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ARTIKEL/398: Psychiatrie in der Klinik - Erfahrungen, Kritik, Forderungen (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 130 - Heft 4, Oktober 2010
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

"Eine generelle Verurteilung des Systems ist kontraproduktiv"
Psychiatrie in der Klinik: Erfahrungen - Kritik - Forderungen

Von Rainer Höflacher


Zuerst zu meiner Person: Ich bin neunundvierzig Jahre alt und lebe seit neunundzwanzig Jahren mit der Diagnose "schizoaffektive Psychose". Nach einer Ausbildung zum staatlich geprüften Informatiker arbeitete ich einige Jahre als Programmierer. Seit 1996 bin ich Frührentner, und seit 1999 engagiere ich mich in der Psychiatrie-Selbsthilfe. Hierbei ist besonders der Psychiatrienutzer-geführte Verein Offene Herberge e.V. mit dem Projekt EX-IN Baden-Württemberg und der Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Baden-Württemberg e.V. zu nennen, wo ich mitarbeite.

Ich habe inzwischen fünfzehn stationäre Psychiatrieaufenthalte und noch mehr akute Psychosen hinter mir. Wurde mehrfach fixiert und hatte deswegen auch schon mit der Polizei Kontakt, wenn auch nie dramatisch. Hier kann ich gleich anfügen, dass ich bis jetzt gute Erfahrungen mit der Polizei gemacht habe. Meine letzte Psychose hatte ich im Mai 2009.

Schock: Ersteinweisung

Als ich 1981 zum ersten Mal in die Psychiatrie kam, traf mich der volle Schock einer Ersteinweisung. Emotional mit neunzehn Jahren immer noch ein Spätentwickler und unselbstständig, war ich vollkommen überfordert mit dem, was da auf Station auf mich zukam. Damals wurde mit Psychopharmaka noch unkritischer umgegangen als heute. Fast alle akut Erkrankten bekamen die Standardmedikation Haldol und Neurocil. Ich litt damals unter fürchterlichen Nebenwirkungen, hatte schlimme innere Unruhe und am ganzen Körper Krämpfe. Teilweise konnte ich deswegen mein Bett nicht mehr verlassen. Es war eine Qual. An eine Aufklärung über die Nebenwirkungen der Psychopharmaka war nicht zu denken. Allerdings scheuen auch noch heute viele Psychiater, offen die Risiken der Medikamente anzusprechen, da sie die Angst haben, dass diese noch weniger genommen werden, als es sowieso schon der Fall ist. Mein Hausarzt, der sich mit Psychopharmaka nicht auskennt, sagte mir einmal, als er in seinem Medikamentenbuch deswegen nachschlug: "Was ist denn das für ein Gift?" Ich möchte hier darauf hinweisen, dass ich schon seit vielen Jahren Psychopharmaka nehme. Allerdings nicht mit wirklicher Überzeugung. Ich habe nur das unterschwellige Gefühl, dass sie mir helfen, und wenn nahezu alle sagen, sie sind wirksam und die Krankenkassen so viel Geld investieren, dann müssen sie doch einen Nutzen haben. Ich habe zu diesen Medikamenten sozusagen eine gewisse Hassliebe entwickelt. Eine Zeit lang gab mir die Vorstellung viel Kraft, ich könne irgendwann noch psychopharmakafrei leben. Inzwischen habe ich in Anbetracht meines Krankheitsverlaufes dieses Ziel aufgegeben und bemühe mich, eher die Minimaldosis herauszufinden. Glücklicherweise leide ich bisher kaum unter Nebenwirkungen. Vermutlich die schlimmste Nebenwirkung ist es, dass mein Gedächtnis erschreckend schlecht geworden ist. Teilweise mogele ich mich richtig durch das Leben, wenn mein Faktenwissen gefragt ist.

"Eine Ersteinweisung ist fast immer traumatisch"

Meine Erfahrung ist es, dass eine Ersteinweisung fast immer traumatisch ist. Die fremde Welt der geschlossenen Psychiatrie zum ersten Mal kennen zu lernen ist schockierend. Es ist meist keine Zeit seitens des Personals da, auf diesen Berührungsschock einzugehen, und das trägt dazu bei, dass der Ersteingewiesene in Zukunft voller Angst vor der Psychiatrie und vor der nächsten Einweisung lebt. Wenn es, wie bei mir, zu mehreren Einweisungen gekommen ist, ändert sich dies. Selbstverständlich vermeide ich es, in die Psychiatrie zu gehen. Trotzdem ist es manchmal bei mir sinnvoll, möglichst früh zu gehen, da dann die Psychose im Frühstadium leichter behandelt werden kann. Dabei ist es wichtig, dass die Psychiatrie als hilfreich empfunden wird. Inzwischen ist es bei mir so, dass ich die Mitpatienten als meine "Kollegen" sehe und ich uns als Schicksalsgemeinschaft empfinde. Das ist einerseits hilfreich, kann aber andererseits dazu führen, in ein Ghetto hineinzugeraten und irgendwann nur noch Psychiatriepatienten zu kennen. Dies ist, auch aufgrund der großen Stigmatisierung von Psychiatrie-Erfahrenen, ein häufiges Phänomen.

