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FORSCHUNG/585: Antibiotika-Resistenzen - "Höchste Zeit zu handeln!" (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 9/2015

Antibiotika-Resistenzen
"Höchste Zeit zu handeln!"

Von Uwe Groenewold


Wissenschaftler diskutierten über die Konsequenzen eines leichtfertigen Umgangs mit Antibiotika.


Infektionskrankheiten sind jährlich für mehr als zehn Millionen Todesfälle weltweit verantwortlich. Eine zentrale Ursache für das globale Aufflammen von Infektionskrankheiten ist der leichtfertige oder unsachgemäße Gebrauch von Antibiotika, in dessen Folge antibiotikaresistente Krankheitserreger entstehen. Ob und wie diesem Problem begegnet werden kann, diskutierten Experten kürzlich bei einer Veranstaltung der Akademie der Wissenschaften im Erika-Haus des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE).

Um das Problem greifbar zu machen, schilderte Prof. Ansgar Lohse, Direktor der I. Medizinischen Klinik des UKE, den Fall eines organtransplantierten Patienten, der nach 132 Tagen antibiotischer und immunsupprimierender stationärer Behandlung zunächst entlassen und wenige Tage später mit einer Sepsis wieder in die Klinik eingeliefert wurde. Seine Harnwege waren mit Klebsiella pneumoniae, einem gramnegativen Erreger, besiedelt. "Eigentlich ein Allerweltskeim, auf den Antibiotika gut ansprechen. In diesem Fall war es anders", sagte Lohse. Aufgrund der Schwere der Erkrankung habe man das Augenmerk vollständig auf die Infektionsbekämpfung legen müssen und die eigentliche Therapie nach Organtransplantation sei in den Hintergrund gerückt: "Wir waren gefesselt durch den antibiotikaresistenten Keim, mussten eine weitere Schwächung der Immunabwehr unbedingt verhindern."

Schließlich sei es jedoch gelungen, mit einem intravenös applizierten Antibiotikum den Keim in den Griff zu bekommen. "Wir geraten im klinischen Alltag immer häufiger in Situationen, in denen Keime nur noch auf ein oder zwei Antibiotika ansprechen", so Lohse. Es fehle an effektiven oralen Langzeittherapien, neue Antibiotika seien dringend notwendig. Sein Appell: "Es ist höchste Zeit zu handeln!"

Prof. Werner Solbach, Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene des UKSH, Campus Lübeck, erinnerte daran, dass "Bakterien unsere Freunde" und von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung und Ausbreitung des menschlichen Immunsystems sind. Unmittelbar nach der Geburt komme der Mensch erstmals in Kontakt mit Bakterien, in den ersten zwei bis drei Lebensjahren werde die Darmschleimhaut mit Hunderten von Billionen unterschiedlichster Bakterien besiedelt. Das sogenannte Mikrobiom, die Lebensgemeinschaft aller Bakterien, gestalte sich von Mensch zu Mensch unterschiedlich, in aller Regel interagieren Mensch und Mikroben in "Vielfalt und Eintracht". Erst wenn Bakterien die Hautbarriere oder die Darmwand durchdringen, entwickle sich eine Infektion. Mit der Entdeckung des Penicillins 1928 durch den schottischen Wissenschaftler Alexander Flemming bekam die Medizin erstmals ein potentes Gegenmittel an die Hand. Seit den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts werden Antibiotika zur Behandlung bakterieller Infektionen eingesetzt.

Weltweit beobachten Fachleute und Behörden die Ausbreitung bakterieller Krankheitserreger, die gegen gängige Antibiotika weniger empfindlich oder resistent sind. Die Entstehung und Verbreitung von Antibiotikaresistenzen wird durch einen übermäßigen und unsachgemäßen Gebrauch von Antibiotika in der Human- und Veterinärmedizin beschleunigt. Kommen zusätzlich auch noch Hygienemängel hinzu, können sich die resistenten Erreger in Windeseile ausbreiten. Ein gewaltiges Problem, wie Solbach auf der Veranstaltung in Hamburg deutlich machte: "Je mehr Antibiotika wir heute einsetzen, desto unwahrscheinlicher ist es, dass wir morgen noch welche haben, die ihre Wirkung nicht verfehlen."

