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ARTIKEL/409: Recovery - auf den Schultern der Rehabilitation (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 134 - Heft 4, Oktober 2011
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Recovery - auf den Schultern der Rehabilitation
Was ist an "Recovery" eigentlich neu? Und wo sind die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede zur (guten alten) psychosozialen Rehabilitation?

Von Maria Rave-Schwank


Bei der Vorbereitung eines Vortrags über Recovery merkte ich, dass mir einige Recovery-Autoren von Texten zur psychosozialen Rehabilitation her bekannt waren. Genauer gesagt waren einige Veröffentlichungen zu Recovery von Menschen geschrieben, die vorher Wichtiges zur psychosozialen Rehabilitation von langfristig psychisch Kranken geschrieben hatten. Und nicht nur Namen waren mir bekannt, sondern auch Kernaussagen zur Rehabilitation fand ich bei Recovery wieder. Was also ist bei "Recovery" überhaupt neu? Ich will dieser Frage nachgehen und die wichtigsten Aussagen anschauen, die für Recovery und die Rehabilitation gemeinsam sind, aber auch fragen, was Neues dazugekommen ist und was noch fehlt.

Gemeinsam ist:

• Die Meister der Rehabilitation schauen nach den Fähigkeiten und Ressourcen der Klienten. Die Pathologie steht nicht im Vordergrund.

• Die großen Ziele der Rehabilitation werden in kleine Schritte aufgebrochen, die im Reha-Prozess dazu führen, dass Erfolge wahrscheinlicher werden und lange ergebnislose und entmutigende Wege vermieden werden.

• "Realistische Zuversicht", sei sie mitgebracht oder im Reha-Prozess erworben - und von John Wing beschrieben in einer wegweisenden Untersuchung(*) -, wird entscheidend für den Rehabilitationserfolg des Einzelnen. Diese "realistische Zuversicht" ist ganz nahe bei der "Hoffnung", dem zentralen Begriff von Recovery.

• Arbeit und Arbeitstherapie mit den Voraussetzungen, die unter anderem Douglas Bennett dargestellt hat - insbesondere die Bezahlung der Arbeit und die Rolle des Arbeitenden -, bleiben eines unserer wirksamsten Hilfsmittel. Auch andere Meister der psychosozialen Rehabilitation wie Leonie Bachrach, Luc Ciompi, Graham Thornicroft und Geoff Shepherd - um nur die "Ausländer" zu nennen - sind hier anzufügen.

• Was Patienten/Klienten, Profis und Angehörige für die Zukunft eines Betroffenen erwarten, ist wirksam. Also: Derjenige, dem etwas zugetraut wird, hat größere Chancen.

So viel - unvollständig - zu den Gemeinsamkeiten.

Was ist "neu" an Recovery?

Was ist bei Recovery neu hinzugekommen? Ist das Etikettenschwindel oder Veränderung und Erweiterung des Konzeptes?

• Die Beteiligung der Klienten rückt weiter nach oben in der Prioritätenliste. Diese Beteiligung oder Partizipation kann die Beziehung zwischen Profi und Patient/Klient gründlich verändern. Im deutschen Sprachraum wurde dies im Ereignis des trialogischen Hamburger Weltkongresses für Soziale Psychiatrie 1994 deutlich. Sich etwas zutrauen und Kontrolle über das eigene Leben wiedergewinnen sind Kernaussagen von Recovery-Gruppen.

• Die subjektive Erfahrung des Einzelnen, also die qualitative Seite der Psychiatrie, hat im Verhältnis zur quantitativen an Bedeutung gewonnen. Der Betroffene, der sich als Kämpfer oder auch Sieger zeigt, wird wieder einmaliger und interessanter. Weniger Wissenschaft und Medizin - mehr Hinwendung zur Lebensgeschichte.

• Dabei geht es bei Recovery nicht nur um volle "klinische Genesung", sondern um ein gutes, als sinnvoll erlebtes Leben trotz der Krankheit. Hoffnung ist dabei das Schlüsselwort.