Gewalterfahrungen

Was sich mir besonders eingeprägt hat, ist ein Konflikt mit einer Krankenpflegerin, der zeigt, dass seelische Grausamkeit genauso traumatisierend sein kann wie körperliche. Ich sprach damals die Pflegerin darauf an, dass ich ihren Umgangston als unangemessen empfand, worauf sie mir antwortete, wenn es mir nicht passe, dann werde sie gar nicht mehr mit mir reden. Da empfand ich stark meine Abhängigkeit gegenüber dieser Frau, denn ich war als Patient ja auf sie angewiesen. Es verließ mich mein Mut, und ich lenkte ein. Nach einigen Jahren hatte ich in der Psychiatrischen Institutsambulanz (PIA) wieder mit ihr zu tun und sprach sie auf das Damalige an. Sie antwortete: "So gehen wir eben mit übergriffigen Patienten um." Diese emotionale Niederlage habe ich bis heute nicht vergessen.

Bei meinen Fixierungen ist mir eine besonders in Erinnerung. Ich wurde emotional erregt eingeliefert. Die Pfleger sagten daraufhin, dass ich Haldol nehmen solle und dass mir dieses gespritzt werden müsse. Ich habe sowieso ziemliche Angst vor Spritzen, und in der Psychose wurde diese Angst noch übersteigert. Nun bat ich darum, dass ich das Haldol gerne oral einnehmen würde, was die Pfleger ablehnten, und dann gingen sie auf mich los. Vor Angst umarmte ich eine Pflegerin und biss ihr leicht in den Oberarm. Dies wurde natürlich erst recht als Fremdgefährdung ausgelegt, und ich wurde mit brachialer Gewalt fixiert und zwangsgespritzt. Leider war ich so aufgebracht, dass ich mich ausnahmsweise bei einer Fixierung wehrte, was mir nicht gut bekam. Diese Fixierung ist mir so gut in Erinnerung, weil ich finde, dass ich ungerecht behandelt wurde, und nur die Aussage meiner damaligen Freundin, dass man schon Angst vor mir hat haben können, verhinderte, dass ich zur Beschwerdestelle ging. Später bestätigten mir andere Krankenpfleger, dass sie so nie gehandelt hätten.

Ich kann mich auch gut daran erinnern, wie abhängig und schutzlos man sich in der Fixierung fühlt und welche Macht die Krankenpfleger haben. Man ist unsagbar erleichtert, wenn jemand sich die Zeit nimmt und mit dem Fixierten spricht und sich kümmert. Deshalb halte ich die Forderung nach Sitzwachen bei der Fixierung für so wichtig und empfinde das Argument des Zeitmangels als unangebracht angesichts der Leiden, die der Fixierte erlebt. Ich weiß nicht, ob sich die Krankenpfleger und die Ärzte vorstellen können, wie man sich in der Fixierung fühlt.

Ich gehörte nicht zu den Gegnern der Psychiatrie und versuche, im System Veränderungen zu bewirken. Letztendlich habe ich auch mehr gute Erfahrungen als schlechte und habe viele freundliche und bemühte Fachkräfte kennen gelernt; besonders wird mir das deutlich, wenn ich versuche, mich ein wenig in die Problematik des Berufs einzufühlen. Trotzdem gibt es auch andere Beispiele. Die Macht, die ein Pfleger auf einer geschlossenen Station über den Patienten hat, ist enorm. Und vor allem Fachkräfte, die ein vermindertes Selbstwertgefühl und draußen nichts zu sagen haben, sind gefährdet, diese Macht auszunutzen, und quälen dann die Patienten offen oder subtil. Deswegen halte ich es nach wie vor für sehr wichtig, dass es in jeder Stadt eine unabhängige und anerkannte Beschwerdestelle gibt. Allein schon die Existenz solch einer Einrichtung vermindert Ungerechtigkeiten während der Behandlung.

Die Lauten und Mutigen, die Stillen und Ängstlichen

Es gibt eben grob gesehen zwei Arten von Patienten. Da sind die Lauten und Mutigen und daneben gibt es die Stillen und Ängstlichen. Sicherlich haben die Lauten oft nicht die Sympathie der Fachkräfte auf ihrer Seite, und trotzdem ist es auffällig, dass diese aber viel mehr Aufmerksamkeit bekommen als die Leisen. Oft haben die Lauten feine Antennen, was Ungerechtigkeiten anbelangt, und wehren sich dann. Die Ängstlichen oder Depressiven registrieren manchmal nicht einmal, wenn sie schlecht behandelt werden. Sie werden im Klinikalltag oft vernachlässigt und leiden im Stillen. Es gibt ja in der Psychiatrie eine allgemeine Tendenz, dass die, die die Kompetenz haben, sich Hilfe zu holen, manchmal sogar überversorgt sind, und die Schwachen und schwerer Behinderten immer weniger in den Genuss von Hilfen kommen. Der Leitsatz von Klaus Dörner, dass Hilfe beim Schwächsten beginnen solle, gerät meiner Meinung nach immer mehr in Vergessenheit.

