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LESERBRIEFE/001: Schöne neue Welt der Beipackmedizin (Rainer Pöhler)


2015 - eine Utopie

Von Rainer Pöhler


Nehmen wir einmal an, es gäbe einen Visionär oder auch eine Gruppe derselben, die bereits vor längerem erkannt hätten, dass das bisherige System nicht Ewigkeiten weiter funktionieren wird. Nehmen wir weiter an, besagten Personen wäre klar, dass eine Umstellung des Systems auf eine wissenschaftlich-ökonomische Grundlage eine erdrutschartige und unkalkulierbare Veränderung der Machtstrukturen in Deutschland zur Folge hätte.

Betreffende Personen stehen soweit oberhalb der sozialen Ebene, dass Geld und soziales Ansehen außerhalb jeder Diskussion stehen und nur noch ein Zugewinn an Macht und Einfluss ein wirkliches Lebensziel darstellen. Aus dieser Höhe werden Menschen zu Ameisen, Patienten zu Nummern und Fällen, deren Existenz nur noch als Statistiken merkbare Auswirkungen haben. Genau diese Statistiken zeigen aber auch eine Lösung des Problems.

Medikamente werden von Konzernen produziert, diese sind ein Motor der Wirtschaft - hier ist wenig zu machen. Krankenhäuser sind ebenfalls ein profitabler Wirtschaftsbereich, sofern sie zu privaten Klinikketten gehören. Krankenhäuser in kommunaler Trägerschaft werden von Kommunen bezahlt und, wenn das nicht mehr möglich ist, privat aufgekauft oder eingestampft.

Bleibt als wesentlicher Kostenfaktor noch der niedergelassene Arzt, der auf Grund seiner langen Ausbildungszeit, seines universellen Wissens und dem auf lange Tradition beruhenden Unabhängigkeitsdrang sich nicht in ein solches profitorientiertes System eingliedern lässt. Die Ursache dafür liegt in der Nähe dieser Berufsgruppe zu den Ameisen, die sich aus dieser Perspektive als Menschen entpuppen und damit wird ein wirklich hinderliches Grundübel dieses Berufsstandes aktiviert bzw. gestärkt - Humanismus.

Die Aufgabe für unsere Visionäre ist damit klar: Der niedergelassene, nicht profitorientierte, nicht angepasste Arzt muss weg, und zwar so, dass es als ganz natürlicher, am besten sich von selbst ergebender Prozess aussieht.

Wie wäre vor zu gehen?

Als erstes wird ein langfristig angelegtes Konzept benötigt, sagen wir einmal, für die nächsten zwanzig Jahre. Dann müssten Möglichkeiten gefunden werden, wie aus einer geballten Faust Finger für Finger gebrochen werden können. Das lässt sich am besten mit Geld und Machtversprechen realisieren.

Also wird eine Trennung der niedergelassenen Ärzte herbei geführt, indem einzelne Gruppen von ihnen unterschiedlich bezahlt werden, anderen wiederum werden unterschiedliche Privilegien zu gestanden, was natürlich Neid weckt und Uneinigkeit schürt. Es wäre auch möglich, den ärztlichen Dachorganisationen andere Organisationen zu Seite oder darüber zu stellen, die diese kontrollieren. Einzelne, möglichst maßgebliche Vertreter werden unauffällig in das eigene Lager geholt. Außerdem wird dafür gesorgt, dass hauptberufliche oder auch langfristig wählbare Vertreter der Ärzteschaft ein möglichst hohes Einkommen erhalten, so dass eine ausreichende Motivation zum eigenen Machtund Postenerhalt vorhanden ist.

Als nächstes wird der natürliche, alterspyramidale Prozess ausgenutzt. Dazu ist es nur notwendig, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der niedergelassenen Ärzte so zu verschlechtern, dass sie früher ihre niedergelassene Tätigkeit beenden und die Neuaufnahme einer solchen Tätigkeit für potentielle Interessenten möglichst unattraktiv ist. Dieser ganze Prozess lässt sich ideologisch unterstützen, indem die Presse "auf Linie" gebracht und möglichst genau gesteuert wird, wer wann was sagen darf. Das funktioniert problemlos, da aus historischen Gründen Ärzte nie wesentlichen Wert auf die Meinung des Volkes gelegt haben - standen sie doch auf Grund ihrer akademischen Bildung weit darüber.

Bevor die meisten Ärzte verstanden haben, dass sie schon längst nicht mehr die Leuchten und die Creme der Gesellschaft sind und ihnen die politische und reiche Schicht dieses Landes diesen Platz genommen hat, ist es zu spät. Das Volk ist medienhörig, die Medien sind geldhörig und das Geld befindet sich in den Händen der Mächtigen. Dabei ist es nicht so sehr notwendig, auf exakte Einhaltung der Wahrheit zu achten, denn auch hier bekommt Recht, wer am meisten Macht und Geld hat. Sich um beides rechtzeitig zu kümmern, hatten die niedergelassen Ärzte weder die Zeit noch die Einsicht in die Notwendigkeit.

So bricht das Jahr 2015 an und mit ihm ein stabiles, bezahlbares und in höchstem Maße profitables Gesundheitssystem. Hochmoderne, höchst effektive Krankenhäuser, die einigen wenigen Konzernen gehören, sich selbst erhalten und die Staatskasse nicht belasten. Ungefähr zwanzig große, gesetzliche Krankenversicherungen teilen die Ameisen und deren Beiträge unter sich auf. Das Versichertengeld legen sie jetzt nicht mehr nur bei Banken an, sondern auch in Aktien von Pharma- und Krankenhauskonzernen. Einige kaufen sich sogar ganze Pharmahersteller und Krankenhäuser.

Etwas fehlt noch. Ach ja - der niedergelassene Arzt. Er wurde im Zuge der von ihm selbst so gewünschten Änderung des SGB V abgeschafft. Er arbeitet jetzt als Angestellter, entweder einer Krankenversicherung oder einer reichen Kommune. Er erhält Urlaubs- und Weihnachtsgeld, hat einen Achtstundentag, ein überdurchschnittlich hohes Angestellteneinkommen und ist Mitglied in der Gewerkschaft. Seine Ausbildung hat nur 4 Jahre gedauert und den Staat nicht mit unnötigen Kosten belastet. Die Angehörigen der Kassenärztlichen Vereinigung und Ärztekammern haben jetzt Beamtenstatus und Anrecht auf eine Pension.

Auch den Ameisen geht es gut. Alle ihre Gesundheitsdaten liegen auf zentralen Servern. Eine Zentralstelle aller Krankenversicherungen mit Zugriff auf diese Daten schickt rechtzeitig Erinnerungen an die nächste Schutzimpfung heraus. Die Ameisen benötigen für den Abschluss einer Lebensversicherung auch keine Fragebögen mehr, denn auch die Lebensversicherungen haben neben anderen Organisationen Zugriff auf diese Daten.

Die älteren, nichtmobilen Ameisen werden morgens durch einen Bus eingesammelt, in das nächste Krankenhaus gebracht und abends wieder nach Hause gefahren. An einer Klärung der Hausbesuchsund Notfallproblematik wird noch gearbeitet.

Es ist eine Utopie und gehört sicher nicht in das Schreiben an ein Mitglied des Deutschen Bundestages. Ich tue es trotzdem, denn lege ich diese Utopie auf die letzten acht oder neun Jahre deutscher Gesundheitspolitik, fürchte ich mich vor 2015 ...


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Quelle:
Leserbrief von Rainer Pöhler, 23.07.2010
© Rainer Pöhler


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juli 2010