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ARTIKEL/438: Interview - "Die Drei-Klassen-Psychiatrie überwinden" (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 146 - Heft 4/14, Oktober 2014
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

"Die Drei-KIassen-Psychiatrie überwinden"

Interview von Günther Wienberg mit Nils Pörksen


Warum ausgerechnet Psychiatrie? Und warum ausgerechnet der ganz besondere Einsatz für eine "vergessene Mehrheit", für die Suchtkranken? Wie kam es zum Engagement für Polen und die Ukraine? Und wo steht die Psychiatriereform heute? Professor Dr. Günther Wienberg, Bethel, befragte seinen ehemaligen Chef Dr. Nils Pörksen nach wichtigen Stationen seines Lebens.


Wienberg: Wie kommt ein nordfriesischer Pastorensohn mit zwölf Geschwistern dazu, Psychiater zu werden? Haben familiäre Wurzeln und Berufswahl irgendetwas miteinander zu tun?

Pörksen: Meine Eltern waren sozial sehr engagierte und politische Menschen. In meiner großen Verwandtschaft gibt es Menschen mit erheblichen psychischen Störungen. Eigentlich aber wollte ich Internist oder Hausarzt werden - bis zu dem Moment, in dem ich meine Frau Britta kennen lernte, die als Pädagogin noch in der Lehrerausbildung war. In vielen Gesprächen mit ihr reifte am Ende meiner Medizinausbildung der Entschluss, in die Psychiatrie zu gehen, weil ich davon überzeugt war, meine politischen und sozialen Interessen dort am ehesten nutzen zu können.

Wienberg: Suchtkranke waren schon immer die "ungeliebten Kinder" der Psychiatrie. Das hat sich auch durch die Enquete kaum geändert, die dieses Thema nur am Rande abgehandelt hat. Du gehörst - neben zum Beispiel Heiner Kunze und Gunther Kruse - zu den wenigen Psychiatern, die sich nachhaltig für eine Verbesserung der Versorgung suchtkranker Menschen eingesetzt haben. Schon in der Gemeindepsychiatrie Mannheim hat dich dieses Thema beschäftigt. Ende der 1970er-Jahre in der Klinik Häcklingen haben wir eine gemeindepsychiatrisch orientierte Suchtstation zusammen aufgebaut. Und auch in der Betheler Zeit hat dich das Sucht-Thema nicht losgelassen. Warum haben abhängige Patienten in der Psychiatrie bis heute einen eher geringen Stellenwert?

Pörksen: Es ist ja bekannt - nicht zuletzt aus deinen Untersuchungen zur "vergessenen Mehrheit" -, dass in den gesellschaftlichen Randgruppen, d.h. bei wohnungslosen und straffälligen Menschen, bei Menschen in "sozialen Brennpunkten", Suchtprobleme, besonders häufig sind. Als wir mit der Gemeindepsychiatrie Mannheim 1969 begannen, war sehr schnell klar: Da gibt es in der Stadt eine Klientel, die in der psychiatrischen Regelversorgung gar nicht oder nicht mehr auftaucht und die dort auch weiterhin nicht auftauchen wird, weil es bei ihr zunächst um materielle Absicherung, um eine sichere Wohnperspektive, um Arbeit und Beschäftigung, um soziale Kontakte und so weiter ging. So haben wir uns gesagt: Wenn wir uns nicht auf vielfältige Kooperationen mit den entsprechenden Diensten und Einrichtungen außerhalb der Psychiatrie einlassen, werden wir unserem Auftrag als Gemeindepsychiatrie nicht gerecht. Diese Menschen haben außerdem einen geringen Stellenwert im psychiatrischen Versorgungssystem, weil sie stören, häufig schon äußerlich als Randgruppe zu erkennen sind und sich nur selten an die Regeln der Mitarbeiter und an deren Erwartungen halten. So sind mehrfach beeinträchtigte Suchtkranke zusammen mit chronisch wahnhaften Psychosekranken und Menschen mit schweren, sozial auffälligen Persönlichkeitsstörungen die eigentlichen "Systemtester".

Wienberg: Nun ist in den letzten dreißig Jahren durchaus ein Wandel im professionellen Verständnis und im Umgang mit Menschen mit substanzbedingten Störungen zu verzeichnen. Wo siehst du den größten Fortschritt in der Versorgung von Suchtkranken in Deutschland?

