Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → GESUNDHEITSWESEN

POLITIK/1638: Leistungssteuerung in der Gesetzlichen Krankenversicherung (spw)


spw - Ausgabe 8/2008 - Heft 168
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Leistungssteuerung in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV):
Vorfahrt für den Unternehmenswettbewerb oder für eine runderneuerte Selbstverwaltung?

Von Bernard Braun


Seit dem Gesundheitsstrukturgesetz von 1993 ist politisch gewollt, die gesetzlichen Krankenkassen in konkurrierende Unternehmen auf einem Versicherungsmarkt umzuwandeln. Dies wurde durch wesentliche Bestimmungen des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes (GMG) 2004, des Wettbewerbsstärkungsgesetzes 2007 und des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung aus 2008 forciert. Krankenkassen können danach ab dem 1. Januar 2010 Insolvenz anmelden, wenn keine Kapitaldeckung mehr vorhanden ist. Insolvenzfähig waren bisher nur Kassen unter Aufsicht des Bundes wie beispielsweise die DAK, die BEK oder die TKK. Jetzt sollen bei einer Pleite einer Krankenkasse unter Landesaufsicht nicht mehr die Bundesländer haften. In Zukunft sollen die Krankenkassen der jeweiligen Kassenart einspringen, im allergrößten Notfall soll es dann auch finanzielle Hilfen aller im Spitzenverband Bund organisierten Kassen geben, unter anderem durch mögliche Fusionen.

Eine Umkehr wird schwieriger. Zum bisher zentralen Instrument der Kassenwahlfreiheit kommen nun diverse Möglichkeiten hinzu, selektive Verträge schließen zu können, die Arzneimittelversorgung der Versicherten auszuschreiben und günstige Rabattverträge abzuschließen, Bonusprogramme und Selektionsmöglichkeiten im Leistungsbereich anbieten zu können und vor allem auch das Risiko für gesetzliche Krankenkassen, per Insolvenz aus dem Wettbewerb auszuscheiden.

Diese breite Palette von Handlungsmöglichkeiten soll den Krankenkassen ermöglichen, dem Bedarf ihrer Versicherten gerecht werdende Angebote in einem Preis- und vor allem Leistungs- bzw. Qualitätswettbewerb aushandeln und anbieten zu können. Die Versicherten sollen dadurch die Möglichkeit erhalten, ein für sie bedarfsgerechtes, hochwertiges und wirtschaftliches Angebot zu wählen und durch einen Wechsel der Krankenkasse auch leicht erhalten zu können.

Im Idealfall gibt es dann eine Handvoll Kassen, die diese Bedarfe erkennen und entsprechende Angebote haben und deren Marktmacht so stark ist, dass sie die erwarteten "guten" Angebote aushandeln können. Diese Kassen behalten ihre alten und bekommen neue Mitglieder, der Rest hat mehr oder minder existentielle Probleme.


Wenn der Unternehmenswettbewerb dies alles so schaffte, stellte sich zu Recht die Frage, wozu es dann eigentlich noch der GKV als Körperschaft des öffentlichen Rechts und "Solidargemeinschaft" (Paragraph 1 SGBV) bedarf, in der das Leistungsangebot durch VertreterInnen von Versicherten und ArbeitgeberInnen gesteuert wird, die per Sozialwahl oder durch gesetzlich zulässige, aber dem Geiste nach umstrittene Absprachen (Basis für die so genannten "Friedenswahlen") zwischen den sozialpolitischen Organisationen, die berechtigt sind, KandidatInnen aufzustellen, legitimiert wird. Neben den Experten für Haltearbeit, Service, Marketing und Kundenpsychologie bliebe die Selbstverwaltung dann höchstens noch als sozialidyllische Reminiszenz an längst vergangene Zeiten oder wegen der möglichen Beißhemmung gegenüber "verdienten Akteuren" erhalten. Ihr Ende wäre damit aber eingeläutet und in Sichtweite.

