Patientin getötet, die zum Zeitpunkt ihrer Tötung als nicht-einwilligungsfähig galt. Grund genug, die Praxis in den Niederlanden noch einmal genauer in den Blick zu nehmen.


Tötung ohne Verlangen: Wenn es noch eines letzten Beweises bedurft hätte, dass die Zulassung aktiver Sterbehilfe inhuman und menschenverachtend ist, so wurde er kürzlich in den Niederlanden erbracht. Weitgehend unbeachtet von deutschen Medien leisteten Ärzte dort - wie es heißt, »erstmals« - einer schwer demenzkranken Frau »Sterbehilfe«. Wie die Zeitung »Volkskrant« Anfang November berichtete, litt die 64-jährige Patientin, die bereits im März dieses Jahres getötet wurde, an Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium. An der Krankheit war sie bereits vor Jahren erkrankt. Auch soll sie in einer Patientenverfügung angegeben haben, dass sie lieber getötet werden wolle, als in einer Pflegeeinrichtung untergebracht zu werden. Den Berichten zufolge war die Familie der Frau denn auch mit einer »Tötung auf Verlangen« einverstanden.

Ihren Wunsch, getötet zu werden, soll die Patientin zwar zuvor mehrfach geäußert haben. Vor ihrem Tod soll sie allerdings aufgrund ihres Krankheitszustandes dann gar nicht mehr in der Lage gewesen sein, ihren früher geäußerten Wunsch noch einmal klar und bei vollem Bewusstsein zu wiederholen. Zum Zeitpunkt der »Tötung auf Verlangen« war sie nach dem übereinstimmenden Urteil der Ärzte nicht mehr einwilligungsfähig.

Genau das aber verlangt eigentlich das Gesetz, mit dem die Niederlande im April 2002 als erstes Land weltweit die Euthanasie legalisiert hatten. Danach muss der Arzt zu der Überzeugung gelangt sein, »dass der Patient seine Bitte freiwillig und nach reiflicher Überlegung gestellt hat« und sein Zustand »aussichtslos und sein Leiden unerträglich ist«. Ferner muss der Arzt den »Patienten über dessen Situation und über dessen Aussichten aufgeklärt« haben und »gemeinsam mit dem Patienten zu der Überzeugung gelangt« sein, »dass es für dessen Situation keine andere annehmbare Lösung gibt.«

Bis dato sollen daher in den Niederlanden auch nur solche Demenzkranke getötet worden sein, die in der Lage waren, den Wunsch, ein Arzt möge sie töten, noch klar und wiederholt zu äußern. In dem vorliegenden Fall soll dies nun erstmals anders gewesen sein. Dennoch haben alle fünf regionalen Aufsichtskommissionen der Tötung der Patientin zugestimmt.

25 Prozent der Euthanisierten hatten nie darum gebeten.

Von Patientenautonomie kann hier schlechterdings keine Rede sein. Jeder, der einmal an Demenz erkrankte Menschen erlebt hat, weiß, dass bei dieser Erkrankung die Grenzen zwischen noch einwilligungsfähig und nicht-einwilligungsfähig sehr fließend sind, sprunghaft verlaufen und sich daher kaum definieren lassen. So haben Menschen, die an Demenz leiden, zum Beispiel selbst in einem weit fortgeschrittenen Krankheitsstadium immer wieder auch »lichte Momente«. Genauso gibt es bereits im Anfangsstadium der Krankheit Momente, in denen selbst die engsten Angehörigen den Patienten nicht wiedererkennen können und in denen er Verhaltensweisen an den Tag legt oder Äußerungen tätigt, die allem widersprechen, was er in gesunden Tagen getan oder gesagt hat. Weil eine Demenzerkrankung zu Persönlichkeitsveränderungen führt, muss eigentlich alles, was ein solcher Patient sagt oder tut, mit Vorsicht genossen werden - erst recht, wenn es sich dabei um etwas so Schwerwiegendes handelt wie den Wunsch, getötet zu werden.

Dass Ärzte in den Niederlanden eine Patientin getötet haben, bei der nach Übereinstimmung aller Beteiligten außer Frage stand, dass sie nicht mehr in ihre Tötung einwilligen konnte, zeigt: Die von Befürwortern der »Tötung auf Verlangen« viel beschworene »Autonomie am Lebensende« ist längst zur Farce geworden. Es geht offenbar nicht mehr darum, was ein Patient aktuell wirklich will, sondern darum, was Dritte annehmen, dass er zu einem Zeitpunkt, an dem er seinen Willen nicht mehr äußern kann, aufgrund früherer Äußerungen wollen würde.

Dass eine Ermittlung des »mutmaßlichen Willens« eines Patienten nie objektiv erfolgen kann, sondern immer auch stark von den Einstellungen, Interessen und Gefühlen derer geleitet wird, die ihn zu ermitteln suchen, ist lange bewiesen und in der Fachwelt unstrittig.

Niederlande: Tötungen von Demenzkranken nehmen zu.

