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STELLUNGNAHME/001: Ist sozialpsychiatrisches Denken anachronistisch? (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 128 - Heft 2, April 2010
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Ist sozialpsychiatrisches Denken anachronistisch?
Überlegungen aus der Sicht eines Klinikers

Von Jörg Hilger


Im Zeitalter einer stark naturwissenschaftlich ausgerichteten Psychiatrie besteht die Gefahr, individuelle Krankheitsaspekte mehr und mehr aus den Augen zu verlieren. Zwar wird kein in der Psychiatrie Tätiger die hohe Bedeutung des sozialen Kontextes, in dem sich psychische Störungen entwickeln, bestreiten. Angesichts immer kürzerer Behandlungszeiten in psychiatrischen Kliniken bei unzureichenden ambulanten Therapieangeboten, der wirklich großen Fortschritte neurobiologischer Forschung sowie der uns zur Verfügung stehenden durchaus wirksamen psychopharmakologischen Behandlungsmöglichkeiten gerät die praktische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der sozialen Dimension psychischer Erkrankungen jedoch zunehmend in eine Außenseiterposition. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung stellt sich die Frage, ob sozialpsychiatrisches Denken in unserer sich rasant verändernden Lebensrealität nur noch aus historischer oder sozialromantischer Sicht von Bedeutung und nicht schon längst zu einem Anachronismus geworden ist.

"Sind wir dem immer dogmatischer vertretenen Primat eines rein biologisch geprägten Menschenbildes unterworfen?"

Sind wir inzwischen nicht vielmehr gezwungen, uns dem immer dogmatischer vertretenen Primat eines rein biologisch geprägten Menschenbildes und daraus folgend einem stark reduktionistischen Krankheitsverständnis zu unterwerfen?


Historische Perspektive

Um diese zentrale Frage nachvollziehbar beantworten zu können, möchte ich zunächst etwas ausholen und noch einmal an die historischen Wurzeln und die Ideengeschichte der sozialpsychiatrischen Bewegung erinnern. Im Vergleich zu anderen westeuropäischen Ländern und den USA kam die Entwicklung moderner und humanerer Ansätze zur Versorgung psychisch Kranker in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg nur langsam voran. Zwar hatte sich durch die Einführung der Psychopharmaka die Behandlungsatmosphäre in den psychiatrischen Großkliniken insgesamt positiv verändert, außerhalb der Krankenhäuser gab es jedoch kaum weiterführende Betreuungsangebote für die Patienten. Für viele der Betroffenen war die Anstalt ihr Lebensraum, in dem sie wohnten, arbeiteten und soziale Kontakte pflegten. Das Ganze möglichst weit abgeschieden von den anderen, den Gesunden, also weitgehend ausgegrenzt aus der Gesellschaft. Mit bedingt durch die seit Ende der Sechzigerjahre angestoßenen sozialen Reformbewegungen in Deutschland, gerieten notwendigerweise auch die lange Zeit wenig reflektierten und oft genug noch sehr bedrückenden Verhältnisse in den psychiatrischen Krankenhäusern in die Kritik. Ansätze zur sozialen Integration chronisch psychisch Kranker wurden nun verstärkt öffentlich erörtert, was schließlich zur Einberufung der 'Sachverständigenkommission Psychiatrie' durch die damalige Bundesregierung führte. Ihr 1975 vorgelegter "Bericht zur Lage der Psychiatrie in Deutschland" beinhaltete stichwortartig zusammengefasst folgende Hauptforderungen:

- bessere Integration der Psychiatrie in die allgemeine Medizin;
- Verbesserung der Behandlungskontinuität bei psychisch Erkrankten;
- Verkleinerung und Reorganisation psychiatrischer Großkrankenhäuser;
- Gemeindenähe der Behandlungsangebote;
- bessere Vernetzung medizinischer und sozialer Einrichtungen;
- Ausbau flankierender Einrichtungen außerhalb der Kliniken;
- Verstärkung von Prävention und Rehabilitation psychischer Erkrankungen.