Pörksen: Der liegt eindeutig darin, dass sich die Grundhaltung gegenüber Suchtkranken verändert hat. Oberstes, wenn nicht einziges Ziel jeder Behandlung war die Abstinenz. Alle, die sich dem nicht von vornherein unterwarfen, wurden abgeschrieben. Die von Dirk Schwoon und anderen erarbeitete Zielehierarchie der Suchthilfe in Verbindung mit dem Konzept der "harm reduction" (Schadensminderung) hat entscheidend dazu beigetragen, Behandlungskonzepte und Versorgungsstrategien zu verändern. Heute ist Abstinenz nicht mehr einziges Ziel oder gar Voraussetzung für die Therapie, sondern ein Fernziel, dem andere Ziele vorausgehen. Auch Behandlungsmotivation ist nicht mehr Bedingung von Therapie, sondern eines der Nahziele, die durch Therapie erreicht werden können. Hier hat das in Deutschland unter anderen von Georg Kremer und Ralf Demmel eingeführte "Motivational Interviewing" einen sehr hohen Stellenwert. Ganz wichtig ist, dass gemeindepsychiatrische Konzepte in die Suchtkrankenversorgung Eingang gefunden haben, auch wenn die bisher in der Fläche noch bei weitem nicht hinreichend umgesetzt sind. Dazu zählt vor allem der Community Reinforcement Approach, der von Martin Reker und Kollegen in Deutschland eingeführt worden ist. Gerade dieser Ansatz kann ein Vehikel sein, um die vorhandenen Brüche zwischen den unterschiedlichen Teilen des Hilfesystems zu überwinden.

Wienberg: Und worin liegt für dich die größte Enttäuschung der letzten Jahrzehnte?

Pörksen: Die besteht sicher darin, dass die Suchtkrankenversorgung insgesamt, auch innerhalb der Psychiatrie, immer noch tendenziell ein Schattendasein führt und dass die strukturelle und sozialrechtliche Trennung von Behandlung, Rehabilitation und sozialer Sicherung immer noch nicht überwunden ist. Es ist auch immer noch nicht gelungen, die medizinische Primärversorgung wirklich in das Gesamtsystem zu integrieren. Denn dort, bei niedergelassenen Haus- und Fachärzten und in den Allgemeinkrankenhäusern, sind ja die meisten Patienten mit Suchtproblemen anzutreffen, und vor allem dort besteht die Chance, sie frühzeitig zu erkennen, qualifiziert auf ihr Problem anzusprechen und gegebenenfalls in andere Teile des Hilfesystems weiterzuvermitteln. Hier sind wir noch lange nicht am Ziel.

Wienberg: Du warst Mitglied in mehreren Arbeitsgruppen der Enquete-Kommission, später Mitglied der Expertenkommission, die das Bundesmodellprogramm Psychiatrie und den Modellverbund begleitet und ausgewertet hat. Du hast das Suchtkapitel der "Empfehlungen der Expertenkommission zur Weiterentwicklung der psychiatrischen Versorgung" 1988 geschrieben. Du bist langjähriges Mitglied der Aktion Psychisch Kranke und damit einer der Pioniere und Aktivisten der Psychiatriereform. Was waren, in der Rückschau, die größten Schwachstellen der Empfehlungen der Enquete-Kommission?

Pörksen: Die Empfehlungen waren im Kern angebotsorientiert und institutionsbezogen. Die Vorstellung war, dass eine bedarfsgerechte Versorgung durch eine Kette von Diensten und Einrichtungen sichergestellt werden kann, die untereinander kooperieren. Dabei wurde völlig verkannt, dass die bloße Addition relativ unverbundener Leistungen gerade für diejenigen nicht bedarfsgerecht ist, die am meisten auf Vernetzung angewiesen sind. Das sind zugleich diejenigen, die am wenigsten in der Lage oder bereit sind, die erforderlichen Leistungen selbst zu koordinieren, also die chronisch Kranken. Seit einigen Jahren wird versucht, dieses Kardinalproblem durch Modelle der Integrierten Versorgung oder durch regionale Psychiatriebudgets zu lösen, mindestens aber zu mildern. Entsprechende Modelle, z.B. in Geesthacht, zeigen, was möglich ist. Außerdem hat die Enquete - das war damals wohl auch gar nicht anders möglich - völlig unterschätzt, was eine intensive, multiprofessionelle, bei Bedarf aufsuchende, also mobile ambulante psychiatrische Behandlung mit einer Krisenbereitschaft rund um die Uhr leisten kann. Heute gibt es diesbezüglich eine eindeutige Forschungslage (z.B. zu Hometreatment und Assertive Community Treatment), und es gibt auch in Deutschland bereits eine Reihe von überzeugenden Modellen der ambulanten Intensiv- und Komplexbehandlung. Leider sind daraus bis heute keine gesetzgeberischen Konsequenzen gezogen worden. Statt in solche Modelle fließt der weitaus größte Teil des Geldes, das für die ambulante Versorgung von psychisch kranken Menschen aufgewendet wird, in die Psychotherapie durch niedergelassene ärztliche und psychologische Psychotherapeuten. Bei der Diskussion um PEPP etc. ist diese Problemlage bisher völlig außen vor geblieben. Stattdessen droht eine Fortschreibung der sektoralen Trennung zwischen (teil-)stationärer und ambulanter Versorgung auf Jahre hinaus, worunter letztlich wieder die chronisch Kranken am meisten zu leiden haben werden. Deshalb wird bei allen sektorübergreifenden Versorgungs- und Finanzierungsmodellen darauf zu achten sein, dass auch die Psychotherapie und vor allem die Eingliederungshilfe des SGB XII einbezogen sind. Sonst wird es zu einer Verschärfung der Tendenzen zu einer Drei-Klassen-Psychiatrie kommen. Ohne verbindliche Steuerung der Versorgungs- und Finanzierungsregelungen wird es nicht gehen, wenn man die Entwicklung zur Drei-Klassen-Psychiatrie überwinden will.

