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POLITIK/1675: Ärztemangel - Ärztliche Tätigkeit im Alter, Chancen und Bedarf (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 7/2009

Ärztemangel - Ärztliche Tätigkeit im Alter Chancen und Bedarf

Die Ärztekammern sieht Dr. Hans Th. Sendler zu diesem Thema in einer Schlüsselrolle.


1. Worum geht es?

Das Thema ist - vielleicht zunächst überraschend auch für die Zeit nach Beginn des Ruhestandes von wachsendem Interesse. Um die Gründe und erste Schlussfolgerungen geht es im Folgenden.

Dass manche gewohnten Begriffe (z. B. "berufliche Tätigkeit", "aktives Berufsleben" "Ruhestand" und "Alter") hier nicht recht passen wollen, deutet an, wie wenig unsere Kultur bislang darauf vorbereitet ist. Und doch ist Tätigkeit im Alter - nicht nur im ärztlichen Beruf - aus nachvollziehbaren Gründen ein unausweichliches Thema. Denn unsere Gesellschaft befindet sich gegenwärtig, auch wenn es uns nicht täglich bewusst wird, in einem dynamischen Prozess der Transformation.

Dieser wird vorangetrieben durch weltweite wirtschaftliche Umstrukturierungen, den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt, Veränderungen der Umweltkoordinaten und nicht zuletzt die demographische Entwicklung. All dies ist umfangreich beschrieben und lange vorhergesagt worden. In seiner Komplexität wird dieser Prozess aber erst nach und nach begreifbar und lässt uns auch in Deutschland nicht mehr los. Er ruft nach intelligenten Lösungen, um unter veränderten Bedingungen auch künftig wirtschaftliche Prosperität und damit relativen Wohlstand, nachhaltige Bewahrung der Natur und gedeihliche Lebensmöglichkeiten zu sichern. Das mag banal klingen, betrifft aber auch das Gesundheitssystem und die ihm korrespondierenden Bereiche in Wissenschaft und Wirtschaft, einschließlich der Gesundheitsversogung gewidmeten spezifischen Dienste und Einrichtungen.

Bei den dadurch ausgelösten Dynamiken sind für das Thema der ärztlichen Tätigkeit im Alter vor allem drei Tendenzen und die aus ihnen erwachsenden Chancen und Fragen bemerkenswert. Denn man liegt wohl nicht grundsätzlich falsch mit folgenden Feststellungen, die sich als in einem inneren Zusammenhang stehend erweisen werden:

