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AUSLAND/1451: Eine Woche Chirurgie unter Kriegsbedingungen (IPPNW)


IPPNW - 16.02.2009
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Eine Woche Chirurgie unter Kriegsbedingungen

Dr. Muneer Deeb half Verletzten im Gazastreifen


Der Gazastreifen mit seinen 1,5 Mio Einwohner auf einer Fläche von 37 km² ist das am dichtesten besiedelte Gebiet der Erde. Als die israelische Militäroffensive am 28. Dezember 2008 startete, war das Gesundheitssystem durch den 18 Monaten andauernden Belagerungszustand bereits schwer angeschlagen. Es herrschte ein Mangel an wichtigen Medikamenten wie Antibiotika, Anästhetika, Antihypertensive und Analgetika, neben einfachen Laborreagenzien zur Messung von Elektrolyten, Herz-, u. Leberenzymen. Viele medizinische Geräte wie z.B. Hämodialysegeräte,waren wegen Mangel an Ersatzteilen außer Betrieb.

Ummittelbar nach Beginn der militärischen Operation waren die Krankenhäuser mit ihrem Personal schon nicht mehr in der Lage, die vielen Verletzen adäquat zu behandeln. Schnell waren die Ärzte durch den Dauereinsatz erschöpft und riefen international tätige Ärzteorganisationen zur Unterstützung. Wie viele andere Organisationen bildete die französische Ärzteorganisation "Help Doctors" zusammen mit der europaweit vertretenen "PalMed Europe"-Organisation ein Chirurgenteam, bestehend aus einem Unfallchirurg, zwei Handchirurgen, einem Viszeralchirurg (Autor), einem Anästhesisten sowie einem Katastrophenmediziner und einem Logistiker. Mit Unterstützung aus Kairo wurden wir zum Grenzübergang Rafah an der Grenze zum Gazastreifen gefahren. Nach langen, sehr mühsamen und zähen siebenstündigen Verhandlungen gelangten wir endlich auf die palästinensische Seite der Grenze. Dort hat jeder von uns eine Erklärung unterschrieben, auf eigene Gefahr in den Gazastreifen einzureisen. Der häufigste Satz, den ich immer wieder zu hören bekam war: "Niemand ist irgendwo in Gaza sicher".

Mittlerweile war es dunkel geworden. Die Palästinenser warnten uns, dass sich die Angriffe mit Einbruch der Dunkelheit verstärken, und die Situation besonders gefährlich wird. Als wir zusammen mit anderen Ärzten aus verschiedenen Ländern, u.a. aus Griechenland, in die Krankenwagen (einziges und vermeintlich sicherstes Transportmittel) einsteigen wollten, hörten wir zwei große Explosionen. Erst jetzt erkannten wir, wie ernst die Lage ist. Später wurde uns erzählt, dass der Grenzübergang selbst getroffen wurde. Wir fuhren in einer Kolonne zum Krankenhaus Alnajjar in die Stadt Rafah und von dort aus weiter zur im Süden gelegenen Stadt Khan Yunus.

Da die israelischen Panzer mittlerweile die Verbindung zwischen dem Süden und der Mitte des Gazastreifens unter ihre Kontrolle gebracht hatten, durften wir Gaza Stadt erst nach Koordination mit dem internationalen Roten Kreuz einen Tag später passieren. Die Zeit in Khan Yunus nutzten wir, um das Nasser-Krankenhaus zu besuchen. Dorthin wurden die meisten Verletzten aus dem Süden Gazas gebracht. Als wir dort ankamen, sahen wir, wie sich viele Menschen vor dem Kühlhaus versammelten. Unsere Begleiter erklärten uns, dass die Leute nach ihren verlorenen Angehörigen suchten. Nach einem kurzen Treffen mit dem Krankenhausdirektor, der uns über die katastrophale Lage mit überfüllten Betten und Operationssälen berichtete, machten wir einen Rundgang durch die Abteilungen. Auf der Dialysestation zeigte uns der 60-jährige Pfleger die wegen fehlender Ersatzteile stillgelegten Dialysegeräte. Auf der Intensivstation mit neun Betten lagen frischverletzte Patienten, einige kamen gerade vom Operationssaal, darunter ein elfjähriger Junge mit Kopfverletzungen.

Unseren Rundgang mussten wir abbrechen, da uns plötzlich eine Meldung über mehrere Verletzte nach einem Luftangriff östlich von Khan Yunus erreichte. Wir eilten zur Notaufnahme; dort waren die ersten Verletzten zum Teil mit privaten PKW's angekommen. Neben Patienten mit subtotal amputierten unteren Extremitäten und Kopfverletzungen gab es einen Verletzten mit einem offenen abdominellen Explosionstrauma.

Als wir im Shefaa Krankenhaus ankamen, waren schon mehrere Chirurgenteams aus verschiedenen Ländern vor Ort und hatten ihre Arbeit aufgenommen. Zur Entlastung anderer Kollgen in den umliegenden Krankenhäusern wurden wir als Team ins Al-Quds Hospital, ein 200 Betten-Krankenhaus im südlichen Teil der Stadt Gaza, geschickt. Nach unserer Ankunft führten wir mit den diensthabenden Kollgen eine ausführliche Visite bei allen Patienten durch. Die meisten Verletztungen waren I. bis III. gradig offene Trümmerfrakturen, die mit Fixateur externe versorgt waren.