Wienberg: Und was war nach deiner Einschätzung die größte Errungenschaft der bisherigen Reform?

Pörksen: Die größte Errungenschaft der Psychiatriereform ist meiner Meinung nach die weitgehend gelungene rechtliche Gleichstellung psychisch Kranker - bis hin zur UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und der Forderung nach Teilhabe in allen Lebensbereichen. Dazu hat indirekt auch die Psychiatriereform in Deutschland beigetragen und wahrscheinlich auch die Auseinandersetzung mit den Verbrechen an (angeblich lebensunwerten) psychisch kranken und geistig behinderten Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus. Die hat zwar erst spät, nämlich in den 1980er-Jahren, begonnen, ist dann aber sehr intensiv geführt worden.

Wienberg: Du gehörst zu den ersten Psychiatriemitarbeitern, die noch vor dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 die Reise nach Osten angetreten haben, um sich der extrem belastenden gemeinsamen Vergangenheit zu stellen. Du hast die Psychiatriepartnerschaft zwischen dem Babinski-Krankenhaus, der psychiatrischen Universitätsklinik in Krakau und der Betheler Psychiatrie mit gegründet, die seit 1990 besteht, ebenso die Deutsch-Polnische Gesellschaft für Seelische Gesundheit. Sie erhielt 2000 von den beiden Außenministern Bartoszewski und Fischer den Deutsch-Polnischen Freundschaftspreis. Seit 2005 engagierst du dich außerdem in der Zusammenarbeit mit der Psychiatrie in der Ukraine im Projekt "Partnership for Mental Health". Was hat dich angetrieben, dich mit der gemeinsamen Vergangenheit zu konfrontieren, aber auch mit der ja nicht unproblematischen Gegenwart der Psychiatrie in diesen Ländern?

Pörksen: Unsere erste Reise nach Polen führte in psychiatrische Kliniken, in denen zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, noch vor der offiziellen "Euthanasie" im damaligen "Deutschen Reich", Patienten von Deutschen systematisch umgebracht worden waren. Es war eher eine Reise zu Gedenkstätten und zur vorsichtigen Kontaktaufnahme mit den Kollegen in Polen. Dabei haben wir aber festgestellt, dass von den polnischen Kollegen aller psychiatrischen Berufsgruppen vehement der Wunsch geäußert wurde, mit uns in einen Austausch zu kommen, über die Vergangenheit, vor allem aber über den Stellenwert der Psychiatrie in der heutigen Gesellschaft. Für mich war beeindruckend, dass in Polen trotz miserabler äußerer Bedingungen die Grundhaltung im Umgang mit Menschen mit psychischen Störungen ganz ähnlich war wie bei uns. Und dass der Wunsch bestand, gemeinsam im Rahmen von Partnerschaften eine Psychiatrieentwicklung voranzutreiben, die Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams, Gemeindeorientierung und den Trialog zwischen Psychiatrie-Erfahrenen und Angehörigen zum Ziel hat. Vor kurzem habe ich bei einer Tagung in Krakau festgestellt, dass die Aufbruchstimmung im Trialog in Städten wie Lublin, Krakau oder Breslau inzwischen größer ist als derzeit in Deutschland. Gleichzeitig muss man leider feststellen, dass die meisten Partnerschaften zwischen Kliniken, wie sie im Rahmen der Deutsch-Polnischen Gesellschaft für Seelische Gesundheit seit den 1990er-Jahren bestehen, inzwischen an Dynamik erheblich verloren haben. Die Verhältnisse haben sich weitgehend normalisiert.