Doch funktioniert die moderne "Unternehmens- und Kunden-Krankenkassenwelt" wirklich so wie ihre Propagandisten und Protagonisten es immer wieder apodiktisch verkünden? Bei näherem Hinsehen entstehen massive Zweifel an der Existenz und Wirksamkeit zweier notwendiger Bedingungen für die Funktionsfähigkeit dieser Steuerungsform oder für ihren Nutzen für die Krankenversorgung und damit zumindest an ihrem Monopolanspruch.

Erstens setzt eine erfolgreiche Steuerung durch die Freiheit, zwischen konkurrierenden Kassen wechseln zu können, voraus, dass alle Krankenversicherten oder zumindest eine halbwegs versicherten-repräsentative Mehrheit objektiv und subjektiv die Möglichkeit haben, durch angekündigte oder vollzogene Kassenwechsel ihren "Unternehmen" zu signalisieren, ob ihre Bedarfe befriedigt werden oder nicht. Die bisherige Empirie des Kassenwechsels im GKV-System seit Mitte der 1990er Jahre zeigt aber, dass es bestimmte und qualitativ spezielle Teilgruppen der Versicherten gibt, die ihre Krankenkasse bisher gar nicht oder nur wenig gewechselt haben und es außerdem trotz einer über 10 Jahre existierenden Aufklärung noch eine Reihe von massiven kognitiven Wechselbarrieren gibt.

So nimmt die Wechselneigung mit zunehmendem Alter ab und "gute Risiken", d.h. Versicherte, die am wenigstens Leistungen in Anspruch nehmen müssen und damit auch kaum spezifischen Druck ausüben können, um die Leistungsqualität zu verbessern, haben eine höhere Wechselneigung als "schlechte Risiken". Das vorrangige Wechselmotiv war bisher die Höhe des Beitragssatzes, ohne dass sich die Einkommenshöhe eindeutig auf die Wechselneigung auswirkt.


Die von der Kassenwahlfreiheit erwartete Steuerungswirkung dürfte aber absolut und auf unabsehbare Zeit durch eine Reihe von Fehlannahmen und -verständnissen über die Berechtigung und Wirkung eines Kassenwechsels bei nicht wenigen Versicherten beeinträchtigt werden. Nach einer 2005 durchgeführten Befragung von Versicherten, die ihre Kasse bisher nicht gewechselt hatten, nach den Gründen dieses Verhaltens, konnten lediglich 20 Prozent der Befragten alle vier Fragen, die hier eine Rolle hätten spielen können, richtig beantworten (Braun et al. 2008a): Nur 41 Prozent verneinten richtigerweise die Behauptung, beim Kassenwechsel zwischen gesetzlichen Krankenkassen gingen angesparte Beiträge verloren, immerhin 74 Prozent sagten, es treffe nicht zu, dass langjährige Versicherte mehr Leistungen erhielten als Neuversicherte, 71 Prozent bejahten zutreffend die These, Alte und Kranke zahlten in der GKV dasselbe wie Junge und Alte und nur 50 Prozent der befragten Nichtwechsler waren sich sicher, dass Kassen keine neuen Mitglieder ablehnen dürfen.

Zweitens stellt sich die Frage, ob unter den restlichen Handlungsbedingungen und Ansprüchen an die GKV der Wettbewerb um die beste Qualität und Bedarfsgerechtigkeit insbesondere für chronisch Kranke seit 1993 wirklich oder wenigstens immer besser funktioniert?

