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ARTIKEL/1520: Thementag zum Schutz der Freiberuflichkeit vor Kapitaleinfluss am 30.10.2019 in Kiel (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 12/2019

Interessengemeinschaft der akademischen Heilberufe (IDH)
Das Kapital + seine Folgen
Thementag am 30. Oktober in Kiel

von Stephan Göhrmann


Thementag der Interessengemeinschaft der akademischen Heilberufe (IDH) zum Kapitaleinfluss im Gesundheitswesen. Geschlossen gegen Kommerzialisierung im Gesundheitswesen - und für Stärkung der Freiberuflichkeit.


Unter den Titel "Schutz der Freiberuflichkeit vor Kapitaleinfluss zum Wohle der Patienten" hatte die Interessengemeinschaft der akademischen Heilberufe (IDH) ihren Thementag in Kiel gestellt. Geladene Gäste aus Politik und Gesundheitswesen diskutierten über die zunehmende Kommerzialisierung der Gesundheitsversorgung. Zuvor widmete sich Gastredner Prof. Eckhard Nagel von der Universität Bayreuth den unterschiedlichen Zielsetzungen zwischen Renditeerwartungen und flächendeckender Versorgung.

"Als ich vor knapp 40 Jahren mein Studium der Humanmedizin begann, konnte ich die Begriffe Freiberuflichkeit, Selbstverwaltung und Patientenwohl klar einordnen", ließ Dr. Henrik Herrmann, Präsident der Ärztekammer Schleswig-Holstein und turnusmäßiger Vorsitzender der IDH, Revue passieren. Heute sei dies wesentlich schwieriger. Die zunehmende Kommerzialisierung habe dazu geführt, dass sich die Rahmenbedingungen der Heilberufe veränderten.

Allein der Begriff Kommerzialisierung werfe bei ihm Fragen auf: "Welche externen Einflüsse sind vorhanden? Werden Entscheidungen unabhängig und zum Wohle des Patienten getroffen? Was steht im Mittelpunkt: das Patientenwohl oder das Renditewohl?"

In seinem Vortrag über den Einfluss des Kapitalmarktes auf das Gesundheitssystem griff Nagel diese Fragen auf und klärte über den Ursprung der Kommerzialisierung auf. "Klar ist: Auch das Gesundheitswesen muss sich finanzieren. Diejenigen, die Geld haben, finanzieren einen großen Teil der Prosperität", stellte er seinem Vortrag voran. Die Ökonomisierung, die in weite Teile der Gesellschaft vorgedrungen sei, treffe nur verspätet im Gesundheitswesen ein. Das hat Nagel zufolge nicht nur Auswirkungen auf den Einzelnen. Er sieht das Große und Ganze in Gefahr. "Hier geschieht ein grundlegender Wandel mit weitreichenden Folgen für das Deutsche Gesundheitssystem", warnt Nagel vor der veränderten Zielsetzung der ökonomischen Rahmung.

Zwar werden auf dem Kapitalmarkt Teile der wirtschaftlichen Beziehungen, unter denen das Gesundheitswesen finanziert wird, realisiert. Doch der Markt strebe nach Rendite. Mit einem Anteil von 15,5 Prozent am Bruttoinlandsprodukt und Gesundheitsausgaben von 376 Milliarden Euro im Jahr 2017 stelle das deutsche Gesundheitswesen einen bedeutenden und lukrativen Markt dar.

Zu den Renditeerwartungen befragt, verwies der Filialleiter der Apotheker- und Ärztebank in Kiel, Tim Wind, auf drei Augenarztsitze außerhalb Schleswig-Holsteins, für die schon 40 Millionen Euro gezahlt worden seien. "Daran sieht man, wie hoch die Renditeerwartungen sind", sagte Wind. Auf Kredite seien die Kapitaleigner nicht angewiesen, ganz im Gegenteil. Vielmehr wollten sie ihr Geld im Gesundheitswesen anlegen und für sich arbeiten lassen.

Doch wie verträgt sich die Renditeerwartung mit der Freiberuflichkeit? Freiberuflichkeit ist aus der Verantwortungsübergabe von der politischen Ebene an die jeweilige Berufsgruppe entstanden. Der Begriff ist daher eng an die Selbstverwaltung geknüpft. Die Organisation der Berufe in Körperschaften des öffentlichen Rechts macht die Übernahme von konstitutionellen Funktionen möglich und gewährt den Berufsgruppen Partizipationsmöglichkeiten sowie Mitgestaltungsrecht.

Einzelne Vertreter freiberuflicher Berufsgruppen handeln wissenschaftlich, frei und künstlerisch. Eine freie Tätigkeit ist an die eigenverantwortliche Erbringung von Dienstleistungen gebunden, die im Sinne der Allgemeinheit durchgeführt wird, auch dort, wo eine adäquate medizinische Versorgung schwierig ist. Aus ökonomischer Sicht ist die Versorgung in der Fläche zu teuer.