Für viele qualifizierte Berufe wächst erkennbar durch die aktuelle Wirtschaftskrise mehr oder weniger abgeschwächt - eine strukturelle Bedarfsunterdeckung. Inzwischen leidet auch die medizinische Versorgung in Deutschland - mit Unterschieden nach Fachgruppen und Spezialisierungen, Berufsfeldern und Regionen - zunehmend unter Ärztemangel. Bundesweit mit zeitlichem Vorlauf in den neuen Bundesländern sind ähnliche Tendenzen und entsprechender Handlungsbedarf erkennbar. Dies ergibt sich ausweislich der allen Ärztekammern mitgliedsbezogen und aggregierbar zugänglichen Informationen insbesondere über die Geburtsjahrgänge, Fachgruppen und Tätigkeiten sowie die Geschlechterverteilung; diese Werte sind unverzichtbare Führungsinformationen geworden. Danach sind schon jetzt und in Zukunft noch verstärkt Lücken in vielen Bereichen ärztlicher Tätigkeit in der ambulanten und stationären Versorgung, den Gutachterdiensten u. a. der Kranken- und Unfallversicherung, in der Arbeitsmedizin, im öffentlichen Gesundheitsdienst, bei der Bundeswehr usw. zu beklagen. Wirkt man diesem Mangel nicht mit allen geeigneten Mitteln entgegen, begünstigt dies neben schmerzlichen Versorgungslücken möglicherweise noch unerwünschte Zweifel und Inakzeptanzen in der Bevölkerung während zugleich Rückhalt für die Durchsetzung legitimer Forderungen vonnöten ist. Ärztliche Tätigkeit im Alter bietet hier Potenzial.
Noch längst ist nicht allen Möglichkeiten der Weg bereitet, die sozialen und wirtschaftlichen Lasten der Altersgesellschaft nach Kräften und Wünschen auf die verschiedenen Altersgruppen zu verteilen. Werden nicht im demographischen Wandel alle beruflichen Fähigkeiten, Erfahrungen und Kräfte bis hinein in das Rentenalter stärker als vordem genutzt, berührt dies Wirtschaft und Gesellschaft zunehmend in ihrer durch Leistung und Zusammenhalt ermöglichten Funktionsfähigkeit. Wir können und dürfen auf den - freiwilligen - Beitrag der Senioren nicht verzichten. Der demografische Wandel bietet wirtschaftlich und kulturell neue Chancen im Interesse der Gesellschaft wie des Einzelnen, auch über entgeltliche Tätigkeit im Alter.
Die Alterswissenschaften weisen auf ermutigende Erkenntnisse über seelische Bereicherung und persönliche Zufriedenheit sowie gesundheitliche Prävention bei gleichzeitigem gesellschaftlichen Nutzen durch berufliche Tätigkeit im Alter hin. Doch werden die Chancen einer aktiven Lebenszeit nach Eintritt in das Rentenalter - auf die breite Bevölkerung bezogen - bei Weitem noch nicht entsprechend ergriffen. Immer mehr hochqualifizierte und erfahrene Ärzte, die die Liebe zu ihrem Beruf nicht mit dem Rentenbescheid verlieren, treten in den Ruhestand. Sie hinterlassen neue Lücken und wären doch gerne noch alternsadäquat tätig oder würden sich dazu anregen lassen. Wird qualifizierten Leistungsträgern aber auch anderen - in unserer Gesellschaft nicht der Weg zur Übung und Pflege ihrer Fähigkeiten und Erfahrungen mit Bedeutung für andere auch im Rentenalter - wenn auch in alternsgerechter Veränderung - geebnet, werden nicht nur Ressourcen, sondern zugleich die beglückende, gesundheitspräventive Wirkung persönlicher Erfüllung verschenkt.

In der Schnittfläche dieser hochaktuellen Situationen und der dadurch herausgeforderten Handlungsansätze liegt das Thema der ärztlichen Tätigkeit im Ruhestand. Schon bisher führen Ärzte dann in einzelnen Fällen bisherige Tätigkeiten aus freien Stücken weiter oder wechseln in andere Berufsfelder. Es geht nun darum, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit dies zu einer breiteren Praxis werden kann. Jeder in dieser Situation wird Antwort auf die Fragen suchen, ob er es will, ob er gebraucht wird und wie das aussehen kann.

Die Gründe für die ärztlichen Berufsangehörigen dazu können vielfältig sein, von der

Fortführung einer erfüllenden Tätigkeit über einen
Beitrag zur Problemlösung in der Altersgesellschaft zum Nutzen anderer, die
Bestätigung durch und für anerkannte Leistungen und die weitere ständige intellektuelle Herausforderung zur Erhaltung der Spannkraft, der Gesundheit und der Lebensfreude bis hin zum
Hinzuverdienst für die Altersversorgung.

Im Folgenden seien zunächst Umfang und Gründe des Ärztemangels daraufhin beleuchtet, ob ärztliche Tätigkeit im Alter überhaupt zu seiner Minderung geeignet wäre (Ziff. 2); nachfolgend werden die Erkenntnisse der gerontologisch und wirtschaftspsychologisch relevanten Wissenschaften mit Bedeutung für die Tragfähigkeit der Arbeit im Alter skizziert (Ziff. 3).