Nicht ohne Grund kommen denn auch drei von der niederländischen Regierung in Auftrag gegebene Studien jeweils zu dem Ergebnis, dass der Anteil der »Tötungen ohne Verlangen« bereits etwa ein Viertel aller Patiententötungen ausmacht. Diese Ergebnisse sind sehr ernst zu nehmen, da den Medizinern, die an diesen Studien teilnahmen, die vollständige Wahrung der Anonymität zugesichert worden war. Nach den Motiven ihres Handelns gefragt, gaben die Ärzte Gründe wie »die Nächsten konnten es nicht mehr ertragen« (38 %) oder auch »geringe Lebensqualität« (36 %) an. Die Befragungen belegen also, dass Ärzte keineswegs nur Patienten töten, »deren Zustand aussichtlos« ist und deren »Leiden unerträglich« sind und die den Antrag auf »Tötung nach Verlangen« »freiwillig und nach reiflicher Überlegung gestellt« haben. Längst werden auch Menschen getötet, die nie ausdrücklich darum gebeten haben.

Wenn es nun heißt, in den Niederlanden sei »erstmals« ein Demenz-Patient von Ärzten getötet worden, so stimmt dies allenfalls in Bezug auf den fortgeschrittenen Krankheitszustand. Demenzkranke wurden in den Niederlanden schon früher getötet. So weist der Medizinrechtsexperte Oliver Tolmein in seinem Blog »Biopolitik« auf der Webseite der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« (FAZ) darauf hin, dass 1999 Mediziner des »Twents Psychiatric Hospital« einem 71-jährigen Patienten zum Tode verholfen hätten, der vier Jahre unter einer Multi-Infarkt-Demenz gelitten haben soll. Damals war das niederländische Euthanasie-Gesetz in seiner jetzigen Form noch gar nicht in Kraft. Die Mediziner der Klinik hatten »ein Protokoll entwickelt, das nach Anhörung einer unabhängigen Kommission und mehrerer Klinikärzte sowie eines externen Psychiaters ermöglichte, dass dem Patienten zu Hause von seinem Arzt ein hoch dosierter Barbiturat-Trank gereicht wurde, den er selbst austrank«, so Tolmein. Rechtstechnisch gesehen dürfte es sich dabei um einen »ärztlich assistierten Suizid« gehandelt haben.

2004, als das Euthanasie-Gesetz bereits zwei Jahre in Kraft war, wurde laut Tolmein erstmals ein Patient »auf Verlangen« getötet, der an Alzheimer erkrankt war. Umstritten war damals, ob der 65-jährige Mann tatsächlich »unerträglich gelitten« habe. »Gutachter waren hier zu unterschiedlichen Auffassungen gekommen«, so der Jurist weiter. In seinem Blog-Beitrag nennt Tolmein auch Zahlen, die belegen, dass die Tötungen von Demenzkranken in den Niederlanden stetig steigen: Sei in dem Bericht der Aufsichtsgremien für das Jahr 2008 noch von »vereinzelten Fällen« die Rede, nenne der Jahresbericht 2009 bereits zwölf Fälle, im Jahresbericht 2010 seien es dann schon 25 Fälle.

NVVE: »Wichtige Etappe« und »Botschaft für die Ärzte«

In Zukunft werden diese Zahlen wohl noch weiter steigen. Denn zum einen werden aufgrund steigender Lebenserwartung künftig immer mehr Menschen an Demenz erkranken. Zum anderen ist nun ein weiterer Damm gebrochen. So bezeichnete eine Sprecherin der »Nederlandse Vereniging voor een Vrijwillig Levenseinde« (NVVE) den geschilderten Fall als »eine Botschaft an Ärzte«, die schwer demenzkranken Patienten Sterbehilfe verweigerten, obwohl sie dies früher ausdrücklich verlangt hätten. Im Klartext: Die Bedenken, nicht-einwilligungsfähige Patienten zu töten, sollen beiseitegeschoben werden. Dass die NVVE hierfür gerne Lobbyarbeit macht, daran können kaum Zweifel existieren. Schließlich hat die Vereinigung seit ihrer Gründung 1973 jahrelang für die Abschaffung des Tötungsverbots gekämpft und maßgeblich mit dafür gesorgt, dass die »Tötung auf Verlangen« in den Niederlanden gesetzlich erlaubt wurde. Auch lobte die Sprecherin die jetzt in den Medien bekannt gewordene Tötung der nicht-einwilligungsfähigen 64-jährigen Patientin als eine »wichtige Etappe«. Eine »wichtige Etappe« - fragt sich nur, auf dem Weg wohin?


IM PORTRAIT

Matthias Lochner
Der Autor, Jahrgang 1984, studierte Deutsch, Geschichte und Katholische Theologie für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen an der Universität zu Köln. Er ist seit 2001 Mitglied der ALfA und seit Mai 2007 Vorsitzender der »Jugend für das Leben« (JfdL) Deutschland, der Jugendorganisation der ALfA. Als freier Journalist publiziert Matthias Lochner regelmäßig auch in »LebensForum«. Er ist verheiratet und lebt im Rheinland.


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Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 100, 4. Quartal 2011, S. 16 - 17
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
Herausgeber: Aktion Lebensrecht für Alle e.V.
Bundesvorsitzende Dr. med. Claudia Kaminsky (V.i.S.d.P.)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Januar 2012