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ARTIKEL/1157: Das Lübecker Bürgervotum zur Priorisierung in der Medizin (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 8/2010

Versorgungsdiskussion
Das Lübecker Bürgervotum zur Priorisierung in der Medizin

Von Dirk Schnack


Eine Gruppe von Laien hat sich intensiv mit dem Thema beschäftigt und Empfehlungen erarbeitet. Jetzt hofft man auf eine breite gesellschaftliche Diskussion.

Sie sind Rentner, Polizist, oder Student, ihr Alter liegt zwischen 20 und 76 Jahren. Niemand von ihnen kannte vorher die anderen Mitglieder der Gruppe. Dennoch haben sich 18 Menschen aus Lübeck bereit erklärt, sich an vier Wochenenden in das ihnen bis dahin unbekannte Thema Prioritätensetzung in der medizinischen Versorgung einzuarbeiten und Empfehlungen zu geben.

Das Resultat ist ein Bürgervotum, das von Lübeck ausgehend weite Kreise ziehen könnte. Denn erstmals in Deutschland hat sich eine Gruppe von Menschen so intensiv mit dem Thema beschäftigt und mit einer Stellungnahme Pionierarbeit auf einem Feld geleistet, das bislang Experten vorbehalten war - und das von der Politik gern vermieden wird. Mit-Initiator Prof. Heiner Raspe von der Uni Lübeck hofft, mit der Bürgerkonferenz den Startschuss für eine breite gesellschaftliche Diskussion geben zu können. Er verwies bei der Präsentation der Ergebnisse am 5. Juli in Lübeck auf den Nachholbedarf, den Deutschland gegenüber nordischen Ländern wie Schweden, Norwegen und Dänemark bei diesem Thema hat. Die Diskussion in Deutschland beginne "mit bemerkenswerter Verspätung", kritisierte Raspe.

Zur Vorbereitung hatte das Institut für Sozialmedizin der Uni Lübeck nach dem Zufallsprinzip 3.000 Menschen aus der Hansestadt befragt, von denen rund die Hälfte antwortete. 82 Prozent der Antwortenden wollte mit darüber entscheiden, welche Leistungen die Krankenkassen übernehmen. Rund 200 Menschen äußerten allgemein ein Interesse daran, an der Bürgerkonferenz teilzunehmen. Aus diesem Kreis wurden 40 Personen nach bestimmten Kriterien wie Alter und Geschlecht herausgefiltert, von denen schließlich 20 für das Projekt ausgelost wurden. Auffällig ist, dass nur ein Teilnehmer jünger war als 39 Jahre - das Interesse besonders unter jungen Männern am Thema war äußerst gering, wie Raspe berichtete. Ein Teilnehmer aus dem 20er Kreis schied aus gesundheitlichen, ein weiterer aus unbekannten Gründen aus. Bei der Projektarbeit an den vier aufeinander folgenden Wochenenden kamen dann an verschiedenen Tagen namhafte Experten in die Gruppe, um mit ihr über Themen zu sprechen, die Laien in aller Regel nicht diskutieren: Ethik, Gesundheitssysteme, Wirtschaftlichkeit, Priorisierungstheorie und -praxis. Unter den Fachleuten waren etwa der Transplantationsmediziner Prof. Eckard Nagel aus Berlin und der in Schweden tätige Kardiologe Prof. Jörg Carlsson, aber auch Lübecker Experten wie der Allgemeinmediziner Prof. Martin Träder.

Anschließend kam die Bürgerkonferenz in vielen wichtigen Fragen zu einem Konsens, blieb in manchen Punkten aber auch unterschiedlicher Meinung.