Da jede Detaildarstellung und Wiederholung von anderwärts vielfach erforschten, beschriebenen und zusammengestellten Untersuchungen und Fakten hier den Rahmen sprengen würde, geschieht dies in knapper Form. Dem folgen Hinweise auf sinnvolle Ziele (Ziff. 4), Hindernisse, die diese heute tendenziell vereiteln (Ziff. 5), Verfahrensaspekte bei Schaffung gedeihlicher Rahmenbedingungen (Ziff. 6) und schließlich Klärungsbedarfe zu den erforderlichen Schritten und den Rollen der möglichen Beteiligten bei der weiteren Umsetzung (Ziff. 7).


2. Ärztemangel

Er ist - wenn auch fachgebiets- und funktionsbezogen sowie regional unterschiedlich - nicht mehr zu leugnen. Er ist allerdings - jedenfalls bisher - nicht in erster Linie eine Resultante des demographischen Wandels, wird aber absehbar und einschneidend durch die demografische Entwicklung verstärkt werden. Zu den vielfältigen Ursachen, deren je eigene Herleitung hier vernachlässigt werden kann, zählen u. a.:

Studien- und Arbeitsplatzmotivation des potenziellen ärztlichen Nachwuchses,
wachsende Therapiemöglichkeiten mit differenzierteren ärztlichen Berufsbildern,
materielle Verteilungsauseinandersetzungen, auch der Ärzteschaft untereinander, angesichts zwar älter werdender, aber abnehmender Bevölkerung bei gleichzeitig wirtschaftlich bedingt begrenzten Ressourcen mit Folgen für die Einkommenserwartungen unter
Stigmatisierung eines auf humane Resultate angelegten Berufsstandes durch die Politik (siehe Beratungen des Deutschen Ärztetages 2009),
zunehmende Standardisierungs- und Formalisierungstendenzen für die ärztliche Tätigkeit und verschlechterte Arbeitsbedingungen z. B. im Bereich der vertragsärztlichen Finanzierung und der Krankenhausfinanzierung,
Effizienzresistenz des Gesundheitswesens beim Zusammenwirken der verschiedensten Funktionen und Institutionen in einer Vielzahl typischer Einzelfälle,
wachsender Frauenanteil - sehr zu begrüßen und eigentlich den Mangel mindernd - mit größeren Flexibilitätswünschen in jüngeren Jahren bei noch unzureichenden familienfreundlichen Rahmenbedingungen,
aus diesen und weiteren Gründen Abwanderung in ärztliche Tätigkeitsbereiche außerhalb der Therapie oder ins Ausland).

Diese Faktoren führen zu einer Unterdeckung im ambulanten und stationären Bereich, bei den Gutachterdiensten der Sozialversicherung, im Öffentlichen Gesundheitsdienst, in der Arbeitsmedizin, bei der Bundeswehr usw. Alle Ursachen müssen je für sich geprüft werden, wenn bei älter werdender Bevölkerung und gleichzeitig sinkender Bedarfsdeckung bei ärztlichen Stellen nicht die Funktionsfähigkeit des Systems und die Zufriedenheit der Bevölkerung stärker in Mitleidenschaft gezogen werden sollen.

Es ist allerdings zu vermuten, dass selbst der beste Wille aller Beteiligten, sogar unter Hintanstellung berechtigter eigener Interessen zu Lösungen zu kommen, auf absehbare Zeit die Lücken kaum wird schließen können. Auch wenn alle bisherigen Initiativen auf den Gebieten der Honorarpolitik, der Auslandswerbung, der Rationalisierung, der Verlagerung auf ärztliche Hilfsberufe, des Einsatzes der Telemedizin, der Kinderbetreuung usw. Erfolg hätten, würden deren Wirkungen doch durch die schleichende Alterung der Gesellschaft und auch des ärztlichen Berufsstandes mit zumindest für die nächsten zehn Jahre teilweise alarmierenden Tendenzen vermutlich absorbiert. Entsprechende Initiativen verlieren deshalb nichts von ihrer absoluten Notwendigkeit und Dringlichkeit. Sie sind aber noch nicht hinreichend, um den Ärztemangel zu beheben.