Wir besichtigten die zwei Operationssäle, die Notaufnahme und die Intensivstation und erstellten einen Plan über die weitere operative und nichtoperative Versorgung der Patienten. Bis auf hin und wieder zu hörende Detonationen oder Kampfflugzeuge schien es in den ersten drei Stunden ruhig zuzugehen. Wir freuten uns auf die erste ruhige Nacht. Auch die Mitarbeiter im Krankenhaus waren zuversichtlich, endlich eine Nacht zu schlafen.

Kaum war es Mitternacht, begann ein schrecklicher Alptraum; aber es war kein Traum, sondern bittere Realität. Plötzlich waren alle möglichen Arten von Explosionen zu hören, diesmal ganz dicht, als ob sich das Kampfgeschehen nun unmittelbar um das Krankenhaus abspielte. Die Detonationen waren so heftig, dass wir uns auf den Fluren versammelten. Bei uns waren Familien mit Kindern aus den umliegenden Hochhäusern, die Zuflucht im Krankenhaus gesucht hatten. Wir warteten nur noch darauf, entweder von einer Granate getroffen zu werden oder dass das Krankenhaus von Soldaten gestürmt wird. Dieser Zustand dauerte die ganze Nacht an und setzte sich am nächsten Tag fort. Die meiste Zeit verbrachten wir damit, Kinder und Frauen zu beruhigen und zu unterhalten. Doch die Angst war so groß, dass viele mit Sedativa versorgt werden mussten.

Am nächsten Tag wurde gegen 9 Uhr das Lagerhaus des aus drei Gebäuden bestehenden Krankenhauses offensichtlich von einer Granate getroffen, denn es stand plötzlich in Flammen. Eine zweite Granate schlug in die Krankenhausapotheke ein. In den Gängen des Krankenhauses verbreitete sich ein intensiver Gasgeruch, so dass wir Mundschutzmasken verteilten. Auf dem Hinterhof sahen wir viele verstreute brennende Körper mit starker weißer Rauchentwicklung, die wir fotografierten.

Das Klinikgebäude war mit dem Lagerhaus über ein mittleres Gebäude verbunden. Da das Feuer nicht unter Kontrolle zu bringen war - die Feuerwehr und das International Comittee of the Red Cross (ICRC) weigerten sich, sich uns zu nähern - und die Kämpfe draußen weitergingen, befürchteten wir ein Massaker im Krankenhaus. Nach der Evakuierung aller Patienten und Flüchtlinge in das Erdgeschoss sicherten wir die Fluchtwege und appellierten über die Presse an die internationale Gemeinschaft, sich für uns einzusetzen, um eine Katastrophe zu verhindern.

Zum Glück gab es gegen Mittag eine Feuerpause, so dass die Anwohner in UN-Fahrzeugen in umliegende UNO-Schulen evakuiert wurden, und die Feuerwehr das Feuer löschen konnte. Jetzt wurden auch die Verletzten ins Krankenhaus gebracht. Zusammen mit dem lokalen Ärzteteam konnten wir trotz des Mangels an Instrumenten und Medikamenten mehrere erfolgreiche Operationen durchführen.

So verbrachten wir den ganzen Abend im Operationssaal. Unter den operierten Fällen war ein 7-jähriges Mädchen, das von zwei Granatsplittern getroffen wurde. Ein Splitter trat auf der rechten Seite in ihren Körper, ging durch das Retroperitoneum, das kleine Becken, verletzte das Rektum und blieb in den Beckenknochen stecken. Ein zweiter Splitter traf sie am Unterkiefer, führte zu einer Trümmerfraktur der Mandibula und zerstörte Unterkieferzähne. Während der Operation war das Geschrei der Mutter vor dem Operationssaal zu hören. Nach der Blutstillung im Bauchraum verlegten wir das Kind ins Zentralkrankenhaus zur Versorgung seiner Unterkieferfraktur. Am nächsten Tag hörten wir, das Kind sei dort 12 Stunden später auf der Intensivstation verstorben.

Gegen Mitternacht wollten wir uns ein wenig ausruhen. Plötzlich brach erneut Panik aus. Ein neues Feuer erfasste dieses Mal das Dach des fünfstöckigen Klinikgebäudes, in dem wir uns im zweiten Stock befanden. Mitarbeiter und eine neue Gruppe zufluchtsuchender Familien wollten sich auf die Straße flüchten, wo neue Kämpfe entstanden waren. So waren wir gezwungen, trotz der unsicheren Lage auf der Straße, alle Patienten, auch die bettlägerigen in ihren Betten auf die Straße zu tragen. Drei Frühgeborene in ihren Inkubatoren und drei Patienten, die auf der Intensivstation lagen und beatmet werden mussten, wurden ebenfalls evakuiert.