Die wichtigsten Ergebnisse in Kürze: Deutlich wurde, dass das Thema Priorisierung Menschen nach sorgfältiger Diskussion nicht etwa abschreckt, sondern Transparenz und damit Vertrauen in das Gesundheitssystem schafft. Priorisierung beruht nach ihrer Einschätzung auf Grundwerten wie Menschenwürde, Gleichheit, Solidarität, Bedarf, Effizienz, Information, Transparenz und Selbstbestimmung. Der Menschenwürde haben sich nach einhelliger Auffassung der Bürgerkonferenz alle anderen Grundwerte unterzuordnen. Menschen, die sich nicht selbst vertreten können, wollen sie vor Benachteiligung geschützt wissen. Als Kriterien für eine Priorisierung haben die 18 Bürger Lebenserhaltung und Dringlichkeit der Behandlung, bedarfsgerechte Verteilung, Wartezeit, Patientenwille, Lebensqualität, Kosteneffizienz, Innovation und Fortschritt in der Medizin sowie Nachweisbarkeit der Wirksamkeit ausgemacht.

Es gab aber auch Kriterien, bei denen innerhalb der Gruppe unterschiedliche Meinungen auftraten. Kontrovers wurden die Kriterien Eigenverantwortung und Selbstverschulden, familiäre Fürsorge und Berufsfähigkeit diskutiert. Einigkeit bestand wieder zu den Punkten kalendarisches Alter, sozialer Status und Beruf - dies sind nach Auffassung der Bürgerkonferenz keine Kriterien, die bei einer Priorisierung berücksichtigt werden sollten. Nun wünscht sich die Gruppe ein nationales Gremium, das sich mit den gleichen Fragen beschäftigt, Grundwerte und Kriterien zur Priorisierung diskutiert und feststellt. Als Vertreter in diesem Gremium halten sie Verbände, Kammern und Krankenversicherungen für unverzichtbar, aber auch Bürger sollten sich nach ihrer Auffassung beteiligen. Die Einflussnahme von Lobbyisten und medizinischer Industrie wollen sie dagegen kontrolliert sehen. Um Eigenverantwortung zu fördern, halten die Bürger Anreize für eine persönliche Gesundheitsvorsorge und eine gesunde Lebensweise für sinnvoll.

Der Weg zu den Ergebnissen war mühsam, wie Beteiligte bei der Präsentation verrieten. Wie komplex die ihnen auferlegte Aufgabe war, wurde den Mitgliedern spätestens bei der Diskussion von Fallbeispielen deutlich. Die Bürger bekamen zum Beispiel den Auftrag, aus vier geschilderten Einzelschicksalen eine Person auszuwählen, die als erste ein künstliches Hüftgelenk erhalten soll (siehe Kasten). "Zunächst hat man bei dieser Frage schnell aus dem Bauch heraus entschieden. Je mehr man aber über die Hintergründe erfuhr, desto schwerer fiel die Entscheidung für einen Patienten", berichtete Teilnehmer Stefan Jack. Der Verwaltungsjurist stellte zusammen mit Krankenschwester Kerstin Rückert die Ergebnisse der Öffentlichkeit vor. Dabei machten sie deutlich, dass sie und ihre Mitstreiter bei der Diskussion der Beispiele schnell merkten, dass sie an ihre Grenzen stoßen - gefragt waren also Kriterien, um eine Entscheidung treffen zu können. Zugleich wurde ihnen nach Beobachtung von Moderator Jens-Peter Dunst deutlich, welche Verantwortung damit verbunden ist und unter welchem Druck Ärzte bei diesen Fragen stehen. Wie schwierig solche Entscheidungen sind, machte auch die Tatsache deutlich, dass sich die Gruppe am Ende auf keinen Patienten einigen konnte, dem zuerst eine Hüft-OP zusteht.

Ihre Ergebnisse versteht die Gruppe als Votum, mit dessen Hilfe eine breite Debatte angestoßen werden könnte, etwa in Form weiterer Bürgerkonferenzen in anderen Regionen. Ihr Votum wollen sie ausdrücklich als Empfehlung verstanden wissen, nicht etwa als starres System. "Sie sollten Orientierung bieten, im Einzelfall müssen begründete Ausnahmen möglich sein. Der Patientenwille sollte als letzte Instanz der Entscheidung berücksichtigt werden", heißt es in den Empfehlungen aus Lübeck. Zugleich machten sie deutlich, dass Priorisierung nicht hinter verschlossenen Türen und ohne breite Diskussion erfolgen sollte. "Möglicherweise entstehende Prioritätenlisten sollten öffentlich und transparent diskutiert werden, um hiermit Verständnis und Akzeptanz in der Gesellschaft zu erreichen. Priorisierung steht neben dem Bemühen um die Nutzung von Effizienzreserven und soll dies nicht beeinträchtigen."