Die Psychiatrie-Enquete veränderte in den folgenden Jahren tatsächlich das Gesicht der psychosozialen Versorgungslandschaft in Deutschland und führte zur Entwicklung kommunaler und regionaler gemeindepsychiatrischer Verbünde. Durch den Ausbau ambulanter Behandlungsangebote und die Schaffung komplementärer sozialpsychiatrischer Einrichtungen, wie z.B. sozialtherapeutischer Wohnheime, Tagesstätten, beschützender Werkstätten und Sozialpsychiatrischer Zentren, wurde tatsächlich eine individuellere und besser in die Gemeinde integrierte Versorgung chronisch psychisch Kranker möglich. Der Auf- und Ausbau dieses sozialpsychiatrischen Netzwerks wurde mit sehr viel Engagement betrieben. Auch wenn vielleicht manche Erinnerung heute etwas verklärt wirken mag, so war doch die Aufbauarbeit zweifellos vom festen Willen getragen, die schwierigen sozialen Lebensbedingungen chronisch psychisch Kranker entscheidend zu verbessern. Gesellschaftliche Verantwortung paarte sich hierbei mit praktisch gelebter sozialer Solidarität.

Diesem "sozialpsychiatrischen Denken" lag ein anthropologisch geprägtes Menschenbild und Krankheitsverständnis zugrunde, dessen Ideale durch Chancengleichheit und Partnerschaftlichkeit statt Bevormundung sowie gesellschaftliche Eingliederung und Entstigmatisierung statt Ausgrenzung gekennzeichnet waren. Hierzu war es erforderlich, Hilfen individuell und leicht erreichbar zugänglich zu machen.


Ideal und Realität

An diesen Idealen wollte sich die sozialpsychiatrische Bewegung messen lassen. Angesichts des doch sehr hohen Anspruchs konnte dies aber natürlich nur zum Teil gelingen. Aus Idealismus entstand auch nicht selten ideologisches Denken mit einem gegen abweichende therapeutische Ansätze polemisierenden sozialpsychiatrischen Alleinvertretungsanspruch, der nicht selten tiefe Gräben zwischen Kliniken und komplementären Institutionen entstehen ließ und auch heute noch in so manchen Fachgremien mehr oder weniger subtil die gute Stimmung verderben kann.

So manche Ideale sozialpsychiatrischen Denkens haben sich im Laufe der Zeit etwas abgenutzt. Es wurde zwar sehr viel erreicht, doch einige Forderungen der Psychiatrie-Enquete sind bis heute, sei es aus ökonomischen Gründen oder weil sich zeigte, dass für manch chronisch Erkrankten die sozialen Integrationsmöglichkeiten letztendlich begrenzt waren, nicht abschließend umgesetzt worden. Die sehr differenzierten ambulanten Angebote des gemeindepsychiatrischen Verbundes, die in den letzten Jahren zum Beispiel auch um psychiatrische Krankenpflege, Soziotherapie, Ergotherapie und betreutes Wohnen erweitert wurden, erleben wir heute aber als selbstverständlich. Die Klinik ist nicht mehr der Lebensmittelpunkt unserer Patienten. Die stationäre Behandlung stellt vielmehr nur ein Element innerhalb eines effektiven, aber auch zunehmend unübersichtlicher gewordenen Gesamtsystems dar.

"Die Behandlungskontinuität bei chronisch kranken Patienten ist nur durch enge Kooperation aller beteiligten Institutionen möglich"