Die ständigen Zwänge, unerwünschten Wirkungen des Risikostrukturausgleichs (RSA) insbesondere auf die Versorgung von chronisch Kranken gegensteuern zu müssen oder durch strukturierte Behandlungsprogramme (Disease Management Programme, DMP) die erwünschten Leistungen für einen Teil der chronisch Kranken überhaupt erst in die Gänge zu bringen, lassen Zweifel an einer ausreichenden leistungssteuernden Wirkung des Wettbewerbs aufkommen. Das Transfervolumen des RSA stieg seit 1996 kontinuierlich von 10,5 Mrd. Euro auf 16,4 Mrd. Euro im Jahr 2005 - wobei die größten Steigerungsraten vor 2003 liegen (VdAK/AEV 2007: 10). Ohne die RSA-Ausgleichszahlungen müsste z. B. der Beitragssatz der AOK in den neuen Bundesländern um 7,9 Beitragssatzpunkte höher liegen (VdAK/AEV 2007:14). Das zeigt, dass die unerwünschten Startnachteile einzelner Kassenarten oder Regionen, darunter vor allem auch erhebliche Morbiditätsunterschiede der Versicherten verschiedener Kassenarten, unbeeinflussbar sind. So waren 2007 etwa 28 Prozent der AOK-Versicherten, aber lediglich 18 Prozent der Versicherten von TK und GEK sowie 19 Prozent der BKK-Versicherten nach eigener Bewertung chronisch krank. Damit können wesentliche Teile des Wettbewerbs selbst nach den Kriterien seiner Väter und Mütter nicht funktionieren.

Ob die künftige Kombination der durch den Gesundheitsfonds weitgehend einheitlichen finanziellen Basis mit den Anreizen, die vom morbiditätsorientierten RSA in Richtung Leistungswettbewerb für chronisch Kranke ausgehen sollen, wie erwartet wirkt, weiß niemand. Die Wirklichkeit der seit 1993 ständig angekündigten oder meist lediglich in Gutachten funktionierenden Wirkungen der zahlreichen RSA-Reformen und die sarkastische Debatte um die künftig maßgebliche "zuweisungsorientierte Ausgabenpolitik" rechtfertigen aber schon heute Zweifel an der steuernden Kraft dieses Konstrukts. Zunächst werden nur Leistungen für Kranke ausgeglichen, die an einer von 80 Erkrankungen leiden. Wer an einer der restlichen Erkrankungen leidet, ist zunächst für seine Kasse "uninteressant" bzw. nachrangig interessant. Angesichts des Drucks, möglicherweise wechselrelevante zusätzliche Beiträge zu vermeiden, stehen die Kassen unter massivem Druck, sich vorrangig nur um die Kranken zu kümmern, für die sie überhaupt und wenn ja dann einen möglichst hohen Ausgleichsbetrag aus dem Morbi-RSA erhalten, oder sie müssen umgekehrt versuchen, die Aufwendungen für ihre chronisch kranken Versicherten möglichst unterhalb der standardisierten Leistungsausgaben zu halten und dafür die selektiven Verträge zu nutzen.


Bevor man aber angesichts der vielfältigen Wirkungsdefizite des Unternehmenswettbewerbs ein "Zurück zur Selbstverwaltung" propagiert, stellt sich die Frage, ob die alte Selbstverwaltung überhaupt aktuell in der Lage ist, mit ausreichender normativer Rückenstärkung, entsprechenden Kenntnissen, Qualifikationen und Handlungsfähigkeiten sowie genügend organisatorischen Mitteln eine bedarfsgerechte qualitativ hochwertige und preisgünstige Versorgung zentral mitzubestimmen?

Mit Blick auf die Vergangenheit ist sie das eher nicht. Darin sind sich alle aktuellen Analysen (Braun et al. 2008a und b, GVG 2007 und Schroeder 2008) ihrer Funktionsfähigkeit unabhängig von den daraus gezogenen Schlüssen für Umfang und Tiefe der Reform einig. Dies unterstützen vor allem auch die Ergebnisse einer Befragung von Selbstverwaltern im Vorfeld der Sozialwahl 2005 darüber, ob und wie sie in ihren Organen für wichtige Versichertenbelange initiativ geworden sind: In Handlungsfeldern von großer Relevanz und weitem Handlungsrahmen - wie der betrieblichen Gesundheitsförderung - gaben 27 Prozent der Selbstverwalter im Rückblick auf die letzten Jahre an, allein initiativ geworden zu sein. Im Bereich Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation machten dies noch 24 Prozent. Auf vielen weiteren Sachgebieten lag der Anteil der aktivgewordenen Selbstverwalter wesentlich niedriger: 8 Prozent waren es noch bei der Qualitätssicherung in GKV und Pflegeversicherung und lediglich 5 Prozent bei lebensweltlicher Primärprävention.