Auch die Abgrenzung zwischen Priorisierung und Rationierung war den sieben Frauen und elf Männern wichtig. Sie stellten in ihren Empfehlungen klar: "Priorisierung im Gesundheitswesen bezeichnet ein Verfahren, mit dem die Vorrangigkeit bestimmter Erkrankungen, Patientengruppen oder medizinischer Maßnahmen vor anderen festgestellt wird. Priorisierung führt zu einer Rangreihe, in der oben steht, was besonders wichtig ist. Am unteren Ende steht, was weniger wichtig ist oder für verzichtbar gehalten wird. Priorisierung ist zunächst einmal ein gedanklicher Prozess, der eine Ordnung und Gewichtung beinhaltet. Die Priorisierung ist unabhängig von Mitteln und Ressourcen, daher nicht zu verwechseln mit dem Begriff Rationierung. Rationierung meint Vorenthalten notwendiger medizinischer Leistungen aus Knappheitsgründen und bedeutet immer auch eine Zuteilung. Der Begriff ist also von vornherein negativ besetzt und wird somit ungern in der Öffentlichkeit diskutiert".

Die 18 Teilnehmer zogen in ihrer Präsentation ein rundum positives Fazit ihrer Arbeit. Sie hatten herausgefunden, dass in Deutschland Bedarf an Entscheidungshilfen besteht, wie sie sie geliefert haben, und dass sich unsere Gesellschaft dringend darüber klar werden muss, wofür sie das zur Verfügung stehende Geld in der medizinischen Versorgung ausgeben will. Dennoch mischte sich in die Abschlusstreffen auch eine Portion Skepsis, ob die geleistete Arbeit wie erhofft den Anstoß für weiteres Engagement in diesem Bereich geben konnte. Dies soll u.a. dadurch erreicht werden, dass man das Bürgervotum nach der Präsentation an Politiker und Institutionen, darunter auch die Bundes- und Landesärztekammern, verschickte - verbunden mit der Hoffnung, dass von dort weitere Impulse für eine weitere Diskussion kommen. Von den Medien erwarten die Teilnehmer, dass das Thema aufgegriffen wird und damit für die genannten Institutionen mehr Druck entsteht, sich damit zu beschäftigen.

Fest steht bislang aber nur, dass die Ergebnisse der Lübecker Bürgerkonferenz zumindest nicht einfach nur zur Kenntnis genommen werden. Im Rahmen eines wissenschaftlichen Symposiums im Herbst sollen sie in der Hansestadt aus dem Blickwinkel verschiedener Disziplinen kommentiert werden. Dennoch ist wohl nicht zu erwarten, dass Deutschland den Rückstand in der Diskussion über Priorisierung gegenüber den nordischen Ländern schnell aufholen wird.

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Die Mitglieder der Bürgerkonferenz erhielten Fallbeispiele, um Priorisierung konkret zu machen. Eines davon war der OP-Termin für ein künstliches Hüftgelenk. Die Teilnehmer sollten entscheiden und begründen, welcher der Patienten zuerst ausgewählt wird. Alle vier leiden erhebliche Schmerzen, humpeln und bewegen sich nur noch begrenzt außerhalb ihrer Wohnung, werden gelegentlich nachts durch Schmerzen wach. Kein Patient benötigt eine besondere Prothese, in allen Fällen kann man von einem Erfolg der OP ausgehen. Die Bürger wurden aufgefordert zu entscheiden, welcher Patient operiert wird und welche Merkmale dafür ausschlaggebend sind.