Deshalb sollten auch darüber hinaus Maßnahmen ergriffen werden, die in den Möglichkeiten der ärztlichen Standespolitik und der dazu eingerichteten Körperschaften des öffentlichen Rechts liegen. Niemand wird der zielgerichteten und deshalb legitimen kreativen Phantasie künftig vorab unüberwindliche Grenzen setzen dürfen. Die ärztlichen Organisationen sehen sich hier einer umso größeren Erwartung der Gesellschaft gegenüber, als wegen ihrer öffentlichen Verantwortung und Gemeinwohlausrichtung die öffentlich-rechtliche Organisationsform gewählt wurde. Aber auch freiwillige interessenverbandliche Zusammenschlüsse verbessern ihre Wirkungsmöglichkeiten in der Gesellschaft, wenn sie im Sinne des Allgemeinwohls Beiträge zur Bewältigung solcher Defizite leisten.


3. Gerontologische und wirtschaftspsychologische Erkenntnisse zur Arbeit im Alter

Ältere Ärzte haben - wie alle Angehörigen ihrer Generation auch in anderen Berufen - im Vergleich zu Jüngeren stärkere und schwächere Seiten. Deshalb hat sich allgemein in den Wissenschaften und der Praxis um die Gerontologie, die Wirtschaftspsychologie und die Personalführung das Ziel einer guten Altersmischung zur Optimierung der Leistungsfähigkeit einer Einrichtung herausgebildet.

Die empirisch nachgewiesenen typischen Eigenschaften Älterer fasst z. B. der Heidelberger Altersforscher Andreas Kruse u. a. wie folgt zusammen:

Kompetenz im Umgang mit komplexen, vertrauten Situationen; Entscheidungs- und Handlungsökonomie; gut vorbereitete Entscheidungen; weiter reichende Zeitund Zielplanungen; Überblick über vertraute Arbeitsgebiete wie auch über effektive und handlungsbezogene Strategien zur Bewältigung zugehöriger Problemsituationen; Erkennen eigener Leistungsmöglichkeiten und -grenzen; hohe Motivation im Falle einer als bedeutsam eingeschätzten Tätigkeit; hohe Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber; hohe soziale Kompetenz; hohe zeitliche Verfügbarkeit. Schwächen in der Mechanik der Intelligenz (Merkfähigkeit, schlussfolgerndes Denken, Geschwindigkeit der Wahrnehmung und der Informationsverarbeitung) ließen sich in Teilen durch Stärken in der erfahrungs- und wissensbasierten Intelligenz kompensieren. Die Stärken dieser Pragmatik der Intelligenz seien die Grundlage der Kreativität Älterer. Zudem zeige sich, dass bis in das Alter zahlreiche kognitive Fertigkeiten reaktiviert, gelernt und trainiert werden können.

Es gebe danach aber auch Kompensationsgrenzen im hohen Erwachsenenalter. Altersbedingte Unterschiede fänden sich vor allem bei der Lösung ganz neuer Aufgaben. Und in kognitiv stark belasteten Berufen könne Erfahrung Defizite in der Mechanik der Intelligenz nicht mehr ausgleichen. In Berufen, in denen geschwindigkeitsbezogene und psychomotorische Fähigkeiten betont werden, hohe physische Leistungen erbracht werden müssen und die Tätigkeit auf nur wenige Handgriffe beschränkt bleibt, seien mit Beginn des fünften Lebensjahrzehnts Einbußen der Arbeitsfähigkeit erkennbar. In Berufen mit hohen psychischen und kognitiven Belastungen erbringe mit Beginn des sechsten Lebensjahrzehnts ein wachsender Anteil vergleichsweise schlechtere Leistungen.

Eine US-Studie zu beruflichen Potenzialen im hohen Erwachsenenalter habe acht berufliche Stärken erfolgreicher älterer Mitarbeiter erwiesen: Planungsverhalten und kausales Denken, synthetisches und konzeptuelles Denken, aktive Suche nach relevanten Informationen, Ausüben von Kontrolle, Motivation von Mitarbeitern, Kooperation und Teamarbeit, Modellfunktion für andere Menschen, Selbstbewusstsein und Motivation.

