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ARTIKEL/1029: Abschied vom Hausarzt? (impulse - Uni Bremen)


Universität Bremen - impulse aus der Forschung Nr. 2/2008

Abschied vom Hausarzt?
Berufsbild und Ziele von Hausärzten und solchen, die es werden wollen

Von Norbert Schmacke, Heidi Niehus, Maren Stamer und Bettina Berger


Leerstehende Arztpraxen auf dem Land, weite Anfahrtswege und überfüllte Warteräume. Zwar unternimmt die Politik massive Anstrengungen, um die hausärztliche Praxis attraktiver zu machen, dennoch entscheiden sich immer weniger junge Mediziner für eine Zukunft als Hausarzt. Gesundheitswissenschaftler der Universität Bremen gingen nun den Motiven des Nachwuchses und dem Selbstverständnis der Hausärzte auf den Grund.

Die hausärztliche Versorgung, gerade in ländlichen Regionen, wird dünner. Schon ist vom Ärztemangel die Rede. Aus Politik und Verbänden häufen sich die Vorschläge, wie die entstehende Lücke zu füllen ist. Die Rezepte lauten in der Regel: mehr Geld und mehr angestellte Ärzte in Hausarztpraxen sowie Förderung der medizinischen Versorgungszentren.

Die Universität Greifswald bereicherte die Debatte, indem sie die Entlastung von Ärzten durch Pflegekräfte ins Spiel brachte. Das Konzept mit dem Kurznamen AGnES wurde speziell für Regionen in den neuen Bundesländern entwickelt, in denen hausärztliche Unterversorgung angenommen wird. Mit deutlicher Zeitverzögerung wird immerhin nun auch in Deutschland wahrgenommen, dass eine ganze Reihe von Untersuchungs- und Behandlungsverfahren von "Nichtärzten" genauso wirksam durchgeführt werden kann wie von approbierten Ärztinnen und Ärzten.

Gesundheitswissenschaftler der Universität Bremen sind der bisher wenig beachteten Frage nachgegangen, wie es generell um das Selbstverständnis der heranwachsenden Medizinergeneration und der hausärztlichen Akteure bestellt ist und wie nach ihrer Wahrnehmung hausärztliche Versorgung in Zukunft aussehen kann.

Heilloses Chaos in der Weiterbildung

Auf den ersten Blick erstaunt, dass die Interviewpartner Schwierigkeiten hatten, den Kern hausärztlicher Tätigkeit klar herauszustellen. Nur indirekt benennen sie die hohe Bedeutung psychosozialer Kompetenzen, indem sie die erlebten Herausforderungen, vor allem bei der Begleitung chronisch Kranker, schildern. Der Erwerb dieser Fähigkeiten wird jedoch nicht als Chance oder Problem beleuchtet, eher vermittelten die Interviews den Eindruck, solche Befähigungen bringe der Arztberuf quasi automatisch mit sich.

Es verwundert fast nicht, welchen geringen Stellenwert theoretische Grundlagen bislang in der Ausbildung zum Allgemeinmediziner haben. Immerhin signalisieren die Interviews, dass die Reformen im Studium langsam greifen: Blockpraktika in der Allgemeinpraxis und die Auseinandersetzung mit Patientenschicksalen schon in der Ausbildung bleiben positiv haften, auch wenn der große Bogen zu einer Theorie der hausärztlichen Versorgung damit noch nicht geschlagen wird.

In der Weiterbildungszeit dominieren andere Sorgen: die anstrengende und häufig frustrierende Suche nach Weiterbildungsstellen und das Gefühl, als billige Arbeitskraft missbraucht zu werden. Insgesamt herrscht bei den angehenden Hausärzten der Eindruck eines heillosen Chaos. Dabei speisen die Kassen und Kassenärztlichen Vereinigungen enorme Mittel in die Weiterbildung ein. Im Lichte der Interviews drängt sich die Frage auf, ob nicht ein radikaler Neuanfang bei Struktur, Inhalt und Ablauf der Weiterbildung versucht werden muss, wie ihn nicht zuletzt die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin seit langem einfordert.

Hohe gesellschaftliche Erwartungen

Zu den Kernthemen, die in Forschung, Lehre und Weiterbildung noch viel zu wenig Beachtung finden, gehört das Feld "Nähe und Distanz in der Allgemeinmedizin". In den Interviews wird sehr deutlich, dass die Befragten um zwei Pole herum gruppiert sind. Die einen verstehen Nähe zum Patienten als das entscheidende Wesensmerkmal hausärztlicher Tätigkeit, die anderen sind besorgt, durch zu große Nähe zu viel an eigener Lebensqualität zu verlieren. Wirft man einen nur flüchtigen Blick auf das gewandelte Krankheitsspektrum in der heutigen Bevölkerung, dann wird deutlich, wie sträflich es ist, ein Training in verlässlicher Begleitung von Kranken zu vernachlässigen.