Das europäische Netzwerk ESAC-Net (European Surveillance of Antimicrobial Consumption) überwacht den Antibiotikaverbrauch im stationären und ambulanten Bereich in der Humanmedizin. Aktuelle Daten zeigen den höchsten Antibiotikaverbrauch in den südeuropäischen und den geringsten in den skandinavischen Ländern sowie den Niederlanden; Deutschland hat einen mittleren bis geringen Antibiotikaverbrauch im ambulanten Bereich. Verglichen mit anderen europäischen Ländern werden in Deutschland im ambulanten Bereich jedoch häufiger Reserve- bzw. Breitspektrum-Antibiotika verordnet. Rund ein Drittel aller Krankenversicherten bekommt pro Jahr ein Antibiotikum verordnet, Expertenschätzungen zufolge seien etwa 30 Prozent davon nicht notwendig, etwa wenn eine virusbedingte Erkältung antibiotisch behandelt wird.

Der Einsatz von Antibiotika wirkt sich auf die Resistenzbildung aus: Wenn empfindliche Bakterien abgetötet werden, können sich die resistenten ungehindert vermehren und ihre Resistenzfaktoren weitergeben. Krankenhäuser und Altenheime sind zwangsläufig Orte, an denen immer wieder Erreger auftreten, die gegen viele oder sogar alle Antibiotika unempfindlich sind. Der hohe Antibiotikaeinsatz in den Krankenhäusern fördert deren Selektion. Kommen Hygienemängel hinzu, können sich diese Infektionserreger ausbreiten. Versagt eine antibiotische Therapie, hat dies für Patienten schwerwiegende, häufig sogar tödliche Folgen. Die Heilung verzögert sich, weitere Behandlungen sind erforderlich. Schätzungen für Deutschland gehen davon aus, dass jährlich 400.000 bis 600.000 Patienten an Infektionen erkranken, die durch antibiotikaresistente Keime verursacht werden. Die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH) nennt höhere Zahlen. Sie geht sogar von 900.000 Infektionen und mindestens 30.000 Todesfällen jedes Jahr aus.

Auch der nur wenig gebremste Einsatz von Antibiotika in der Nutztierhaltung und bei der Lebensmittelproduktion begünstigt die Verbreitung von Antibiotikaresistenzen. Resistente Bakterien können von Tieren auf den Menschen und auch umgekehrt übertragen werden. Eine Übertragung ist nicht nur bei Kontakt mit einem infizierten Tier möglich, sondern auch durch den Kontakt mit dem Fleisch geschlachteter Tiere, das mit resistenten Erregern kontaminiert ist, oder durch den Verzehr kontaminierter Lebensmittel. Resistente Erreger können auch in die Umwelt gelangen, seit dem Beginn des Einsatzes von Antibiotika in der Medizin in den 40er Jahren haben Resistenzen in den Böden stetig zugenommen. Die Umwelt beherbergt ein Reservoir an Resistenzfaktoren, dessen Dynamik die Wissenschaft bislang nur unzureichend versteht. Fest steht aber: Die Pfade, über die Antibiotika in die Umwelt gelangen können, sind vielfältig. Der Organismus verstoffwechselt antimikrobielle Wirkstoffe nur zum Teil; ausgeschiedene Substanzen gelangen über Kläranlagen in Gewässer und durch Klärschlamm in den Boden. Inwiefern Abwässer zur Resistenzproblematik beitragen, ist wissenschaftlich jedoch noch nicht belegt.