Ganz anders sieht es aus in der Ukraine. In der Ukraine hat es mehrere Jahre gedauert, um zwischen den ukrainischen und deutschen Partnern auf verschiedenen Ebenen überhaupt eine Vertrauensbeziehung herzustellen. Die Situation in der ukrainischen Psychiatrie stellt sich fast überall ähnlich dar wie bei uns vor der Enquete. Patienten leben in Großanstalten, in Schlafsälen, Beschäftigung ist Mangelware, Behandlung und Rehabilitation spielen praktisch keine Rolle. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die dazu beitragen, dass Menschen mit psychischen Störungen mehr und mehr partnerschaftlicher Teil der Zivilgesellschaft werden, sind erst in zarten Entwicklungsansätzen erkennbar. Trotzdem ist es in den Jahren, in denen wir unser Projekt durchführen, gelungen, an mehreren Stellen eine Art Aufbruchstimmung in der Mitarbeiterschaft zu erzeugen. Es gibt keine Erkenntnisdefizite, es gibt aber große Defizite in der Umsetzung sozialpsychiatrischer Konzepte. Und natürlich fehlen die finanziellen Mittel für durchgreifende Veränderungen. Trotzdem haben wir den Eindruck, dass unter den Fachleuten aller Berufsgruppen die Bereitschaft wächst, eine an den Bedürfnissen der Patienten orientierte Psychiatriereform auf- und auszubauen, die Patienten mehr und mehr an therapeutischen Initiativen zu beteiligen und dafür zu sorgen, dass sie nicht nur im Bett liegen und Medikamente empfangen. Das ist ein sehr mühsamer Prozess.

Eine echte Chance zur Weiterentwicklung besteht aber nur dann, wenn es der ukrainischen Gesellschaft gelingt, die derzeitige Krise zu überwinden und zivilgesellschaftliche Strukturen, Demokratisierung und Verzicht auf Korruption in allen gesellschaftlichen Bereichen durchzusetzen. Sonst werden viele engagierte Menschen, die jetzt in der Psychiatrie tätig sind, das Land verlassen.

Wienberg: In den deutsch-polnischen Psychiatriepartnerschaften macht die erste Generation der Partner gerade die Erfahrung, dass es kaum gelingt, die junge Generation psychiatrisch Tätiger für diese Partnerschaften zu interessieren oder zu aktivieren. Hat unsere Generation mit der Aufarbeitung unserer gemeinsamen Vergangenheit ihre Schuldigkeit getan, und geht es heute nur noch darum, "normale Beziehungen" wie zu anderen europäischen Ländern zu pflegen?

Pörksen: Es tut mir weh, wenn ich erlebe, wie die vorhandenen lebendigen Partnerschaften nach und nach einschlafen. Aber wir dürfen feststellen, dass die Aufarbeitung des NS-Unrechts mit den polnischen Partnern gut gelungen ist und dass sich weitgehend normale Verhältnisse in der polnischen Psychiatrie entwickelt haben. Alles hat seine Zeit, und es kann gut sein, dass die Zeit des besonderen Verhältnisses im Rahmen der Deutsch-Polnischen Gesellschaft für Seelische Gesundheit und der Partnerschaften zu Ende geht. Das ist dann eine wichtige Periode gewesen, und man wird das dann ohne allzu große Trauer zur Kenntnis nehmen müssen.

Wienberg: Als wir uns kennen lernten, warst du Chef in Häcklingen. Vorher warst du Oberarzt in der Mannheimer Gemeindepsychiatrie, ganz kurz Chefarzt in Bad Dürkheim, später dann fünfzehn Jahre Psychiatrie-Chef in Bethel. Wie man die Chefrolle interpretiert, hängt von der Person ebenso ab wie vom jeweiligen Kontext. Hattest du ein Vorbild oder ein Modell, was das Chefsein angeht?