Nötig seien allerdings kontinuierliche Weiterbildung, betrieblicher Gesundheitsschutz und Arbeitsplatzanpassung. Die Unterschiede zwischen den Individuen führten im Alterungsprozess auch zu wachsender Heterogenität.

Die Vorteile altersgemischter Teams ließen sich besonders dort nachweisen, wo sich Jüngere und Ältere mit ihren Stärken gegenseitig ergänzen können. Ältere verbesserten mit ihrer Erfahrung und Gelassenheit das Ergebnis der Gesamtgruppe soweit Andreas Kurse. Der Lüneburger Wirtschaftspsychologe Jürgen Deller bestätigt dies im Wesentlichen implizit mit seinen Arbeiten und Praxisanregungen zum Personalmanagement im demographischen Wandel.

Ohne dies hier für die vielfältigen Facetten ärztlicher Tätigkeit in allen Dimensionen nachzeichnen zu können, spricht doch vieles dafür, dass die ärztlichen Tätigkeiten in der Regel von den Stärken des Alters eher profitieren. Diese potenziellen Stärken geben zudem Hinweise auf zu bevorzugende Einsatzbereiche. Und selbstverständlich hat die ärztliche Fortbildung hier eine zielgruppenbezogene Aufgabe.


4. Mögliche Ziele

Die möglichen Ziele allgemein für die Berufswelt und speziell für die ärztliche Tätigkeit sind ebenso schlicht beschrieben, wie schwierig zu erreichen. Sie lauten:

1. Wie schon für die Menschen im traditionell aktiven Berufsleben gehört die ärztliche Tätigkeit im Ruhestand, die aus freien Stücken eigene Ziele und zugleich den Nutzen für die Gesellschaft verfolgt, zum selbstverständlichen Verhaltenskodex. Die Angehörigen des ärztlichen Berufsstandes wissen darum und bereiten sich rechtzeitig darauf vor. Niemand wird dazu gezwungen, doch jeder, der will, kann dies realisieren, soweit es dazu Möglichkeiten gibt.

2. Es gilt der Grundsatz, dass es auf die zielführende Ermöglichung solcher Tätigkeit unter Beachtung legitimer Anforderungen ankommt, nicht auf die kritiklose Einhaltung sämtlicher für andere Konstellationen entwickelter überkommener Regeln (Vorrang des Ergebnisses vor den Prozeduren, Ansatzpunkt "Outcome statt Input").

3. Der Weg dorthin wird gefördert durch Impulse der Politik, Pilot- und Modellprojekte, Beseitigung von Fehlanreizen und Entwicklung inhaltlicher und verfahrenstechnischer Standards für diesen Teil des Arbeitslebens und seine Integration in die allgemeinen Abläufe (z. B. Anbahnung, wenn Arbeitgeberwechsel oder Eintritt in Angestelltenbeschäftigung erforderlich, Arbeitszeit, Fortbildung usw.), welche die besonderen Interessenlagen und Befindlichkeiten dieser Berufssituation (im Laufe der Zeit anhand einer Vielzahl von Einzelfällen, die die Entwicklung von Typiken und Standards erlaubt) einkalkulieren.

4. Dazu ergreifen auch die ärztlichen Standesorganisationen mit den Ärztekammern an der Spitze die Initiative. In Abwägung der Instrumente und der Rollen der Beteiligten unterstützen sie Pilotverfahren und die spätere Routine unter Nutzung der Erfahrungen aus anderen Berufsbereichen. Sie überwinden dabei Anfangshürden, indem sie bei Institutionen (Arbeitgebern) wie Alterskollegen Anstöße geben und auf eine Vielzahl von Einzelfällen des Einsatzes im Ruhestand hinwirken, damit sich Standards zu den Wünschen der Beteiligten und adäquate Lösungen herausbilden. Sie werben auch über Pressearbeit dafür.