Was kann man tun? Für Solbach sind zunächst vier Punkte maßgeblich:

  • Infektionskrankheiten vermeiden bzw. verhindern, etwa durch verstärkte Hygienemaßnahmen, Impfungen oder Lebensstilanpassungen.
  • Dann müssten Antibiotika "unter Naturschutz" gestellt werden, sie seien ein schützenswertes Allgemeingut, mit dem sorgsam umgegangen werden müsse.
  • Insgesamt solle die Antibiotikaverordnung deutlich zurückgefahren werden.
  • Es müssten neue Antibiotika, besser noch möglichst breit wirksame "Metabiotika" entwickelt werden.

Der richtige Umgang mit Antibiotika sei eine globale Herausforderung, die 2008 gestartete "Deutsche Antibiotika Resistenzstrategie (DART 2020)" ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, meint Solbach. Die Arbeitsgruppe "Infektionsforschung und Gesellschaft" der Hamburger Akademie hat übrigens an den Empfehlungen für DART 2020 mitgewirkt. Die im Mai 2015 vom Bundeskabinett beschlossene Strategie ist darauf ausgerichtet, die Entstehung und Ausbreitung von Antibiotikaresistenzen zu verhindern. Sie sieht verschiedene Maßnahmen vor, die parallel in der Human- und Veterinärmedizin ansetzen. Außerdem soll die Strategie dazu beitragen, die Forschung und Entwicklung neuer Antibiotika, alternativer Therapiemethoden und schnellerer Testverfahren zu verstärken.

Auch die Medikamentenentwicklung und die Rolle der pharmazeutischen Industrie war ein intensiv diskutiertes Thema während der Veranstaltung im UKE. In diesem Zusammenhang wurde u. a. angesprochen, dass sich die pharmazeutische Industrie in den vergangenen Jahren international zunehmend aus der Erforschung und Entwicklung von Antibiotika verabschiedet hat. Als Ursachen hierfür wurden in Hamburg beispielsweise die hohen Entwicklungskosten genannt, die sich aufgrund einer eingeschränkten Indikation (Einstufung als Reserve-Antibiotikum) und der kurzen Verordnungsdauer im Gegensatz zu anderen Arzneimitteln nur langsam amortisieren.

Dr. Hinrich Habeck, Managing Director von Life Science Nord, kritisierte, dass sich viele Pharmafirmen weitgehend aus der Entwicklung neuer Antibiotika zurückgezogen haben. Dies habe in aller Regel rein unternehmerische Gründe. In akute Infektionen zu investieren sei nicht mehr attraktiv genug, chronische Erkrankungen seien wesentlich lukrativer. "Das Problem können wir auf die Schnelle nicht beheben", sagte Habeck. Er plädierte auf der Veranstaltung für ein Private Public Partnership, öffentliche und private Gelder müssten für die Entwicklung zusammengebracht werden. Die "Brainpower" öffentlicher Forschungseinrichtungen weltweit müsse genutzt werden; gleichfalls erhofft er sich aber auch viele wissenschaftliche Initiativen von kleinen Firmen mit engagierten Wissenschaftlern.

Prof. Carsten Claussen, Leiter des Fraunhofer IME-Screening Ports Hamburg, hat seine Mitarbeit bei der Entwicklung neuer Antibiotika angeboten. "Die Ideen für neue Medikamente kommen aus der Wissenschaft." Das Fraunhofer-Institut für Molekularbiologie und Angewandte Ökologie (IME) suche und entwickle kleine Moleküle, die ins Bakterium eindringen und einen Mechanismus zu dessen Bekämpfung aktivieren. Von der Grundlagenforschung an Krankheitsursachen bis zur Entwicklung von Medikamenten durch Pharmafirmen sei es jedoch ein weiter Weg mit vielen verschiedenen Partnern, gab Claussen in Hamburg zu bedenken. "Wenn ein solcher Prozess insgesamt rund 15 Jahre dauert, sind wir etwa ein Jahr daran beteiligt."

"Wir geraten im klinischen Alltag immer häufiger in Situationen, in denen Keime nur noch auf ein oder zwei Antibiotika ansprechen."