Die Selbstverwaltung hat es z.B. in der Vergangenheit nicht verhindern können, dass der erste Anlauf auf die Gesundheitsförderung in den 1990er Jahren gescheitert ist bzw. überwiegend aus mittelschichtorientierten Wohlfühl-Aktionen bestand oder die Krankenkassen erst dann bei einer evidenzbasierten Behandlung chronisch Kranker aktiver geworden sind, als DMP im Rahmen des RSA attraktiver geworden waren. Dies hängt eng damit zusammen, dass viele Selbstverwalter sich mit Vorrang mit ihrer Kasse als "Unternehmen" identifizieren und Mitglieder und Versicherte vor allem als Kunden verstanden werden. Ferner hängt die Handlungsschwäche der Selbstverwaltung als Vertreter der gesundheitlichen und sozialen Interessen von Versicherten, aber auch vom Status quo ihrer überwiegend passiven oder unvollständig transparenten Legitimation, ihrer selbst als unzulänglich erkannten Transparenz über ihre Tätigkeit gegenüber den Versicherten, ihrer von den Selbstverwaltungsakteuren selbst als unzureichend wahrgenommenen Repräsentativität ihres Organs und mit ihrem durch die traditionell etablierten organisierten VersichertenvertreterInnen inhaltlich vorrangig auf die Arbeitswelt fokussierten Verständnis der Aufgaben von Krankenkassen zusammen. So berichten 63 Prozent der Selbstverwalter, dass es regelmäßige Berichte über ihre Tätigkeit in der Mitgliederzeitschrift gegeben habe, nur noch 42 Prozent sagen, es gäbe eine Transparenz über ihre Zusammensetzung und Aufgaben und bei 8 Prozent gab es Selbstverwaltungs-Sprechstunden. Knapp 80 Prozent der befragten Selbstverwalter halten die Präsenz von jungen Selbstverwaltern für zu gering, knapp 30 Prozent bewerten die Präsenz von VertreterInnen mit guten Kontakten zu Versicherten auch als zu gering, aber nur knapp 10 Prozent äußern sich so, wenn es um die Besetzung mit hauptamtlichen GewerkschaftsvertreterInnen geht.

Ohne eine gründliche Reform der Selbstverwaltung könnte also der Versuch, durch sie die Steuerungsdefizite der "Kassen-Unternehmen im Wettbewerb" auszugleichen, vom Regen in die Traufe führen. Um dies zu vermeiden, müssen zwei weitere Fragen geklärt werden: Gibt es nicht doch noch Alternativen zur Selbstverwaltung und wie radikal muss eine Reform der Selbstverwaltung sein?


Hat es also überhaupt Sinn, Selbstverwaltung zu reformieren oder sollte man nicht stattdessen andere Formen wie Aufsichtsräte oder eine Art "Rundfunkrat" bevorzugen? Eine umfangreiche vergleichende Analyse der Wirksamkeit, Akzeptanz und Legitimation aller Modelle zeigt klar eine konzeptionelle Überlegenheit des theoretischen Modells Selbstverwaltung mit Sozialwahlen (vgl. dazu umfassend Braun et al. 2008b) und nicht wenige Funktionsdefizite der genannten Alternativen.