Pörksen: Es hat eine ganze Reihe von Jahren gebraucht, bis ich mich in der Chefrolle wirklich zurechtgefunden habe. 1973 gab es den Antrag an den Rektor der Universität Heidelberg, mich wegen übertrieben demokratischer Gesinnung aus meiner Oberarztfunktion zu entfernen. In den Häcklinger Jahren habe ich viel Lehrgeld gezahlt. Mir waren der "Marsch durch die Institutionen", das "Mehr-Demokratie-Wagen" so ans Herz gewachsen, dass ich mühsam lernen musste, dass Demokratie und Mitbestimmung in Institutionen da ihre Grenzen haben, wo es um die Orientierung am Auftrag der Einrichtung geht und dass man als Chef in allererster Linie den Auftrag offensiv vertreten muss - notfalls auch alleine und gegen Mitarbeiter. Aber die Umsetzung des Auftrags ist ohne Mitwirkung, Mitbestimmung und ohne Identifikation der Mitarbeiter damit auch nicht denkbar. In Häcklingen ist das deshalb nicht voll gelungen, weil "basisdemokratische" Strukturen festgezurrt waren und Mitarbeiter ihre Eigeninteressen oder politischen Interessen über die Zielsetzung der Einrichtung stellten. So kam es zu unlösbaren Konflikten. In Bethel haben wir das von vornherein verhindert und uns eindeutig am Versorgungsauftrag orientiert. Da war es manchmal für den Träger nicht ganz einfach, dem in aller Konsequenz zu folgen. Ich stimme mit Michael von Cranach und anderen Freunden überein, dass man sich knallhart an dem Auftrag, den man als Einrichtung hat, orientieren muss und dabei auch Konflikte mit Mitarbeitern, Strukturen, Vorgesetzten oder Behörden in Kauf nehmen muss. Was die Vorbilder angeht: Ich habe sicher sehr viel von meinem Vater gelernt, der Leiter einer großen Missionsgesellschaft war; vor allem darin, wie man mit dem Auftrag, wie man mit Konflikten, wie man mit der Motivation von Menschen umgeht. Walter Schulte, Chef von Asmus Finzen und mir in Tübingen, war ein konservativer, aber sehr menschlicher Psychiater. Von ihm habe ich gelernt, wie man menschlich und respektvoll auch mit sehr schwierigen Patienten umgeht. In den USA war für mich Alan Kraft, der damalige Leiter des Fort Logan Mental Health Center in Denver, Colorado, ein Vorbild im Hinblick auf die Führung einer großen Einrichtung. Geholfen hat mir beim Chefsein, dass ich einen Freundeskreis hatte und Foren, in denen ich kritische Fragen und Konflikte diskutieren konnte. Die größte kritische Solidarität habe ich aber immer durch meine Frau Britta erfahren. Ohne sie hätte ich so manche Situation nicht durchgestanden.

Wienberg: Du warst Gründungsmitglied des Mannheimer Kreises und der DGSP und bist bis heute im Suchtausschuss der DGSP engagiert. Welche Rolle kommt der DGSP heute zu, und was sollte sie besser lassen?

Pörksen: In der DGSP war ich in der Anfangszeit sehr aktiv, war auch eine ganze Weile Vorsitzender. In den 1990er-Jahren kam eine Zeit, in der ich den Eindruck hatte, dass es der Aktion Psychisch Kranke besser gelingt, die Reformziele im Auge zu behalten und auf deren Umsetzung zu drängen, während ich in der DGSP ein unverbindlicheres Diskussionsforum gesehen habe. Wahrscheinlich ist es notwendig, dass es Organisationen gibt, die alles hinterfragen, die zum Teil Forderungen stellen, die schwer umzusetzen sind. Mich hat aber von Anfang an in der Psychiatrie am meisten interessiert, das in die Praxis umzusetzen, was an Erkenntnissen vorlag und was ich für notwendig hielt. Ich hoffe, dass die DGSP in Zukunft ihre vorrangige Rolle darin sieht, die Bemühungen um eine inklusive Gesellschaft auf realistischer Basis voranzutreiben. Die aktuellen Initiativen sind ermutigend.


Dr. Niels Pörksen, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie i.R., lebt in Bielefeld und ist Projektleiter von "Partnership for Mental Health" sowie Vorstandsmitglied der Deutsch-Polnischen Gesellschaft für Seelische Gesundheit e.V.
E-Mail: b.n.poerksen@t-online.de

Prof. Dr. Günther Wienberg, Diplom-Psychologe und Gesundheitswissenschaftler, ist stellv. Vorstandsvorsitzender der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel sowie Honorar-Professor im Fachbereich Sozialwesen an der Hochschule Fulda.
E-Mail: guenther.wienberg@bethel.de

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 416, Oktober 2014, Seite 45 - 47
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
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E-Mail: dgsp@netcologne.de
Internet: www.psychiatrie.de/dgsp
 
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Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. April 2015

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