An ein Ereignis im Mai 2009 erinnere ich mich auch gut. Ich war in Emmendingen auf die Geschlossene eingeliefert worden - üblicherweise werde ich im Bürgerhospital in Stuttgart behandelt. Da ich also fremd dort war, ergab es sich, dass ich die ersten Tage keine Angehörigen hatte, die sich um mich kümmerten. Inzwischen weiß ich, welch fatale Situation dies ist. Nicht einmal Waschzeug bekam ich von der Station. Ich musste wirklich um eine Zahnbürste kämpfen. Der Oberpfleger sagte mir, dass es mit der letzten Kürzung für so etwas kein Budget mehr gäbe und es eine große Ausnahme sei, dass er irgendwo noch eine Zahnbürste und Creme aufgetrieben hätte. Das war aber auch alles, was es für mich gab. Ich weiß nicht, ob das inzwischen in allen Psychiatrien so üblich ist.

Was muss sich ändern?

Abschließend nenne ich hier noch einige Wünsche an die psychiatrische Pflege, mit deren Erfüllung die Psychiatrie menschlicher gemacht werden könnte. Wir fordern:

  • konsequente Vermeidung von Zwang und Gewalt. Es müssen alle anderen Maßnahmen ausgeschöpft sein, bevor Gewalt oder Zwang ausgeübt wird;
  • dass die Behandlerinnen und Behandler fähig sind, angemessen mit ihrer großen Macht gegenüber dem Patienten umzugehen (kein Machtmissbrauch);
  • therapeutische Grundhaltungen (siehe Rogers: Akzeptanz, Kongruenz, Empathie) und einen verstehenden Zugang zum Patienten (indianisches Sprichwort: "Bevor du einen Menschen verurteilst, gehe mindestens fünf Monde in seinen Mokassins");
  • eine Psychiatrie des Gesprächs;
  • eine gelungene Balance zwischen Unter- und Überforderung für den Patienten;
  • gut ausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bezüglich Deeskalation und Teamfähigkeit;
  • Sitzwachen bei Fixierungen;
  • dass ein Patient gefragt wird, warum er keine Psychopharmaka nehmen will. Plausible Gründe hierfür müssen anerkannt werden;
  • einen professionellen Umgang mit Kritik und Beschwerden. Eine Beschwerde ist ein hilfreiches Mittel zur Qualitätsverbesserung und sollte als Empowerment des Patienten aufgefasst werden und nicht als persönliche Kränkung;
  • dass depressive und gehemmte Patienten auf Station nicht vernachlässigt werden;
  • mehr Soteria-Elemente in der stationären Behandlung; mehr Soterien in Deutschland;
  • mehr mobile Krisenteams und Hometreatment.

Fazit: Die Psychiatrie ist besser als ihr Ruf, aber es gibt trotzdem noch viel zu verbessern und weiterzuentwickeln. Dabei sollten alle Beteiligten konstruktiv und respektvoll zusammenarbeiten. Wut und Ärger über Ungerechtigkeiten innerhalb der Psychiatrie können eine Antriebsfeder sein, sollten aber nicht zu Beleidigung derer führen, die meist direkt nichts damit zu tun haben. Aggressionen und ein Gegeneinander machen in der Auseinandersetzung in der Regel Türen zu und verhindern nachhaltige Veränderungen. Bei einem System, in dem Gewalt und Zwang gegen Patienten zu Recht gesetzlich legitimiert sind, braucht es besonderer Kontrolle und Rechtsstaatlichkeit. Eine generelle Verurteilung des gesamten Systems und all derer, die darin arbeiten, ist meiner Meinung nach aber kontraproduktiv und entspricht auch nicht der Realität und Praxis der heutigen Psychiatrie. Dies sage ich auch auf die Gefahr hin, dass man mich als psychiatriefreundlich bezeichnet. Ich versuche, mir meine Kritikfähigkeit zu erhalten, das bin ich meinen Leidensgenossen schuldig; aber das ändert nichts an der Tatsache, dass eine Sache immer von mehreren Seiten aus betrachtet werden kann.

Rainer Höflacher lebt in Stuttgart. Er ist u.a. stellv. Vorstandsvorsitzender der Offenen Herberge e.V. und Vorstandsmitglied des Landesvertandes Psychiatrie-Erfahrener Baden-Württemberg.
E-Mail-Kontakt: hoeflacher@offene-herberge.de

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 130 - Heft 4, Oktober 2010, Seite 37 - 38
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Heinz Mölders und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. März 2011

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