Die Geschichte der schwindenden Attraktivität, Bekanntheit und Wirksamkeit der Selbstverwaltung ist auch eine Geschichte misslungener Verbesserungen technischer und organisatorischer Details sowie rasch wieder vergessener Selbstverpflichtungen zur Reform, welche die bisherigen Akteure bevorzugt im Angesicht der nahezu konstant sinkenden Wahlbeteiligung bei Sozialwahlen verkündeten. An den letzten Sozialwahlen im Jahr 2005 konnten nur rund 40 Prozent der Wahlberechtigten überhaupt wählen. Die VertreterInnen für den Rest der Versicherten kamen durch die bereits erwähnten Absprachen zwischen Listenträgern wie dem DGB oder der Christlichen Arbeitnehmerschaft zustande, nicht mehr KandidatInnen aufzustellen als Sitze vorhanden sind. Die Wahlbeteiligungsangabe bezieht sich auf diese und nicht auf die Gesamtheit der theoretisch wahlberechtigten GKV-Mitglieder. Selbst diese würden aber bei weitem nicht alle Versicherten abdecken, die von Entscheidungen oder Nichthandlungen des Sozialträgers betroffen sind. Die rund 23 Prozent starke Gruppe der Familienversicherten an allen Versicherten sind nämlich bisher - unabhängig von ihrem Alter - nicht wahlberechtigt. Weder an der Erosion der Wahlbeteiligung (zuletzt 2005 30,4 Prozent der Wahlberechtigten und rund 9,74 Prozent der bei verpflichtenden Wahlen Wahlberechtigten) noch an der Unbekanntheit der Sozialwahlen und des Prinzips der Selbstverwaltung bei 44 Prozent (2004) der Bevölkerung, hat sich durch die vereinzelte Einführung von Briefwahlen, Weiterbildungsprogrammen oder die gelegentliche Gründung von Selbstverwaltungsbüros etwas geändert. Ein "weiter so", so der Tenor eines Gutachtens des Kasseler Politikwissenschaftlers und früheren Leiters der Abteilung Sozialpolitik der IG Metall, Wolfgang Schroeder (Schroeder 2008), erscheint weder geeignet die genannten Erosionsprozesse zu stoppen oder gar umzukehren noch ist es eine attraktive Option gegen das politische Ziel, die gesetzlichen Krankenkassen durch Wettbewerb und Kassenwechsel zu steuern und zu legitimieren.

Ein im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) erstelltes Gutachten "Geschichte und Modernisierung der Sozialwahlen" und der Selbstverwaltung schlägt stattdessen eine strukturelle und radikale Reform vor, welche die folgenden Vorschläge beinhaltet:


Die Basis für alle Einzelempfehlungen bildet das Plädoyer, die Sozialwahlen als zentralem und unverzichtbaren Modus der Verwirklichung der Grundkonzeption der Selbstverwaltung in den Trägern der Sozialversicherung beizubehalten und eine Absage an Modelle der Bestellung oder Kooptation. Soziale Selbstverwaltung wird dabei als eine Betroffenen-Selbstverwaltung verstanden, die von der aktiven Mitwirkung der Versicherten und Arbeitgeber lebt, die über die sie repräsentierenden Organisationen umgesetzt wird. Angesichts der bisher im Bewusstsein der meisten Akteure fest und tief verankerten Begründung als Beitragszahler-Selbstverwaltung handelt es sich hierbei um einen radikalen und folgenträchtigen Paradigmawechsel. Dieser Bruch beinhaltet auch eine Relativierung der Arbeitsweltorientierung der GKV und ihrer Selbstverwaltung und eine systematische (Mit-)Berücksichtigung der Lebensweltperspektiven des knappen Viertels der GKV-Versicherten, die nicht erwerbstätig aber auch nicht Rentner sind, aber auch der Lebensweltinteressen der erwerbstätigen Beitragszahler.

