Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → GESUNDHEITSWESEN

AUSLAND/1853: Indien - Dramatisch hohe Säuglingssterblichkeit, staatliche Krankenhäuser überfordert (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 21. Juni 2012

Indien: Dramatisch hohe Säuglingssterblichkeit - Staatliche Krankenhäuser überfordert

von Athar Parvaiz



Srinagar, Indien, 21. Juni (IPS) - Um das Leben von Müttern und Neugeborenen zu schützen, bietet die indische Regierung Schwangeren seit einem Jahr kostenfreie Behandlungen in staatlichen Krankenhäusern an. Die Kliniken, die personell unterbesetzt und schlecht ausgestattet sind, geraten damit unter wachsenden Druck. Die Säuglingssterblichkeit ist deutlich höher als in den Nachbarländern Nepal, Sri Lanka und Bangladesch.

Zwischen Februar und Mai starben allein in dem Hospital G.B. Pant in Srinagar, der Sommerhauptstadt des Bundesstaats Jammu und Kaschmir, 397 Neugeborene. In vielen anderen Krankenhäusern des Subkontinents ist die Situation ähnlich.

"Mein Baby wurde bleich, nachdem ihm eine Krankenschwester eine Spritze gegeben hatte. Kurz darauf war es tot", klagt Haleema Akhtar, die sich zur Geburt ihres Kindes in die Klinik begeben hatte. "Ich konnte beobachten, dass mehr als ein Dutzend weiterer Säuglinge innerhalb weniger Stunden gestorben ist. Die Zustände in dem Hospital kann man nur als unmenschlich beschreiben. Eine Privatklinik konnten wir uns aber nicht leisten", sagt sie unter Tränen.

Eine offizielle Untersuchung, die von dem bekannten Arzt Showkat Zargar geleitet wurde, kam zu dem Ergebnis, dass das Personal und die Ausstattung des Krankenhauses in Srinagar unzureichend sind. "In der Verwaltung herrschen totale Apathie und Missmanagement vor", kritisiert Zargar in seinem Bericht. "Um Säuglinge in kritischem Zustand kümmerten sich lediglich ein Doktorand und eine ausgebildete Krankenschwester. Auf der Neugeborenen-Station sah ich 27 Säuglinge, ohne dass ein einziger erfahrener Arzt in der Nähe gewesen wäre."

Laut dem Report, der sich auf Daten der Klinik stützt, starben dort 2010 981 und im vergangenen Jahr 985 Babys. Damit liegt die Sterblichkeit von Neugeborenen in dem Krankenhaus bei 20 Prozent und übersteigt die für staatliche Krankenhäuser in Indien festgelegte Obergrenze um das Doppelte.

Ein Ausschuss, dem Parlamentsabgeordnete aus Jammu und Kaschmir angehörten, bestätigte die Ergebnisse von Zargars Untersuchung. Mustafa Kamal, ein Mitglied des Komitees, erklärte, dass die Todesfälle auf unzureichende Ausrüstung, einen Mangel an Fachkräften und schlechte Hygienebedingungen zurückzuführen seien.

Nicht viel besser sieht es in einem Krankenhaus in Malda im Bundesstaat Westbengalen aus. Im November 2011 starben dort binnen zwei Wochen 26 Babys nach Infektionen.


Säuglingssterblichkeit nur in Pakistan höher

Der indische Gesundheitsminister Ghulam Nabi Azad räumte am 20. Mai vor dem Parlament ein, dass die Säuglingssterblichkeit in dem Land mit 47 pro 1.000 Lebendgeburten höher sei als in den benachbarten Staaten Nepal, Sri Lanka und Bangladesch. In Zahlen ausgedrückt bedeute dies, dass in Indien jedes Jahr 1,25 Millionen Säuglinge sterben, erklärte er. Nur in Pakistan sei die Lage noch kritischer.

In einem am 13. Juni von dem Weltkinderhilfswerk UNICEF veröffentlichten Bericht wird die Säuglingssterblichkeitsrate in Indien mit rund 48 pro 1.000 Lebendgeburten angegeben. Der Bericht ist Teil der Initiative 'Countdown to 2015', die mit Blick auf die UN-Millenniumsentwicklungsziele die Fortschritte der einzelnen Länder bei der Reduzierung der Mütter- und Säuglingssterblichkeit bewertet.

