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DIABETES/1223: Langwirksame Insulinanaloga bei Typ-2 - IQWiG-Interpretation nicht nachvollziehbar (DJ)


Diabetes-Journal 5/2009 - aktiv gesund leben

Langwirksame Insulinanaloga bei Typ-2-Diabetes
Offener Brief ans "IQWiG"

Von Dr. Katrin Kraatz und Günter Nuber


Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen/IQWiG hat untersucht, ob langwirksame Insulinanaloga bei Typ-2-Diabetes Vorteile gegenüber humanem Verzögerungsinsulin haben. Der Abschlussbericht liegt nun vor, er sieht keinen Vorteil. Experten der Deutschen Diabetes-Gesellschaft/DDG sehen das anders.


Das IQWiG untersuchte im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses, ob die langwirksamen Insulinanaloga "Insulin Glargin" und "Insulin Detemir" bei Typ-2-Diabetes Vorteile haben gegenüber humanem Verzögerungsinsulin (NPH). Am 19. März veröffentlichte das IQWiG den Abschlussbericht; in der Pressemitteilung vom selben Tag heißt es: "Langwirksame Insulinanaloga bei Typ-2-Diabetes: Vorteil gegenüber Humaninsulin nicht belegt".

In der "Kurzfassung" des IQWiG-Abschlussberichts (Seiten iv bis xiii) heißt es dann aber an mehreren Stellen sinngemäß, es habe sich für den Vergleich Insulin Glargin gegenüber NPH-Insulin ein statistisch signifikanter Unterschied zugunsten Glargin bei schweren Unterzuckerungen gefunden; Insulin Detemir wiederum zeigt bei weniger schweren Unterzuckerungen deutliche Vorteile, heißt es im IQWiG-Bericht. Wie kommt man also zum zitierten Fazit? Die Frage stellen sich auch Experten der DDG: Prof. Dr. med. H. U. Häring und Prof. Dr. med. A. Fritsche, beide Tübingen, haben am 19. März mit einem Offenen Brief reagiert, siehe links. Lesen Sie hierzu das Interview auf den folgenden Seiten.


Medizinische Klinik und Poliklinik Abt. Innern Medizin IV
Ärztl. Dir.: Prof. Dr. med. H.U. Häring
Otfried-Müller-Str. 10, D-72076 Tübingen

Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit
im Gesundheitswesen
Dillenburger Str. 27
D-51105 Köln

19.3.2005


Abschlussbericht Auftrag A05.03
Langwirksame Insulinanaloga zur Behandlung des Diabetes mellitus Typ 2


Sehr geehrte Damen und Herren,

mit Interesse haben wir Ihren am 19.03.09 veröffentlichten Bericht "Langwirksame Insulinanaloga zur Behandlung den Diabetes mellitus Typ 2" zur Kenntnis genommen.

Auch Sie sind zu der Erkenntnis gelangt, dass langwirksame Insulinanaloga insbesondere die Häufigkeiten der schädlichen Hypoglykämien vermindern und damit eine erhöhte Sicherheit für die Patienten bieten.

Hypoglykämien schaden jedem Patienten über multiple Mechanismen (ACCORD- und VADT-Studien 2008). Und ein Schaden darf aus ärztlicher Sicht keinesfalls billigend in Kauf genommen werden!

Uns überrascht, dass Sie ein echtes Fazit vermeiden und das "Bestehen eines Zusatznutzens" verschweigen. Dies ist umso unverständlicher, als es bei der Anwendung von langwirksamen Insulinen um die tägliche Patientensicherheit geht. Nach dem ärztlichen Ethos des "primum non nocere" zwingt schon der begründete Verdacht eines verminderten Schadens zum Handeln.

Angesichts der Komplexität dieses Berichtes halten mir es für geboten, dass der einfache, aber für Patienten in der täglichen Praxis essentielle Vorteil der erhöhten Sicherheit in Ihrem Abschlussbericht klar benannt wird. Die Daten lassen genau einen Schluss zu: Die langwirksamen Insulinanaloga haben einen patientenrelevanten Zusatznutzen, jedes andere Fazit wäre unethisch.

Mit freundlichen Grüßen

Prof. Dr. med. H.U. Häring
Prof. Dr. med. A. Fritsche



"Interpretation des IQWiG ist nicht nachvollziehbar!"

"Nicht nachvollziehbar": Noch am gleichen Tag des IQWiG-Abschlussberichts (siehe Seite 16) formulierten Experten der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (DDG) einen Offenen Brief. Wir sprachen mit Prof. Dr. med. Andreas Fritsche.


Diabetes-Journal (DJ): Liest man den Abschlussbericht des IQWiG bzw. die Ergebnisse der Recherche, kommt man sehr schnell zu dem Schluss, dass die Analoga dem auf Humaninsulin basierenden Verzögerungsinsulin (NPH) überlegen sind. Ging es Ihnen auch so?

Prof. A. Fritsche: Ja. Der Bericht findet, dass mit langwirkenden Insulinanaloga vor allem die nächtlichen Unterzuckerungen reduziert sind.