5. Das Bewusstsein bei allen Altersgruppen in der Gesellschaft dafür ist schließlich vorhanden, insbesondere bei den betreffenden Angehörigen des ärztlichen Berufsstandes und bei den Entscheidungsund Funktionsträgern des Gesundheitswesens. Es gibt nach einer mehrjährigen Anlaufphase kompetente Stellen, an die sich Interessenten des Angebots und der Nachfrage bei Bedarf wenden können. Die dabei zu erwartenden Verfahren und Standards werden zunehmend überschaubar und transparent.


5. Hindernisse

Die faktischen, psychologischen und teilweise auch rechtlichen Hindernisse sind von unterschiedlicher Qualität und Bedeutung, bilden jedoch Hemmschwellen, die gegebenenfalls überwunden werden müssen, weil sich die Erscheinungen des Ärztemangels verschärfen werden. Zu diesen Hemmschwellen gehören folgende:

Die diesseits des Rentenalters Lebenden denken mitunter nur vordergründig gerne an die späteren Zeiten. Sie verdrängen dabei in kollektiver Wirkung, zum Teil nicht einmal absichtlich, nicht nur die späteren eigenen Chancen, sondern auch die Leistungsfähigkeit der schon im Ruhestand Befindlichen, die zum Teil unterschwellig als Konkurrenten empfunden werden.
Die gesamte Rechtsordnung, auch die auf die ärztliche Tätigkeit bezogenen Regelungen, stammen großenteils aus Überflusszeiten und sind dem im besten Falle benevolenten Paternalismus stärker verpflichtet als auf Eigeninitiative setzenden gedeihlichen Lösungen förderlich. Sie passen u. U. zum Teil nicht mehr in die auf mehr Flexibilität angelegte moderne Vertrags- und Versorgungslandschaft. Die nach vorn gewandten Ergebnisse des Deutschen Juristentages 2008 haben zu ihrer Überwindung beispielhafte Zeichen gesetzt.
Die Jüngeren trauen den Älteren - wenn auch im Widerspruch zu den ermutigenden Erkenntnissen der gerontologischen und wirtschaftspsychologischen Wissenschaften - nicht genug zu. Und deshalb trauen die Älteren selbst sich nicht genug zu.

Wenn die ärztliche Tätigkeit im Alter sich selbst überlassen bleibt, werden diese Hindernisse - wie auch anderweitig in der Gesellschaft - dazu führen, dass entsprechende Initiativen über den Status quo hinaus nur sehr mühselig in Gang kommen, vielleicht auch in unberufene Hände geraten. Die ärztliche Tätigkeit im Alter wird dann auf lange Zeit den ihr möglichen, zuvor umrissenen Beitrag nicht leisten. Ihre Initiative ist deshalb erforderlich, wenn die Ärztekammern einen entsprechenden Beitrag zur Minderung des Ärztemangels und zur Zufriedenheit ihrer Mitglieder im Ruhestand bejahen.

Bei der näheren Betrachtung und Beseitigung dieser und weiterer Hindernisse muss geprüft werden: Was kann von allein passieren? Was muss angeschoben werden? Wo müssen gegebenenfalls Impulse aus der Standespolitik gesetzt, wo gar Rechtsvorschriften geändert werden?


6. Verfahrensaspekte für gedeihliche Rahmenbedingungen

Welche Fragen stellen sich vor allem? Bei der Lösung könnten bewährte organisatorische und Finanzierungstechniken einbezogen und zugleich die für eine solche Entwicklung auch erforderliche Kreativität in Rechnung gestellt werden, um die Anfangsschwellen zu überwinden. Folgende Fragen stellen sich:

1. Welcher Art werden die Wünsche einer breiten Mehrheit der Ärzte im Ruhestand sein? Wahrscheinlich wird der überwiegende Teil, selbst wenn Interesse vorhanden ist, mit dem Berufsleben nicht einfach wie bisher weitermachen wollen, auch weil das niemand muss. Zu erkunden wäre deshalb jedenfalls in den ersten Jahren einer solchen Initiative, welche Ärzte (z. B. der Altersstufen 63 bis 70) welches Interesse haben, unter welchen Bedingungen auf welchen Feldern tätig zu sein. Die ärztlichen Standesorganisationen verfügen für ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereich über genügend Kenntnisse zu Fachgruppen und Tätigkeiten, Geburtsjahrgängen usw. ihrer Mitglieder, sodass diese gezielt nach ihren Wünschen, Erwartungen, Präferenzen usw. gefragt werden könnten.