1: Die 55-jährige Frau M. leidet seit zehn Jahren an entzündlichem Gelenkrheuma. Trotz zahlreicher Medikamente hat die Erkrankung immer mehr Gelenke befallen. Frau M. musste ihren Beruf als Verkäuferin aufgeben und kümmert sich nun um Mann und Enkel. Jetzt hat die Krankheit auch das linke Hüftgelenk stark angegriffen. Die rechte Seite ist weniger betroffen. Eine OP auf der linken Seite würde helfen: Sie ist mit einem gering erhöhten allgemeinen OP-Risiko verbunden und bedarf einer längeren Reha in einer Spezialklinik. Allerdings wird sie die anderen Gelenke nicht bessern; es bleibt bei erheblichen Schmerzen, Behinderungen und verringerter Lebenserwartung. Frau M. wird sich nach der OP freier und länger außerhalb der Wohnung bewegen, einkaufen und am Rheumafunktionstraining teilnehmen können. Ihre Berufstätigkeit wird sie nicht wieder aufnehmen können.

2: Beim 60-jährigen Herrn B. geht eine Hüftgelenkserkrankung auf eine rasch zunehmende Zerstörung des Gelenkkopfes zurück; im Hintergrund steht ein mehrjähriger Alkoholmissbrauch, den er weitgehend verbergen konnte. Jetzt ist er nach einer Entzugsbehandlung seit einem Jahr "trocken". Er ist als leitender Angestellter tätig, muss nicht viel herumlaufen, in letzter Zeit benutzt er häufiger den Gehstock. Herr B. ist verheiratet und hat zwei noch schulpflichtige Kinder. Durch die OP würde er seine alte Beweglichkeit und Belastbarkeit fast wieder erreichen können. Ein überdurchschnittliches OP-Risiko ist nicht zu befürchten. Eine stationäre Nachbehandlung ist nach Meinung von Herrn B. und seines Orthopäden unnötig; für so etwas habe er "keine Zeit".

3: Der 79-jährige Herr Z. leidet an zunehmendem Verschleiß des linken Hüftgelenks. Er hindert den Rentner an der Ausübung seiner Hauptbeschäftigungen (Gärtnern, Tischlern und unentgeltlich für die Kirchengemeinde arbeiten) und trübt die Lebensfreude erheblich. Die Hilfe seiner jüngeren Frau kann er bei zunehmender depressiver Verstimmung schlecht annehmen. Herr Z. hat mehrere behandlungsbedürftige Risikofaktoren (Übergewicht, Bluthochdruck, Zucker). Vor drei Jahren kam es zum ersten Herzinfarkt; die weitere Lebenserwartung ist eingeschränkt. Die OP ist mit einem erhöhten Risiko verbunden; die von ihm und seinen Ärzten angestrebte Reha mit längerer Nachsorge könnte auch die Risikofaktoren beeinflussen.

4: Bei der alleinstehenden 52-jährigen Frau D. ist die Gelenkerkrankung Folge einer (angeborenen) geringen Belastbarkeit aller Gelenkknorpel. Jetzt ist zuerst das linke Hüftgelenk schlecht geworden. Sie hat erhebliche Schmerzen und kann sich nur noch schwer zum Arbeitsplatz bewegen. Frau D. hängt sehr an ihrem Beruf als MTA, für den sie den ganzen Tag auf den Beinen sein muss. Die OP würde im Bereich der jetzt zuerst betroffenen Hüfte durchgreifend helfen; sie ist risikoarm und bedarf keiner längeren Nachbehandlung; eine ambulante Reha am Wohnort wäre ausreichend und kostengünstiger. Wann andere Gelenke operationsbedürftig werden, ist nicht abzusehen. Weitere Eingriffe sind aber in den nächsten zehn Jahren zu erwarten.

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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 8/2010 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2010/201008/h10084a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Das Bürgervotum zur Prioritätensetzung in der medizinischen Versorgung, vorgetragen vom Verwaltungsjuristen Stefan Jack, der sich wie alle Mitglieder vorher nicht mit dem Thema befasst hatte.

Stefan Jack, Teilnehmer der Bürgerkonferenz, wünscht sich transparente Entscheidungen.

Prof. Heiner Raspe vom Institut für Sozialmedizin hofft auf eine breite Diskussion des Themas.

Mitglieder der Bürgerkonferenz bei der Vorstellung der Ergebnisse in Lübeck.

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt August 2010
63. Jahrgang, Seite 12 - 15
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. September 2010

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