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RECHT/591: Flüchtlingskinder - Lernen ohne Schmerz (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 3/2016

Flüchtlingskinder
Lernen ohne Schmerz

Von Anne Mey


Schulärztliche Untersuchung für Kinder in DaZ-Klassen.


Es gab eine lange Warteliste zur Veranstaltung "Leben in neuen Welten", die die durchführende Landesvereinigung für Gesundheitsförderung in Schleswig-Holstein e. V. veranlasste, gleich eine Folgeveranstaltung am 24. Mai 2016 anzukündigen. Das Thema minderjährige Flüchtlinge lockte zahlreiche Fachkräfte und ehrenamtliche Helfer aus den Frühen Hilfen, Kitas, Schulen, Jugendhilfe und Flüchtlingsarbeit zu der Fachtagung Anfang Februar in Kiel, um sich zu informieren und Erfahrungen auszutauschen.

Torsten Döhring, Referent des Beauftragten für Flüchtlings-, Asyl- und Zuwanderungsfragen des Landes Schleswig-Holstein, gab zunächst einen Überblick über die aktuelle Flüchtlingssituation im Land. Im vergangenen Jahr waren 52 Prozent der Flüchtlinge männliche Erwachsene, 29 Prozent weibliche Erwachsene und 19 Prozent Flüchtlinge unter 18 Jahre. Mit Stand vom 13. Januar 2016 gibt es laut Döhring 2.618 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) in Schleswig_Holstein. Als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge werden dabei Kinder und Jugendliche verstanden, die ohne Eltern oder andere per Gesetz sorgeberechtigte Personen geflohen sind, so Rabea Bahr von Lifeline, einem Vormundschaftsverein im Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e. V., der ehrenamtliche Einzelvormundschaften und Begleitpersonen für diese Kinder und Jugendlichen vermittelt. Seit 2005 haben die Jugendämter die Verpflichtung, die UMF in Obhut zu nehmen. So kommt es hin und wieder vor, dass sie nicht erst durch die Erstaufnahmeeinrichtungen (EAE) gehen, schilderte Dr. Angelika Hergeröder vom Gesundheitsamt in Kiel. Das bedeute, dass auch keine Erstuntersuchung stattfinde, d. h. auch kein Röntgenbild der Lunge und keine Blutentnahme. "Es müsste vom Jugendamt, das dieses Kind in Obhut genommen hat, organisiert werden, dass der minderjährige Flüchtling einer Untersuchung bei einem niedergelassenen Arzt zugeführt wird", so Hergeröder. Der Untersuchungsumfang in Schleswig-Holstein enthält eine allgemein orientierende körperliche Untersuchung (auch auf Krätze und Läuse), Röntgen des Thorax auf behandlungsbedürftige Tuberkulose (bei Kindern unter 15 Jahren ein Tuberkulintest), serologische Untersuchung auf Masern sowie auf Varizellen bei Frauen im gebärfähigen Alter und bei Kindern, das Angebot der empfohlenen STIKO-Impfungen, weitere serologische Untersuchungen nach Anamnese sowie Stuhluntersuchungen, soweit klinisch, anamnestisch oder epidemiologisch angezeigt.

Für die minderjährigen Flüchtlinge besteht wie für alle Kinder in Deutschland die Schulpflicht. In Kiel werden nach Auskunft von Hergeröder derzeit etwa 500 Schüler im Bereich Deutsch als Zweitsprache (DaZ)-Klassen unterrichtet. Besorgte DaZ-Lehrer kamen, wie die Amtsärztin berichtete, häufiger mit der Bitte auf sie zu, die Flüchtlingskinder schulärztlich zu untersuchen. Die Lehrkräfte waren verunsichert, ob einige der Kinder nur abwesend waren aufgrund ihrer traumatischen Erfahrungen oder ob Hör- oder Sehprobleme Schuld daran trugen. "Im Grunde genommen sieht das Schulgesetz so etwas vor, denn jedes Kind, das eine Schule besucht, muss schulärztlich untersucht werden. Das kann man genauso gut auch auf diese Kinder beziehen", so Hegeröder. Die Amtsärztin begründete die Relevanz der Untersuchungen auch damit, dass die gesundheitliche Versorgung im Herkunftsland unklar ist und die Familien so an das Gesundheitssystem in Deutschland herangeführt werden können. "Und es gibt die Gefährdung der Flüchtlingskinder, aber auch der Mitschüler, durch Infektionskrankheiten, die durch Impfung zu verhindern wären. Ich finde, Gesundheit ist eine Bildungschance. Wenn man nicht richtig hören oder sehen kann, wenn man Schmerzen oder irgendwelche Probleme hat, kann man nicht lernen", betonte sie. Nach einem Gespräch mit dem Stadtrat erhielt das Amt eine halbe Stelle zusätzlich, damit eine Ärztin sie bei den Untersuchungen sechs Monate lang unterstützen konnte. "Wir hatten das Glück, dass die Kollegin muttersprachlich türkisch und kurdisch spricht, sodass wir weniger Dolmetschereinsatz brauchten."