2. Welche Institutionen, Unternehmen etc. bzw. Arbeitgeber im Einzelnen können sich unter welchen Bedingungen entsprechende Beschäftigungsverhältnisse vorstellen? Das sollte allerdings eine Ärztekammer zur Vermeidung von Interessenkonflikten im Mitgliederkreis nicht unbedingt selbst erkunden, könnte es aber ideell und von den Einzelfällen abstrahiert z. B. durch Pressearbeit unterstützen. Es könnte darum gehen, den auf Anfrage interessierten Ärztinnen und Ärzten in den ersten Jahren den Weg ebnen zu helfen, damit der Anfangsimpuls nicht in Enttäuschung, sondern in Erfüllung mündet. Nur dann kann auch der Ärztemangel effektiv gemildert werden.

3. Die angestrebten Verbesserungen (Minderung des Ärztemangels in den verschiedenen Regionen und Tätigkeitsbereichen) sollten auch bei Ausgestaltung in der Sache ohne Scheuklappen entscheidungsleitend sein. Bisherige Routinen bis hinein in die Arbeitsorganisation z. B. im Krankenhaus, in der vertragsärztlichen Praxis, im MVZ, in den Arbeitsmedizinischen Diensten, im Öffentlichen Gesundheitsdienst usw. könnten gegebenenfalls überprüft werden, um die Interessen - anfangs vielleicht in Pionierarbeit - zueinander zu bringen.

4. Aber auch zielführende Verfahren, wie die Interessen ausgehandelt werden und entsprechende Verträge zustande kommen können, sollten für das besonders sensible Feld ärztlicher Tätigkeit im Alter erprobt werden. Nur bei erfolgreicher Zusammenführung sind die Ziele erreichbar. Dazu gibt es im nichtärztlichen Bereich inzwischen durchaus Erfahrungswerte, an die für spezifische Lösungen im ärztlichen Bereich angeknüpft werden kann.

5. Für eine solche Entwicklung sollte jemand die Initiative ergreifen. Dies könnte insbesondere die Ärztekammer in ihrer Verantwortung für alle Angehörigen des ärztlichen Berufsstandes in einer Region sein. Sie müsste dann keineswegs alle Folgeschritte in ihrer Regie behalten, könnte aber durch Beteiligung am Prozess und dessen Beobachtung darüber wachen, dass Fehlentwicklungen vorbei an der Qualitätssicherung durch die Ärztekammer und den Fortbildungsbeauftragen vermieden bleiben.

6. Das betrifft auch die Frage, wer die hier jedenfalls in den ersten Jahren erforderliche Erkundung entsprechender Arbeitsplatzangebote übernimmt und wer für die sachkundige Zusammenführung der Interessen (Vermittlung) verantwortlich sein sollte. Zu erwägen ist, ob diese Rolle nicht anderen übertragen werden sollte. Beides liegt weiter von den klassischen Aufgaben der Ärztekammern weg. Die Kammern könnten zudem bei der Sondierung von Arbeitsplatzangeboten und auch bei der Vermittlung im Einzelfall in Interessenkonflikte mit Teilen ihrer Mitglieder geraten. Sie könnten deshalb für die Pilotphase anstoßen, dass bestimmte andere Funktionsträger diese Aufgabe erfüllen. Z. B. könnten die interessierten Mitglieder gebeten werden, ihre Interessenbekundung direkt einem Vermittlungsportal zur Verfügung zu stellen.