So sind wir in einer Kolonne von ca. 400 Menschen mitten in der Nacht auf der Asphaltstraße in Richtung Shefaa Krankenhaus marschiert. Darunter weinende Frauen, schreiende Kinder, hilflose alte Frauen und Männer, schmerzgeplagte bettlägerige Patienten, die auf unebener Straße geschoben wurden. Nach ca. 400 Metern kamen endlich mehrere Krankenwagen und evakuierten die hilflosen Menschen. Zum Glück wurde kein Patient zurückgelassen. Eine erneute Katastrophe konnte zum Glück abgewendet werden.

Wir nahmen unsere Arbeit im Shefaa Krankenhaus am nächsten Morgen wieder auf. Dort behandelten wir zusammen mit anderen Ärzteteams viele Verletzungen. Wir beobachteten folgende Arten von Verletzungen:

1. total oder subtotal amputierte untere Extremitäten, wobei die amputierte Extremität ausgedehnte tiefe Weichteildefekte von Haut, Subcutis und Muskulatur mit Verbrennungsnekrosen aufweist, die bis auf das Periost reichen. Die Knochen zeigten Mehretagentrümmerfrakturen. Die Weichteile proximal der Amputationsstelle wiesen ebenfalls weit verstreute unterschiedlich tiefe Verbrenungen der Weichteile mit ausgestanzen Defekten auf. Klinisch und radiologisch konnten keine Splitter nachgewiesen werden.

2. Kreislaufinstabile Verletzte mit sehr hohem Transfusionsbedarf ohne äußerlich sichtbare großflächige Verletzungen. Wegen der rapiden Verschlechterung des Kreislaufs und der fehlenden diagnostischen Mittel wie Sonographie wurde bei diesen Patienten eine explorative Laparotomie (Bauchhöhleneröffnung) und manchmal auch Thorakotomie (Brustkorberöffnung) durchgeführt. Bei einigen Patienten wurden viertgradige Leber- oder Milzrupturen festgestellt, bei vielen anderen konnten keine makroskopischen Blutungsquellen festgestellt werden. Bei diesen Patienten gab es Hinweise auf diffuse mikroskopische Gewebezerstörung mit Organeinblutungen, wie z.B. bei der Lunge. Das Lungenparenchym war eingeblutet, ohne Verletzung großer Pulmonalgefäße. Solche Verletzungen könnten auf sog. "Blust Injuries" hindeuten.

3. großflächige Verbrennungen, die z.T. tief bis zum Knochen reichen. Diese Patienten wurden, soweit sie keine weiteren Verletzungen hatten, direkt auf die Verbrennungsstation verlegt.

Andere Verletzungen wie Kopfverletzungen, Inhalationstraumata, Augenverletzungen, Frakturen und Verletzungen im Gesichtsbereich wurden von entsprechenden Spezialisten behandelt.

Auf den Rundgängen durch die überfüllten Stationen mussten wir erleben, wie das Leiden der Verletzten sich fortsetzte. Fehlendes Verbandsmaterial und katastrophale Hygiene prägten das Bild in den Patientenzimmern. Übelriechende nässende Wunden konnte man schon vor Abnahme der Verbände riechen. Schmerzgeplagte Patienten mussten ohne Schmerzmittel auskommen, auch aufwändige Verbände, wie an offenen Amputationsstümpfen, wurden ohne jegliche Analgesie durchgeführt.

Nach einer ereignisreichen, stressigen, schlaflosen Woche waren wir auch erschöpft. Unsere Erlebnisse trugen nicht gerade zur Freude bei. Unheimlich erleichternd war die Erklärung des Waffenstillstands. Jetzt konnten wir ein wenig aufatmen und begannen, die liegengebliebenen vernachlässigten Patienten zu versorgen. Wir stellten einen 24-stündigen Operationsplan in zwei Schichten auf und verteilten entsprechend die freiwillig eingereisten Spzialisten auf zwei Schichten, um die Folgeoperationen und Revisionen durchzuführen.

Leider endete unsere Mission am 19. Januar 2009. Wir verließen den Gazastreifen schweren Herzens, weil wir um die kaum zu bewältigende medizinische Herausforderung zur Aufarbeitung der Kriegsfolgen wissen. Mehr denn je ist uns bei diesem Einsatz unter extremen z.T. lebengefährlichen Bedingungen unsere humanitäre Verpflichtung und Verantwortung gegenüber hilflosen, unschuldigen zivilen Kriegsopfern klar geworden. Unser Team ist entschlossen, in den Gazastreifen zurückzukehren und beim Wiederaufbau des Gesundheitssystems zu helfen.

Dr. Muneer Deeb, Facharzt für Chirurgie und Viszeralchirurgie
Dr. Deeb arbeitete während der Bombardierung des Gaza-Streifens zehn Tage als Chirurg bei der Versorgung der Verletzten mit. Er hat dabei die Folgen des Einsatzes von Phosphor-Granaten und von neuartiger Munition dokumentiert.

Quelle: www.ippnw.de/frieden/konfliktregionen/israel_palaestina_libanon/


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Quelle:
IPPNW-Bericht vom 16.02.2009
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges /
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.
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Sven Hessmann, Pressereferent
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. März 2009