DJ: Unterzuckerungen, Lebensqualität, Behandlungszufriedenheit: An mehreren Stellen des Berichts heißt es sinngemäß, es habe sich ein statistisch deutlicher ("signifikanter") Unterschied gezeigt zugunsten des Insulinanalogons. Stimmen Sie dem IQWiG in den Punkten zu?

Fritsche: Hier stimme ich dem IQWiG eindeutig zu. Es bestätigt ähnliche Ergebnisse von unserer Arbeitsgruppe und internationalen Wissenschaftlern, die in eigenen Analysen die Verminderung der Unterzuckerungszahl durch langwirkende Insulinanaloga beschrieben haben.

DJ: In seinem "Fazit" beurteilt das IQWiG, ob eines der untersuchten, langwirksamen Insulinanaloga (Glargin bzw. Detemir) besser ist als NPH-Insulin. Mehrfach heißt es dort, es ergebe sich "kein Hinweis auf einen Vorteil einer der beiden Therapieoptionen". Wie passt das zusammen?

Fritsche: Diese Diskrepanz zwischen den Befunden und der Interpretation ist nicht nachvollziehbar. Gerade die Tatsache, dass die langwirksamen Insulinanaloga Schaden vom Patienten abwenden, müsste das IQWiG zu einem anderen Fazit kommen lassen.

DJ: Woran kann es liegen, dass das IQWiG zu dem nicht nachvollziehbaren Fazit kommt?

Fritsche: Dies kann man nur verstehen, wenn man sich vor Augen hält, dass das IQWiG vor allem dem Auftrag folgt, Geld im Gesundheitswesen einzusparen. Wenn dies der Beweggrund ist, kann es so weit gehen, dass die vermehrten Hypoglykämien mit NPH-Insulin vom IQWiG als nicht so bedeutend bewertet werden. Bei der Anhörung zum Vorbericht beim IQWiG im letzten Jahr waren wir als Vertreter der Deutschen Diabetes-Gesellschaft eingeladen. Dort wurde vom Gutachter des IQWiG, Herrn Dr. Bernd Richter, die Ansicht vertreten, dass Hypoglykämien etwas Positives für den Patienten sein können. Hier muss energisch widersprochen werden, das verdreht die Tatsachen! Hypoglykämien sind für den Patienten eine bedeutende Gefahr und Schaden, welche abgewendet werden müssen.

DJ: Hätten Sie selbst die vom IQWiG ausgewählten Studien zu den langwirksamen Insulinanaloga bei Typ-2-Diabetes anders bewertet?

Fritsche: In einigen Punkten wären wir auf andere Ergebnisse gekommen, das ist aber wissenschaftliche Diskussion um Methoden und Bewertung. Der Hauptdissens liegt bei den Schlüssen, die ich aus den Befunden ziehe, dem Fazit also.

DJ: Sie und Herr Prof. Häring haben einen Offenen Brief an das IQWiG geschrieben: Wieso?

Fritsche: Wir möchten mit dem Offenen Brief auf die Inkonsistenz der Bewertung des IQWiGs aufmerksam machen.

DJ: Was möchten Sie mit Ihrem Offenen Brief erreichen?

Fritsche: Es soll erreicht werden, dass die Schlussfolgerungen aus dem Bericht den Ergebnissen der Analysen folgen.

DJ: Welche Vorteile sehen Sie selbst in Ihrer täglichen Arbeit mit den Patienten in einer Therapie mit langwirksamen Insulinanaloga?

Fritsche: Nochmals ganz eindeutig: Jede Hypoglykämie, die ich vermeiden kann, ist ein Vorteil für den Patienten. Jede einzelne, auch leichte Hypoglykämie, kann dem Patienten direkt schaden. Das muss man einem Patienten mit Diabetes, der schon Hypoglykämien hatte, nicht erklären.

DJ: Darf ein Arzt Typ-2-Diabetikern nun ab sofort keine langwirksamen Insulinanaloga mehr verschreiben?

Fritsche: Eindeutig nein. Im Gegenteil muss gefragt werden, ob wir die erhöhte Hypoglykämiegefahr mit NPH-Insulin in Zukunft noch hinnehmen dürfen!

DJ: Sehen Sie gesundheitliche Gefahren, die Patienten nun drohen, wenn sie keine langwirksamen Insulinanaloga mehr verschrieben bekommen dürften?

Fritsche: Eine Umstellung von langwirksamen Analoga auf NPH-Insulin erhöht die Hypoglykämiegefahr, vor allem nachts. Deshalb müssen hier bei der Dosisfindung für das NPH-Insulin mehrmals nächtliche Blutzuckerwerte erhoben werden. Eventuell steigt auch der HbA1c-Wert an. Die Rückumstellung von Patienten mit langwirkenden Insulinanaloga wäre ein deutschlandweites "Experiment", dessen Ausgang völlig ungewiss ist und vor dem ich ausdrücklich warne.

(Die Fragen haben Dr. Katrin Kraatz und Günter Nuber gestellt.)


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Brief der Prfs. Häring und Fritsche (Tübingen) an das IQWiG

Professor H. U. Häring

Energischer Widerspruch: Prof. Andreas Fritsche (Tübingen) unterzeichnete einen Offenen Brief an das "IQWiG".


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Quelle:
Diabetes-Journal 5/2009, Seite 16 - 19
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juni 2009