• Aus den beiden vorgenannten Aspekten ergibt sich eine neue Bedeutung von Sprache, von hoffnungsvollen Geschichten, von erzählten guten Erlebnissen eines Profis oder eines Nutzers. Die hoffnungsvolle Sprache wird Qualitätsmerkmal für Begegnungen zwischen Angehörigen, Nutzern und Profis. Wie kläre ich richtig über Nebenwirkungen von Medikamenten auf, ohne abzuschrecken vor der Einnahme bei möglichst niedriger Dosis, ist eine zugehörige Frage. Aber auch: Wie können wir dem Trend zur Katastrophenmeldung begegnen? Im Einzelfall und strukturell?

• Partnerschaftlichkeit zwischen Profis und Usern wird also stärker betont als in der Rehabilitation. Das betrifft auch Patientenvereinbarungen, also feste, schriftliche Absprachen über das Vorgehen, z.B. in einer Krise (Rückfall), zwischen dem Patienten und seinem Arzt. Thornicroft et al. haben in einer der wenigen quantitativen, doppelblinden Untersuchungen zum Thema gezeigt, dass die Zahl der Zwangseinweisungen auf die Hälfte sank bei den Patienten, die eine solche Vereinbarung gemacht hatten.

• Die veränderte Beziehung zwischen Nutzer und Profi ist die Bereitschaft der Profis, sich selbst als Mensch mit normalen Schwierigkeiten zu zeigen und im Umgang mit Patienten diese Tatsache zu nutzen (z.B.: "Ich habe dreimal vergeblich mit dem Rauchen aufgehört, erst beim fünften Mal hat's geklappt, warum sollten Sie die Sache nicht ein viertes Mal versuchen, mit Erfolg?"). Auch "Be on tap, not on top" ist schwer zu übersetzen, gehört aber zur Beziehungsänderung etwa übersetzbar mit "erreichbar sein, aber nicht bossy"!

Schließlich: Die quantitativ gut abgesicherte und im Sozialversicherungssystem verankerte Rehabilitation trägt Recovery, voller Hoffnung, ohne eigenes Geld, aber mit der Motivation vieler Menschen auf ihren Schultern. Nicht grundlos haben sich so viele englischsprachige Länder seit 1993 Recovery als Leitkonzept ihrer Psychiatriepolitik gewählt. Davon ist wenig ins Deutsche übersetzt, im wörtlichen und im übertragenen Sinne. Deshalb füge ich hier leicht zugängliche und wichtige Texte an:

1. Die Forschungsgruppe beim Sainsbury Centre of Mental Health: "Making Recovery a Reality", zu lesen unter www.scmh.org.uk

2. Das Positionspapier des Royal College of Psychiatrists, 2007 gemeinsam erstellt mit dem Verein der Betroffenen und der Vereinigung der Sozialarbeiter, zu lesen unter www.scie.org.uk

3. Am wichtigsten: die gut vernetzte Gruppe der Nutzer, die an der Einführung von Recovery in den englischen Psychiatrie-Alltag arbeitet und beim Internationalen IX. ENMESH-Kongress in Ulm vom 23. bis 25. Juni 2011 in einer Abteilung "Recovery" berichtet hat.

Gute, hoffnungsvolle Nachrichten also!

Viele Fragen zur Verwirklichung von Recovery sind offen, beispielsweise wie die Beziehungen nachhaltig verändert werden, ohne dass sie bei schweren Gefährdungen des Nutzers und fehlender Zusammenarbeit nachlässig werden. Aber auch Motivationslosigkeit ist bei lang dauernden seelischen Störungen für Mitarbeiter und Nutzer ein großes Problem. Recovery zeigt, dass man von Hoffnung sprechen und sie in den Mittelpunkt stellen darf und kann.

Dr. Maria Rave-Schwank, Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, war von 1979 bis 1990 ärztliche Direktorin des Philippshospitals in Riedstadt und von 1990 bis zu ihrer Pensionierung im Jahre 2000 Direktorin der Psychiatrischen Klinik am Städtischen Klinikum Karlsruhe.
maria.rave@t-oline.de
Tel.: 0721/93 38 02-34

(*) Wing, J.K. (1966): Social and psychological changes in a rehabilitation unit. In: Soc. Psychiat. 1, 21-28.

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 134 - Heft 4, Oktober 2011, Seite 26 - 27
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der
Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Oktober 2011

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