Da es nach wie vor oft zu Schwierigkeiten an den Schnittstellen zwischen stationärer und ambulanter Versorgung kommt, ist eine Behandlungskontinuität bei unseren chronisch kranken Patienten nur durch enge Kooperation aller beteiligten Institutionen möglich. Bezogen auf die Gesamtsituation in Deutschland muss jedoch kritisch angemerkt werden, dass wegen der nicht zuletzt aus dem zunehmenden Kostendruck entstehenden - Konkurrenzsituation zwischen den sozialpsychiatrischen Leistungsanbietern wirklich individuell zugeschnittene Hilfsangebote für die Betroffenen oft nur schwer zu realisieren sind. Auch Planungsinstrumente, wie z.B. Hilfeplankonferenzen, können dieser Problematik nur begrenzt entgegenwirken und schaffen - trotz des dahinter stehenden eigentlich sehr sinnvollen Ansatzes individualisierter Hilfen - zusätzliche Bürokratie, die leider häufig wertvolle Zeit beansprucht auf Kosten der Arbeit mit unseren Patienten.

Ein weiteres Problem stellt die unzureichende wissenschaftliche Evaluation der gemeindepsychiatrischen Hilfsangebote dar. Innerhalb der stark praxisorientierten Sozialpsychiatrie lassen sich experimentelle Studiendesigns nur schwer bzw. nur mit sehr hohem Aufwand realisieren. Die insgesamt recht geringe Bereitschaft der Institutionen, sich an wissenschaftlichen Projekten zu beteiligen, resultiert neben einem zu Recht beklagten Personalmangel unter anderem auch aus der häufig zu verzeichnenden gegenseitigen inhaltlichen Abschottung der Einrichtungen, die eine Vergleichbarkeit ihrer Leistungsangebote nicht möglich macht. Der allerdings wirklich entscheidende Grund für die beschriebenen wissenschaftlichen Defizite ist, wie sollte es auch anders sein, darin zu sehen, das nur vergleichsweise bescheidene finanzielle Mittel für entsprechende Studien zur Verfügung gestellt werden. Die Sozialpsychiatrie ist in dieser Hinsicht gegenüber der psychopharmakologischen Forschung, in die grob (und wohl eher konservativ) geschätzt mindestens einhundertmal mehr Gelder fließen, naturgemäß hoffnungslos benachteiligt. Leider sind altruistische öffentliche oder private Sponsoren für solche Projekte nur äußerst selten zu finden. Angesichts eines allgemeinen Trends zur Entwicklung evidenzbasierter medizinischer Leitlinien stehen wir hier vor dem Dilemma eines erschreckenden Ungleichgewichts zwischen wissenschaftlich evaluierten Wissens zu biologischer Krankheitsgenese und medikamentösen Behandlungsmethoden auf der einen und den meist erfahrungsgeleiteten Prinzipien gemeindepsychiatrischer Versorgung auf der anderen Seite. Dieser Entwicklung gilt es nicht nur dadurch entgegenzuwirken, mehr Gelder für sozialpsychiatrische Forschung zur Verfügung zu stellen, sondern auch den wissenschaftlich wenig untersuchten alltäglich bewährten praktischen Erfahrungsschatz bei der Entwicklung von psychiatrischen Leitlinien und Qualitätsstandards angemessen zu berücksichtigen.

"Der Ausbau gemeindepsychiatrischer Hilfen führt nicht zwingend zur Verhinderung oder Verkürzung von Krankenhausbehandlungen"