7. Ein solches Verfahren kann in den ersten Jahren bis zur Entwicklung von Routinen und Standards aufwendiger sein. Die anfallenden Kosten müssen finanziert werden. Dabei könnten durchaus mehrere Mechanismen zusammenwirken. Die Kammern könnten sicher ihre Initiativ-, Befragungs- und Begleitfunktionen im Interesse ihrer Mitglieder, die ja im Rahmen ihrer satzungsgemäßen Sachwaltungsrolle liegen, aus Pflichtbeiträgen finanzieren. Das dürfte aber nicht in gleicher Weise für die Stellensuche und die Vermittlung gelten, für die deshalb nach anderen Mechanismen Ausschau zu halten ist, die sich auch für eine Dauerroutine eignen. Vermutlich sind sie mangels anderer Finanzierungsquellen im Bereich arbeitsmarktadäquater Techniken (Klärung nach Angebot und Nachfrage im Wettbewerb) zu suchen, soweit sich dagegen nicht prinzipielle Bedenken ergeben.

8. Schließlich ist zu fragen, ob sich gegen ein solches Projekt ethische oder sozialpolitische Bedenken ergeben. Wenn der Staat oder die in ihn eingeordneten Organisationen öffentlich-rechtlichen Charakters mit den öffentlich verantworteten Mitteln Rahmenbedingungen setzen, kann den gesellschaftlichen und wettbewerblichen Kräften die Umsetzung überlassen bleiben, entsprechend den Grundprinzipien des Tarifrechts und der Vertragsfreiheit. Die unmittelbar Beteiligten klären dann im zugelassenen Rahmen ihre Interessen vertraglich. Wo sich Angebot und Nachfrage mit den hier noch zu entwickelnden Standards einpendeln, kann abgewartet werden. Bei drohenden Risiken kann jederzeit mit den probaten Mitteln eingegriffen werden. Einschlägige Bedenken sind insoweit bisher nicht erkennbar.


7. Klärungsbedarfe

Aus diesen Verfahrensaspekten ergibt sich im Ergebnis eine überschaubare Zahl von Fragen, auf die Antworten zu finden sind.

Sie gehen davon aus, dass

dem Ärztemangel auch durch ärztliche Tätigkeit im Alter entgegengewirkt werden kann;
die ärztliche Tätigkeit im Alter zwar lediglich ein Mittel unter mehreren ist, jedoch auf sie aus vielfältigen Gründen, insbesondere im Zusammenhang mit der demographischen Entwicklung, nicht verzichtet werden kann und es sich um einen allgemeinen Trend in der Gesellschaft handelt;
die ärztlichen Standesorganisationen mit den Ärztekammern diesen Prozess nicht sich selbst überlassen, sondern die Initiative ergreifen sollten;
dazu die Rollen der Organisation und Finanzierung im Zusammenwirken mit anderen Funktionsträgern zu klären sind.

Die anstehenden Fragen sind sämtlich lösbar, und deshalb besteht kein Grund, von einer entsprechenden Initiative Abstand zu nehmen:

Wie sollte die Initiative konkret aussehen?
Wer sollte sich in den ersten Jahren um geeignete Plätze für die ärztliche Tätigkeit im Alter kümmern?
Wer sollte den Prozess der Vermittlung von Angebot und Nachfrage durchführen?
Wer sollte je nach Verfahren welche Kosten aus welchen Mitteln tragen?

Diese Fragen sollten mit zielorientierter Klarheit nach der erforderlichen Diskussion beantwortet werden. Die Ärztekammern haben hier eine Schlüsselrolle. In dem eingangs angedeuteten, längst eingeleiteten Transformationsprozess sollten sie diese auch für die ärztliche Tätigkeit im Alter wahren.


Hans Th. Sendler, Eusendor, Berlin, www.eusendor.com


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 7/2009 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2009/200907/h090704a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Juli 2009
61. Jahrgang, Seite 37 - 42
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. September 2009