Die Eltern der Kinder im Grundschulbereich der DaZ-Klassen wurden per Brief zur Untersuchung eingeladen. Bis Anfang Februar haben Hegeröder und ihr Team so 170 Kinder zwischen sechs und elf Jahren gesehen. Darunter waren nicht nur Flüchtlingskinder aus Syrien oder Afghanistan, auch Kinder aus EU-Ländern wie Rumänien und Bulgarien gehörten dazu. Ein Ergebnis überraschte die Amtsärztin: "Man würde erwarten, diese Kinder sind unterernährt und hätten zu wenig zu essen bekommen. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Wir haben ein Übergewicht von 25 Prozent festgestellt. Bei unseren Schuleingangsuntersuchungen liegt es nur bei 12-15 Prozent." Die Erklärungen hierfür seien vielschichtig. Zum einen könne es am Überfluss der Möglichkeiten liegen, die sich in ständig verfügbaren süßen Getränken und Fastfood manifestieren. Zum anderen führte Hegeröder das Beispiel eines kleinen Mädchens an, dessen Onkel sie nach Deutschland geholt hatte. Sie war so traurig, dass sie von ihrer Familie getrennt war, dass sie jeden Abend erstmal eine Tafel Schokolade bekam, um die Trauer zu bewältigen.

Häufiger als bei den üblichen Schuleingangsuntersuchungen wurden Seh- und Hörstörungen festgestellt. Besonders schlimm stellte sich aber das Gebiss vieler Kinder dar: "Jedes zweite Kind hatte nicht nur ein Loch im Zahn, sondern eine behandlungsbedürftige Karies, gerade die Kinder aus den EU-Ländern. Diese Kinder müssen Schmerzen haben, und sie haben eine große Gefährdung, dass auch die bleibenden Zähne schon betroffen sind, wenn die Milchzähne rausfallen", so Hergeröder. Doch gerade hier sieht das Gesetz vor, dass Karies nicht behandelt wird, nur die Akutbehandlung bei Schmerzen ist darin enthalten.

Neben weiteren Befunden der Allgemeinpädiatrie wurden auch Narben von Kriegsverletzungen, Verbrennungen, Verhaltensauffälligkeiten wie Verstummen und Einnässen festgestellt. Lediglich zehn von 170 Kindern hatten einen Impfausweis und diese zehn waren unvollständig geimpft. Bei der motorischen Geschicklichkeit liegen die Kinder aus den DaZ-Klassen hinter jenen der üblichen Schuleingangsuntersuchungen. Aber "die Kinder haben mit Freude mitgemacht. Das war für sie ein Vormittag zum Spielen und Spaß haben. Sie waren stolz auf das, was sie geschafft hatten, und konnten zum Teil schon mit uns sprechen." Die Familien schildert Hergeröder als aufgeschlossen und froh über die Möglichkeit, an der Untersuchung teilzunehmen. Sie hat die Eltern auch als offen in ihren Auskünften wahrgenommen, was sie zu einem großen Teil der muttersprachlichen Kollegin zuschreibt: "Das ist ein Türöffner."


Umfang

Zum Umfang der schulärztlichen Untersuchungen, die Hergeröder in Kiel durchgeführt hat, gehörte die Anamneseerhebung, Einschätzung des Ernährungszustandes, die Untersuchung der Sinnesorgane, eine körperliche Untersuchung, die Beurteilung der Motorik und Wahrnehmung und des Infektionsschutzes.

Die Beurteilung der Sprache und Psyche war nur eingeschränkt möglich und konnte lediglich über die Befragung der Eltern erfolgen. Diese wurden über die Ergebnisse aufgeklärt, erhielten Informationen zu weiteren Impfungen, Früherkennungsuntersuchungen im Kindesalter (werden über das Asylbewerberleistungsgesetz finanziert), eine Ernährungsberatung und die Behandlung akuter Erkrankungen durch das Gesundheitssystem.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 3/2016 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2016/201603/h16034a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
69. Jahrgang, März 2016, Seite 16
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. April 2016

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