Dem UNICEF-Bericht zufolge verzeichnet Pakistan eine Sterblichkeitsrate von 70 pro 1.000 Lebendgeburten, gefolgt von Indien sowie von Nepal mit 41, Bangladesch mit 38 und Sri Lanka mit 26 pro 1.000 Lebendgeburten. Die meisten Todesfälle wären vermeidbar, wenn die Schwangeren vor, während und unmittelbar nach der Geburt medizinisch betreut würden, meinen die Autoren.

Im Fall von Jammu und Kaschmir zeigen amtliche Statistiken, die IPS vorliegen, dass für mehr als eine Million Kinder unter sechs Jahren nur 24 Kinderärzte zur Verfügung stehen. Die Ärztevereinigung von Kaschmir (DAK) erklärte, dass es in den meisten Hospitälern nicht nur an Fachärzten, sondern auch an der allernötigsten lebensrettenden Ausstattung fehle. "Kein Mediziner kann ohne eine grundlegende Infrastruktur im Gesundheitsbereich arbeiten", sagte DAK-Präsident Nissar-ul-Hassan.

Um die Säuglingssterblichkeit zu senken, führte die Regierung im Juni 2011 ein Programm zum Schutz von Müttern und Neugeborenen ein, das Dienstleistungen in staatlichen Krankenhäusern im ganzen Land kostenlos verfügbar macht. Darunter fallen normale Geburten und Kaiserschnitte, medizinische Versorgung und Ernährung bis 30 Tage nach der Entbindung sowie der unentgeltliche Transport in die Klinik und zurück nach Hause.


Krasse Unterschiede zwischen Bundesstaaten

Eine Untersuchung der Zensusbehörde, die Bevölkerungsdaten erfasst, kam 2010 zu dem Ergebnis, dass sich bereits drei Viertel aller Schwangeren zur Geburt in professionelle Hände begeben hatten. Bei der Umsetzung der Programme zeigte sich in dem Land mit insgesamt 1,2 Milliarden Einwohnern in 27 Bundesstaaten jedoch ein erhebliches Gefälle.

Während in Staaten wie Kerala, Tamil Nadu und Andhra Pradesh weniger als ein Prozent aller Geburten in Anwesenheit nicht ausgebildeter Hebammen stattfanden, kommt dies in Jharkhand im Zentralindien in mehr als 46 Prozent der Fälle vor. Aktivisten im Gesundheitsbereich loben zwar das Regierungsprogramm, mahnen aber höhere finanzielle Zuwendungen an. Andernfalls wäre das Millenniumsziel nicht zu erreichen, die Kindersterblichkeit um zwei Drittel von 1990 bis 2015 zu verringern, warnen sie.

Nach Angaben von Mira Shiva, Koordinatorin der nichtstaatlichen Initiative für Gesundheit, Gleichheit und Gesellschaft, wurden die öffentlichen Ausgaben Indiens im Gesundheitssektor zwischen 1991 und 2011 von sechs Prozent auf etwa ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gesenkt. "Eine so drastische Reduzierung der Ausgaben fordert ihren Tribut", kritisierte Shiva. Die Mittel reichten nicht aus, um alle Schwangeren in Krankenhäusern unterzubringen.

Im Februar kündigte die Regierung an, dass das Gesundheitsbudget auf 2,5 Prozent des BIP von umgerechnet 1,67 Billionen US-Dollar (2011) aufgestockt werden solle. Laut Shiva würde damit aber immer noch weniger als die Hälfte der Summe bereitgestellt, die Länder wie Brasilien in vergleichbaren Situationen aufwenden würden. Einem Report der Weltbank von 2010 zufolge stiegen die staatlichen Gesundheitsausgaben in Brasilien von 3,72 Prozent des BIP 2008 auf 4,13 Prozent im Jahr 2009. (Ende/IPS/ck/2012)


Links:

http://countdown2015mnch.org/
http://www.ipsnews.net/2012/06/newborn-deaths-expose-indias-low-health-budget/

© IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH

*

Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 21. Juni 2012
IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 28 482 361, Fax: 030 28 482 369
E-Mail: redaktion@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juni 2012