Ein Krankenhaus kann als Dienstleister verstanden werden. Setzt man nun die Rolle des Patienten mit der eines Kunden gleich, werden die unterschiedlichen Bedingungen des Dienstleistungssystems und des Gesundheitssystems deutlich. Anders als bei einem Restaurantbesuch könne der Patient in einer Notsituation nicht auf der Türschwelle kehrt machen und die Konkurrenz ansteuern, sollte ihm etwas nicht gefallen. Ebenso folgt laut Nagel die Freiberuflichkeit dem ethischen Grundsatz, wonach die Behandlung eines Patienten nicht an finanzielle Grenzen geknüpft werden könne. "Gesundheit ist ein besonderes Gut. In der sozialen Marktwirtschaft unterliegt die Gesundheit des Menschen Schutzmaßnahmen außerhalb von Angebot und Nachfrage", sagte Nagel. Wirtschaftliche Interessen könnten diesem normativen Selbstverständnis widersprechen.

Genau das befürchten viele der Anwesenden. Das Interesse, aus zahnärztlichen Tätigkeiten Rendite zu erzielen, liege an den Behandlungsfeldern von Zahnärzten, gab Dr. Michael Brandt, Präsident der Zahnärztekammer Schleswig-Holstein, zu bedenken. 30 Prozent der Behandlungsfälle haben einen ästhetischen Hintergrund. Sein Kollege Dr. Michael Diercks, Vorstandsvorsitzender der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein, sieht besonders die zahnärztliche Versorgung der Patienten in der Fläche gefährdet. Er beobachtet die verstärkte Ansiedelung von Zahnärzten in Ballungsgebieten, also dort, wo die Versorgung ohnehin sichergestellt ist.

"Die suchen die Schätze und versuchen sie dann auch zu heben", beschrieb Wind das Interesse der Investoren, vor allem in die Bereiche zu investieren, in denen sich noch Abläufe professionalisieren und standardisieren lassen. Dr. Evelin Stampa, Präsidentin der Tierärztekammer Schleswig-Holstein, sieht dieses Potenzial bei den Tierärzten im Land, da die Abrechnung bei ihnen keiner festen Regelung unterliegt, wie es bei Humanmedizinern der Fall ist. Daher warnt die Tierärztin, dass Übernahmen durch Fremdkapital für den Tierbesitzer erhöhte Preise bedeuten. Sie bemerkt seit einiger Zeit das Interesse von Kapitaleignern an Tierarztpraxen: "Die Aktiengesellschaften fahren herum und machen den Praxen 'tolle Preise'. Die können natürlich Preise bieten, die sonst keiner bieten kann."

Im Gegensatz zu anderen Mitgliedern der IDH weiß die Tierärztekammer über jede Übernahme durch Fremdinvestoren Bescheid. Das liegt daran, dass ein Praxisverkauf an Aktiengesellschaften generell verboten ist und nur mit Zustimmung der Tierärztekammer erfolgen kann. Diese Transparenz überzeugte Herrmann. Erst das Wissen um die tatsächlichen Übernahmen wie Investitionen durch Fremdkapital erlaubten es, einen Zusammenhang mit der Behandlungsqualität herzustellen. In seiner Funktion als Präsident der Ärztekammer nahm er die Heilberufekammern in die Pflicht, sich für eine starke Freiberuflichkeit einzusetzen: Sie müssten zeigen, was Freiberuflichkeit bedeute.

Dr. Peter Froese, Vorsitzender des Apothekerverbandes Schleswig-Holstein, richtet den Blick von einer rein nationalen Betrachtung auf eine europäische Perspektive. In der Europäischen Union herrsche ein anderer Blick auf die Ökonomisierung des Gesundheitssystems. Entscheidungsträger verstünden Ökonomisierung als Vereinfachung und Rationalisierung. Ein Beispiel sei die Digitalisierung. "Wir leben in einer Zeit der digitalen Disruption. Digitalisierung ist zu einer Art Religion erhoben worden. Sie wird durch Kapitalunternehmen gestützt, nicht durch kleine Apotheken", warnte Froese vor einem allzu negativen Bild von kapitalstarken Unternehmen.

Im Zentrum jeder Überlegung müsse das Patientenwohl stehen. Im Umkehrschluss bedeute das, dass die Patienten ein Interesse an der Freiberuflichkeit haben sollten.


376 Mrd. Euro
wurden im Jahr 2017 für Gesundheit in Deutschland ausgegeben - mehr als eine Milliarde Euro pro Tag.

5,6 Mio. Menschen sind im deutschen Gesundheitswesen tätig.

15,5 % beträgt der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 12/2019 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2019/201912/h19124a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
72. Jahrgang, Dezember 2019, Seite 16 - 17
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Januar 2020

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