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KREBS/909: Der Krebsinformationsdienst - "Das gab es in ganz Europa nicht" (einblick - DKFZ)


"einblick" - die Zeitschrift des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), Ausgabe 1/2011

"Das gab es in ganz Europa nicht"

Interview über die ersten Jahre des Krebsinformationsdienstes


Vor 25 Jahren war es für Krebspatienten noch sehr schwer, Informationen über ihre Krankheit oder einen kompetenten Ansprechpartner für ihre Probleme zu finden. Dann, im Mai 1986, startete der Krebsinformationsdienst (KID) des Deutschen Krebsforschungszentrums - anfangs mit nur einem Büro, ohne Computer und ohne Internet. Über die schwierigen ersten Jahre sprach "einblick" mit Hilke Stamatiadis-Smidt, damals Leiterin der Presseabteilung des Krebsforschungszentrums, und Professor Harald zur Hausen, damals Vorstandsvorsitzender des Hauses.


Schüchtern stand das Ehepaar in der Tür. Die Frau sagte, ihr Mann habe Krebs und sie seien von weither nach Heidelberg gekommen. Denn hier sei doch das Zentrum für Krebs, sie hätten in der Zeitung davon gelesen und wollten sich informieren, über die Krankheit und was man dagegen tun kann. Sie wüssten so wenig darüber, nur, dass es wohl schlimm sei. Die Eheleute waren von Etage zu Etage, von Labor zu Labor geirrt, bis ihnen ein Wissenschaftler geraten hatte: "Gehen Sie doch in die Pressestelle, vielleicht können die Ihnen weiterhelfen. Wir forschen hier nur."


einblick: Frau Stamatiadis, war diese Geschichte, die sich vor 25 Jahren ereignete, typisch für das Haus und die Zeit damals?

Stamatiadis-Smidt: Ja. Die Menschen kamen hierher und dachten, bei den Wissenschaftlern im Zentrum würden sie erfahren, was sie gegen ihre Krebserkrankung oder die eines Angehörigen tun können. Als ich 1976 als Pressereferentin im Krebsforschungszentrum anfing, erlebte ich, wie die Leute direkt im Labor bei den Forschern anriefen. Die waren natürlich ratlos angesichts der sehr persönlichen Fragen, die ihnen gestellt wurden. Es kamen auch Briefe von Krebspatienten bei uns in der Pressestelle an. Die haben wir gesammelt und einem pensionierten Arzt übergeben, der sich ihrer annahm. So haben die Menschen wenigstens eine Antwort bekommen - aber das war natürlich keine befriedigende Lösung. Es war klar, da musste irgendwas geschehen.

zur Hausen: Auch ich habe persönlich immer wieder solche Anfragen erhalten und stets versucht, sie zu beantworten. Aber oft handelte es sich um sehr spezifische klinische Fragen, die man aus eigener Kompetenz nicht beantworten konnte. Es erwies sich als immer notwendiger, dies in irgendeiner Form zu organisieren.

Stamatiadis-Smidt: Das Reden über Krebs war ein generelles Problem damals. In den 1980er Jahren war das Thema stark tabuisiert und die Informationen darüber waren spärlich, sehr viel spärlicher als heute. Uns drückte diese Situation sehr.

einblick: Was haben Sie unternommen?

Stamatiadis-Smidt: 1982, auf dem 13. Internationalen Krebskongress in Seattle, sprachen Vertreter aus verschiedenen Ländern zum Thema Krebsinformation für Bürger. Auch Paul van Nevel vom amerikanischen National Cancer Institute war dabei. Er berichtete von einem Krebsinformationsdienst, der bereits seit sechs Jahren in den USA existierte. Das Besondere daran war, dass es sich um einen Telefondienst handelte. Die Fragen der Anrufer beantworteten Laien, die von den exzellenten Rechercheuren und Kommunikationsleuten des NCI mit allen nötigen Informationen versorgt wurden. Ich war begeistert.

einblick: Auf dem Kongress trafen Sie auch die Pychoonkologin Dr. Almuth Sellschopp.

Stamatiadis-Smidt: Frau Sellschopp leitete damals die psychosoziale Nachsorgeeinrichtung für Krebskranke im Tumorzentrum Heidelberg/Mannheim. Sie beschäftigte sich schon lange aus wissenschaftlicher Sicht mit der Frage, wie das Wissen über Krebs und die verständliche Vermittlung dieses Wissens helfen können, etwa die Angst vor der Krankheit zu mindern und das Leiden besser zu bewältigen. Wir entschieden beide spontan, nach New York ins Sloan-Kettering-Krebsforschungszentrum zu fahren und uns dessen Krebsinformationsdienst anzuschauen. Dort haben wir gesehen, wie man aktuelles Wissen über Krebs an krebskranke Menschen vermitteln kann. Wir waren erstaunt darüber, wie pragmatisch die amerikanischen Dienste das machten und was sie da wagten. Uns wurde gesagt: "Wir tun eben, was wir können!" Auf dem Rückflug nach Deutschland haben Almuth Sellschopp und ich beschlossen, nach diesem Modell auch in Deutschland einen bedarfsorientierten Informationsdienst zu entwickeln.

einblick: Gab es das in Deutschland noch nicht?