Hat man letztlich seine Ausbildung erfolgreich durch Chaos, Hindernisse und Zweifel gesteuert, bleibt die Frage nach dem Ort der Niederlassung. Hier unterstützt die Studie die Erfahrungen, dass es ungleich leichter sein wird, Studierende mit Herkunft aus einer ländlichen Region für eine Praxis auf dem Land zu motivieren als Großstadtkinder. Gezielte Rekrutierung und verlässliche Mentorensysteme könnten den Ärztemangel auf dem Land abmildern. Gleichwohl muss realistisch gesehen werden, dass es für die Medizin in strukturschwachen Regionen keine Insellösungen geben kann, wenn alle anderen vitalen Lebensbereiche ein hohes Maß an Ungleichheit gegenüber städtischen Regionen aufzeigen.

Elementar beschäftigt die Befragten, Frauen und Männer, jedoch ein generelles Problem der Lebensplanung. Nicht, dass sie nicht bereit wären, sich den hohen gesellschaftlichen Erwartungen an den Beruf des Hausarztes zu stellen. Sie sehen aber im stationären und im ambulanten Versorgungssektor einen dringenden Bedarf, die Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienarbeit zu verbessern.

Abschied vom alten Hausarztbild

Die Zukunft der hausärztlichen Versorgung, das zeigen auch die Ergebnisse der Studie, hängt von drei großen Faktoren ab. Zum einen, ob wichtige Reformschritte konsequenter als bisher verfolgt werden. Dazu gehören die Reformstudiengänge der Medizin, die den Patienten überhaupt erst in die Ausbildung geholt haben. Oder die Entlastung durch eine verlässliche Regelung der Notarzt-Dienste und Mentorensysteme. Es gibt zweitens richtige Ansätze, die nur zögerlich oder widersprüchlich in die Praxis umgesetzt werden. Dazu gehört das Curriculum Allgemeinmedizin der Ärztekammern, das aber an Prägnanz verloren hat, dazu gehören auch die überwiegend enttäuschenden Versuche, Weiterbildungsabschnitte im stationären und ambulanten Sektor für künftige Hausärzte und Hausärztinnen zu organisieren.

Und es gibt drittens übergeordnete Fragen, deren Lösung noch kaum erkennbar ist. Dazu zählt die zu geringe Bereitschaft, sich in Forschung und Lehre ernsthaft mit einem zeitgemäßen Bild der Hausarztmedizin auseinanderzusetzen. Dazu zählt auch die in Deutschland sehr spät begonnene, vorsichtige und unausgereifte Neuorientierung der Rollen und Zusammenarbeit in der medizinischen Versorgung. Und dazu zählt schließlich die nachhaltige Vereinbarung von Beruf, Familie und Partnerschaft. Das Thema strukturschwache Regionen könnte die Geburtshilfe in der Auseinandersetzung mit derartigen Fragen spielen.

Norbert Schmacke ist Professor im Fachbereich Human- und Gesundheitswissenschaften der Universität Bremen und leitet die Arbeits- und Koordinierungsstelle Gesundheitsversorgungsforschung (AKG). Nach seiner Habilitation in Bremen 1995 war er bis 2003 Leiter des Bereichs Medizin im AOK-Bundesverband.

Maren Stamer ist seit 2005 Wissenschaftliche Mitarbeiterin der AKG. Zuvor war die Diplompädagogin unter anderem Dozentin an der Hochschule Bremen und Mitarbeiterin der Ärztekammer Niedersachsens.

Heidi Niehus war Mitarbeiterin an der AKG und an der vorgestellten Studie beteiligt. Die Diplomsozialpädagogin machte 2007 ihren Abschluss als Magister of Public Health an der Universität Bremen.

Bettina Berger war ebenfalls als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der vorgestellten Studie der AKG beteiligt. Sie promovierte 2008 an der Universität Hamburg im Fach Gesundheit.

Weitere Informationen:
www.akg.uni-bremen.de

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Quelle:
Universität Bremen - impulse aus der Forschung
Nr. 2/2008, Seite 14-17
Herausgeber: Rektor der Universität Bremen
Redaktion: Eberhard Scholz (verantwortlich)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. April 2009

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