Trotz dieser beispielhaft aufgeführten Probleme verfügen wir auch im internationalen Vergleich mittlerweile über ein einzigartiges und effizientes sozialpsychiatrisches Versorgungsnetz. Vor dem Hintergrund der Krise unserer sozialen Sicherungssysteme erscheint jedoch eine öffentliche und ehrlich geführte Diskussion darüber, ob wir uns dieses Angebot auch in Zukunft leisten können bzw. wollen, überfällig. Tatsächlich muss eingeräumt werden, dass, anders als ursprünglich erhofft, der Ausbau und die Weiterentwicklung gemeindepsychiatrischer Hilfen nicht zwingend zur Verhinderung oder Verkürzung von Krankenhausbehandlungen führt. Durch zunehmend individualisierte Versorgungsangebote werden außerdem zusätzlich Menschen ins Hilfesystem geholt, die früher nicht erreicht wurden. Somit lassen sich durch einen sozialpsychiatrischen Versorgungsansatz volkswirtschaftlich gesehen wahrscheinlich kaum Kosten einsparen. Nur sollte diese Erkenntnis zukünftig wirklich unser Handeln bestimmen? Sollen die geschaffenen Behandlungs- und Hilfsangebote wieder reduziert und damit für viele Betroffene unerreichbar werden? Diese Fragen klingen zwar rhetorisch, befriedigende Antworten stehen allerdings aus und sind zurzeit wohl auch nicht ernsthaft zu erwarten. Eindrücklich zu betonen ist aber, dass das dicht geflochtene sozialpsychiatrische Versorgungsnetz zweifellos zu einer ganz entscheidenden Verbesserung der Lebensqualität vieler psychisch Kranker beigetragen hat. Eine Kosten-Nutzen-Analyse der vorgehaltenen Hilfsangebote darf daher keinesfalls nur unter ökonomischen Gesichtspunkten erfolgen, sondern muss vor allem dem ethischen Maßstab gesellschaftlicher Solidarität standhalten.


Thesen

Wie sieht es also aus, nach allem, was gesagt wurde? Ist sozialpsychiatrisches Denken aus heutiger Sicht nun anachronistisch? Hierzu einige Thesen:

Sozialpsychiatrisches Denken ist dann anachronistisch,

wenn es Gräben zwischen den beteiligten Institutionen vertieft und Ideologien erzeugt,
wenn das Prinzip der sozialen Integration bzw. Chancengleichheit psychisch Kranker nicht mehr als gesellschaftlicher Auftrag verstanden wird und die hierfür anfallenden Kosten eingespart werden sollen und
wenn Sinn und Effektivität sozialpsychiatrischer Ansätze ausschließlich unter positivistischen Gesichtspunkten bewertet werden.

Sozialpsychiatrisches Denken erscheint jedoch nicht anachronistisch,

wenn es zu einem umfassenderen und differenzierteren Menschenbild bzw. Krankheitsverständnis beiträgt,
wenn es einen Beitrag zur Entstigmatisierung psychisch Kranker leistet,
wenn Solidarität mit psychisch Kranken weiterhin als zu bewahrender gesellschaftlicher Wert verstanden wird,
wenn es auf einen Alleinvertretungsanspruch verzichtet und sich auch für biologische und psychotherapeutische Behandlungsansätze offen zeigt,
wenn Konzepte wie Vernetzung und Behandlungskontinuität ernst genommen werden,
wenn der personenzentrierte Ansatz nicht bloß als bürokratischer Akt verstanden wird,
wenn es auch unter schwierigen finanziellen Rahmenbedingungen Anstöße zur Entwicklung innovativer Behandlungs- und Betreuungskonzepte liefert und
wenn auch praktische Anwendungserfahrungen ohne eindeutige wissenschaftliche Absicherung als wertvoll erachtet werden.

Diese Thesen sind zugegebenermaßen subjektiv und fordern möglicherweise zum Widerspruch heraus. Unzweifelhaft bleibt aber festzuhalten, dass die beschriebenen Ideale der Sozialpsychiatrie ein besonders wichtiges Fundament unserer Professionalität darstellen, ohne dass unser Behandlungs- und Betreuungssystem morsch und einsturzgefährdet wäre. Es steht also viel auf dem Spiel, und der Einsatz für den Erhält des bisher Erreichten lohnt sich. Wir sollten uns deshalb nicht durch ökonomischen Druck entmutigen lassen, sondern im Interesse unserer Patienten konzeptionelle und verbliebene finanzielle Spielräume noch kreativer als bisher und ohne Selbstmitleid nutzen.


Dr. Jörg Hilger ist leitender Arzt im Klinikbereich Psychiatrie 2 der Evangelischen Stiftung Tannenhof in Remscheid.

E-Mail-Kontakt: joerg.hilger@stiftung-tannenhof.de


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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 126 - Heft 2, April 2010, Seite 53 - 55
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. September 2010