Stamatiadis-Smidt: Das gab es in ganz Europa noch nicht.

zur Hausen: Ich erinnere mich gut daran, wie Frau Stamatiadis und Frau Sellschopp damals bei mir vorsprachen und ihr Anliegen vortrugen. Mir hat das Vorhaben von Anfang an gut gefallen. Es schien mir eine Sache zu sein, die dem Deutschen Krebsforschungszentrum gut anstünde.

Stamatiadis-Smidt: Gemeinsam sind wir dann ins Bundesgesundheitsministerium gefahren zum Ministerialdirigenten Dr. Franke, der das Krebsforschungszentrum gut kannte. Er stand der Idee, Fragen über Krebs individuell zu beantworten, sehr aufgeschlossen gegenüber. Als Kriegsversehrter wusste er, wie es sich anfühlt, wenn man krank und hilflos ist. Er sagte uns: Stellen Sie einen Antrag. Und genau das haben wir getan. Zusammen mit Professor Christian Herfarth, der damals dem Lenkungsausschuss des Tumorzentrums vorstand, stellte Herr zur Hausen einen Finanzierungsantrag. Almuth Sellschopp steuerte den wissenschaftlichen Hintergrund bei, ich übernahm die Struktur-, Kommunikations- und Organisationsplanung. Mit der Universitätsklinik Heidelberg holten wir einen klinischen Partner ins Boot.

einblick: Der Antrag wurde bewilligt?

Stamatiadis-Smidt: Zunächst als Pilotprojekt für drei Monate. Von Herrn zur Hausen bekamen wir ein Zimmer direkt neben der Pressestelle. Da haben wir zusammen mit den ersten Mitarbeitern, darunter Gabriele Kautzmann und Monika Preszly, das Material für den Aufbau des KID zusammengetragen. Wir haben auf Karteikarten alle Einrichtungen verzeichnet, die als Wissensquellen infrage kamen. Denn Computer hatten wir anfangs nicht und das Internet gab es ja noch nicht. Erst viel später hatten wir eine elektronische Datenbank - noch vor unseren Kollegen vom amerikanischen Krebsinformationsdienst. Bald wurde der KID als Modellprojekt des Gesundheitsministeriums eingerichtet, vorher jedoch mussten wir unsere Arbeit dem Wissenschaftlichen Rat des DKFZ präsentieren.

einblick: Wie waren die Reaktionen?

zur Hausen: Ganz überwiegend positiv. Es gab aber auch Wissenschaftler, die nicht unbedingt einsahen, dass ein solcher Dienst zu den Kernaufgaben eines Forschungszentrums gehört. Sie fürchteten, dass womöglich Geld, das der Forschung zustünde, für den KID abgezweigt würde. Bald haben aber auch sie den KID vollständig akzeptiert.

Stamatiadis-Smidt: Wie groß die Unterstützung von den Wissenschaftlern des Hauses war, zeigte sich nach einer Gesundheitssendung im ZDF, in der Almuth Sellschopp und ich den KID erstmals einer größeren Öffentlichkeit vorgestellt hatten. Wir waren ja damals noch recht provisorisch eingerichtet, die letzten Kabel wurden sozusagen noch verlegt, und sind mit den vielen Anrufen, die nach der Sendung eingingen, einfach nicht fertig geworden. Wir haben daraufhin die Wissenschaftler im Haus um Hilfe gebeten. Viele, sehr viele haben ihre Labore verlassen und uns bei der Telefonarbeit geholfen. Wir waren ihnen dafür sehr dankbar. Hinterher haben die Forscher gesagt, dass dieser Dienst auch ihnen sehr viel gebracht habe, weil sie unmittelbar erfahren konnten, wie sinnvoll ihre Arbeit ist. Das war ein sehr schönes Erlebnis, das mich heute noch berührt.

einblick: Wie verliefen die ersten drei Jahre des Modellprojekts Krebsinformation?

Stamatiadis-Smidt: Sehr gut, vor allem deshalb, weil uns die Medien unterstützten und den Dienst bundesweit bekannt machten. Ohne die Medien und ohne die Verankerung des KID in der Pressestelle des Krebsforschungszentrums, glaube ich heute, hätte sich der Dienst nicht so schnell und so gut etabliert.

einblick: Aber nach diesen drei Jahren drohte das finanzielle Aus.