Einen Vergleich zur Virusforschung zog Prof. Ansgar Lohse. "Da finden sich viele Parallelen. In den 40er, 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, während der Blüte der Antibiotikaforschung, waren wir gegen viele Viren völlig hilflos. HIV hat uns alle wahnsinnig erschreckt, weltweit sind viele Menschen daran gestorben. Heute ist es jedoch nur noch eine ökonomische Frage, ob die Menschen überall die notwendigen Medikamente bekommen - mit einer einzigen Tablette lässt sich die Erkrankung unterdrücken. Gegen viele bakterielle Erreger sind wir dagegen heute nahezu machtlos."

Sowohl dieses Beispiel als auch das der erfolgreichen Medikamentenentwicklung gegen Hepatitis C zeigten, dass man erfolgreich sein könne, wenn man in die medikamentöse Entwicklung investiere, sagte Lohse. Aber es könne nicht der richtige Weg sein, dass solche Investitionen nur getätigt werden, wenn sie sich für die Unternehmen auch lohnten.

"Wir brauchen neue Geschäftsmodelle! Es gibt bestimmte Dinge, die kann der Markt nicht lösen", sagte Lohse. Das Problem müsse nicht schnell, sondern nachhaltig gelöst werden, denn auch in 100 Jahren werde es noch behandlungsbedürftige Infektionen geben. Lohse sagte weiter: "Neue multiresistente Keime sind drohende Katastrophen, vor denen wir uns schützen müssen. Dafür gibt es nicht DIE eine Maßnahme, das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe."

Für eine Intensivierung der Grundlagenforschung plädierte Mikrobiologe Solbach. "Translationale Forschung - nur das ist wertvoll, was schnell beim Patienten landet - halte ich für eine Modeerscheinung." Viele Zusammenhänge bei der Resistenzentwicklung seien noch unverstanden, hier sei die Wissenschaft gefordert. "Neue Wirkstoffe benötigen eine starke Grundlagenforschung. Für die erfolgreiche Medikamentenentwicklung gehören immer beide Akteure - Akademie und Industrie, Grundlagenforscher und anwendungsorientierte Forscher - zusammen."

Zur Akademie der Wissenschaften Hamburg gehören Wissenschaftler aus dem gesamten norddeutschen Raum. Die Akademie fördert Forschungen zu gesellschaftlich bedeutenden Zukunftsfragen, intensiviert die Zusammenarbeit zwischen den Fächern, Hochschulen und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen und stärkt den Dialog zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Die Grundausstattung der Akademie wird von der Freien und Hansestadt Hamburg finanziert. Mit der Veranstaltungsreihe "Akademie im Gespräch" will die Akademie in einen Dialog mit Repräsentanten der Wirtschaft treten. Weitere Informationen im Internet: www.awhamburg.de.


Uwe Groenewold

(UKE-Unternehmenskommunikation)


INFO

1928
entdeckte der schottische Wissenschaftler Alexander Flemming das Penicillin.

30 %
der in Deutschland verordneten Antibiotika halten Experten für nicht notwendig.

30.000
Menschen sterben nach DGKH-Schätzungen jährlich an Infektionen, die durch Antibiotika-resistente Keime verursacht werden.

2008
startete die Bundesregierung die Deutsche Antibiotika Resistenzstrategie (DART 2020). Sie enthält ein Bündel von Maßnahmen, um Antibiotika-Resistenzen in Deutschland zu erkennen, zu verhüten und besser bekämpfen zu können. Sie soll dazu beitragen, die Forschung und Entwicklung neuer Antibiotika, alternativer Therapiemethoden und schnellerer Testverfahren zu beschleunigen. Außerdem sieht sie verschiedene Maßnahmen vor, die in der Human- und Veterinärmedizin ansetzen.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 9/2015 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2015/201509/h15094a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
68. Jahrgang, September 2015, Seite 28 - 29
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Oktober 2015

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