Das Plädoyer für die Beibehaltung der Sozialwahlen schließt die Empfehlung ein, die Praxis der Friedenswahlen so weit wie möglich zurückzudrängen und durch Urwahlen zu ersetzen. Eine Erhöhung der Akzeptanz und Effektivität der Arbeit der Sozialversicherungsträger erscheint den GutachterInnen am besten durch kompetitive Wahlen und ein größeres Engagement im Legitimationsprozess zu erreichen zu sein. Dazu bedarf es eines Bündels von aufeinander abgestimmten Modernisierungsmaßnahmen bei den Organen, dem Wahlverfahren und vor allem auch eine wesentlich intensivere Kommunikation zwischen Betroffenen und Selbstverwaltern über die Realität der sozialpolitischen Mitbestimmung vor und zwischen den Wahlen.

Ein Nachtrag für diejenigen, welche das Zusammensitzen und -beraten von VertreterInnen der Versicherten für unmodern oder unwirksam und unwirtschaftlich halten: Die Commerzbank hat Ende Oktober 2008 beschlossen, sich bei ihrer Produktpolitik nicht mehr nur auf Marketingspezialisten, Kundenbefragungen oder die Kundenströme zu verlassen, sondern sich Kunden als Berater ins Haus zu holen. "Wir bilden einen Kundenbeirat für das Privatkundengeschäft", kündigte Privatkundenvorstand Achim Kassow an. Dazu sollen jeweils 20 Kunden gesucht werden, die ab Januar 2009 zweimal im Jahr über die geschäftspolitische Ausrichtung und Produktneuheiten diskutieren", sagte Kassow. "Ich will wissen, was der Kunde will." (Süddeutsche Zeitung vom 26.10.2008)


Dr. rer. pol. Bernard Braun ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für Gesundheitspolitik, Arbeits- und Sozialmedizin im Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen.


Literatur:

Braun, Bernard; Greß, Stefan; Rothgang, Heinz; Wasem, Jürgen (Hrsg.) (2008a):
Einfluss nehmen oder aussteigen? Theorie und Praxis von Kassenwechsel und Selbstverwaltung in der Gesetzlichen Krankenversicherung.
Berlin. Edition Sigma.

Braun, Bernard; Klenk, Tanja; Kluth, Winfried; Nullmeier, Frank; Welti Felix (2008b):
Geschichte und Modernisierung der Sozialversicherungswahlen. Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales.
Bonn (als PDF-Datei erhältlich unter:
http://www.bmas.de/coremedia/generator/26184/f377T_forschungsbericht.html),
(erscheint überarbeitet und gekürzt 2009 im NOMOS-Verlag Baden-Baden).

GVG (Hrsg.) (2007):
Zur Bedeutung der Selbstverwaltung in der deutschen Sozialen Sicherung. Bonn.

Schnee, Melanie (2008): Sozioökonomische Strukturen und Morbidität in den gesetzlichen Krankenkassen.
In: Böcken, Jan; Braun, Bernard; Amhof, Robert (Hrsg.):
Gesundheitsmonitor 2008. Gütersloh. Verlag Bertelsmann Stiftung: 88-104.

Schroeder, Wolfgang (2008):
Zur Reform der sozialen Selbstverwaltung in der Gesetzlichen Krankenversicherung - Kasseler Konzept.
Düsseldorf.

VdAK/AEV (Hrsg.) (2007):
Risikostrukturausgleich: Zahlen, Fakten, Hintergründe: 2005/2006. Siegburg.


*


Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 8/2008, Heft 168, Seite 35-39
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
spw-Verlag / Redaktion GmbH
Abo-/Verlagsadresse:
Postfach 12 03 33, 44293 Dortmund
Telefon 0231/202 00 11, Telefax 0231/202 00 24
E-Mail: spw-verlag@spw.de
Redaktionsadresse:
Müllerstraße 163, 13353 Berlin
Telefon: 030/469 22 35, Telefax 030/469 22 37
E-Mail: redaktion@spw.de
Internet: www.spw.de

Die spw erscheint mit 8 Heften im Jahr.
Einzelheft: Euro 5,-
Jahresabonnement Euro 39,-


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Februar 2009