Stamatiadis-Smidt: Wir mussten einen neuen Geldgeber für den KID finden, was nicht einfach war. Doch dann hat sich die zuständige Referentin im Bundesgesundheitsministerium, Dr. Gabriele Hundsdörfer, persönlich für uns eingesetzt, und wir bekamen eine Verlängerung um zwei Jahre. Frau Hundsdörfer stieß auch an, den Dienst hinterher in eine Art dauerhaftes Projekt des Bundesgesundheitsministeriums umzuwandeln, was den KID finanziell über die Runden rettete - bis zur Übernahme durch das Bundesforschungsministerium im Jahre 2009.

einblick: Was waren rückblickend die größten Hürden des Krebsinformationsdienstes?

zur Hausen: Eindeutig die Finanzierung. Sie war das Hauptproblem.

Stamatiadis-Smidt: Wir trauten uns manchmal gar nicht, die Telefonnummer von KID zu veröffentlichen. Da wir nicht genug Mitarbeiter bezahlen konnten, waren die Leitungen manchmal ununterbrochen besetzt, so dass die Anrufer nicht zu uns durchkamen.

einblick: Und was waren die größten Erfolge?

zur Hausen: Das waren die vielen, vielen Anfragen, die von Beginn an zeigten, welch großer Bedarf an zuverlässigen, unabhängigen Informationen über Krebs besteht. Der Aufbau des KID erfolgte vor 25 Jahren extrem zügig; der große persönliche Einsatz der Mitarbeiter ließ den Dienst rasch die erhofften Früchte tragen. Außerdem hat der KID zu einer besseren Außenwirkung des Krebsforschungszentrums beigetragen.

Stamatiadis-Smidt: Das war auch ein Ziel, den Menschen mit dem KID zu zeigen, dass sie nicht erst in 50 oder 100 Jahren etwas von dieser Forschungsstätte haben werden, wenn womöglich das Krebsproblem gelöst wäre, sondern bereits heute.

einblick: Was wünschen Sie sich für die Zukunft des KID?

Stamatiadis-Smidt: Dass der Dienst weiterhin die persönlichen Belange der Patienten und ihrer Angehörigen in den Vordergrund stellt und nie damit aufhört, sich auf die Menschen, ihre Schicksale und Gefühle einzustellen.

zur Hausen: Ich bin mir sicher, dass die kompetente Beratung auch künftig weitergeführt wird, und ich hoffe, dass der Zuspruch weiter steigt. KID ist wichtig für die ganze Bevölkerung. Ich wünsche mir deshalb, dass die Bürgerinnen und Bürger den Dienst weiterhin in breitem Umfang beanspruchen.

Die Fragen stellte Claudia Eberhard-Metzger


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Wichtige Stationen des KID

1982 - Bei einem Krebskongress in Seattle entsteht die Idee, einen Krebsinformationsdienst in Deutschland einzurichten

1984 - Erster Antrag beim Bundesministerium für Gesundheit

1984/85 - Pilotphase mit vier Mitarbeitern

1986 - Start des Telefondienstes, offizielle Gründung des KID

1989 - KID bietet einen türkischen Telefondienst an

1999 - Das Internetangebot www.krebsinformation.de geht online

2000-2002 - Start des E-Mail-Dienstes, KID erweitert sein Angebot um die spezialisierten Dienste "Brustkrebstelefon", "Fatiguetelefon" und "Krebsschmerztelefon"

2004 - Dr. Hans-Joachim Gebest übernimmt die Leitung des KID und schafft die Grundlagen für den Ausbau zum Nationalen Referenzzentrum

2006 - "Krebsinformation hat eine Nummer": Alle Anrufe laufen von nun an kostenlos unter 0800-420 30 40

seit 2009 - Dauerhafte Finanzierung durch das BMBF, Ausbau zum Nationalen Referenzzentrum für Krebsinformation

2010 - Einrichtung einer KID-Außenstelle in Dresden


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:
- Hilke Stamatiadis-Smidt (links) und Harald zur Hausen (rechts) im Gespräch mit einblick.


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Quelle:
"einblick" - die Zeitschrift des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ)
Ausgabe 1/2011, Seite 11 - 14
Herausgeber: Deutsches Krebsforschungszentrum in der Helmholtz-Gemeinschaft
Abteilung für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Im Neuenheimer Feld 280, 69120 Heidelberg
Telefon: 06221 / 42 28 54, Fax: 06221 / 42 29 68
E-Mail: einblick@dkfz.de
Internet: www.dkfz.de/einblick

"einblick" erscheint drei- bis viermal pro Jahr
und kann kostenlos abonniert werden


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juni 2011