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FORSCHUNG/148: MDE - Eine Geisteskrankheit in der Sicht der Naturwissenschaften (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 11/2010

MDE = Manisch-depressive Erkrankung
Eine Geisteskrankheit in der Sicht der Naturwissenschaften

Von Prof. Ulrich Supprian


Naturwissenschaftliches Denken kann in die theoretische Psychiatrie eingeführt werden. Ein Beitrag von Prof. Ulrich Supprian.


Geisteskrankheit ist eine Erkrankung mit typischen Erscheinungen, typischem Verlauf, Ausgang in Restitution oder charakteristischem Defekt. Als Beispiele seien die Gruppe der Schizophrenien und die der manisch-depressiven Erkrankungen genannt. Diese sind häufig schwerwiegend, sozial störend, kostspielig und wissenschaftlich unverstanden. Man kennt weder ihre Ursachen noch die inneren Mechanismen des merkwürdigen Verlaufs, und therapeutisch gelingt allenfalls pragmatisch eine Linderung. Auftreten und Verlauf haben nichts mit Persönlichkeit oder Lebensumständen zu tun und werden daher als "endogen" bezeichnet - das heißt im Kern unverständlich. Es gibt hereditäre Faktoren unklarer Art.

Geisteskrankheit ist keine Hirnkrankheit im üblichen Sinne, denn der Symptomatik fehlen alle exogenen Züge. Unverständlich ist der phasische Verlauf mit akuten Episoden und erscheinungsarmen Intervallen in endloser Reihung und Unregelmäßigkeit. Diese wurde von Kraepelin betont und hinderte fortan jede Nachprüfung. Verstehen ist ein psychologischer Vorgang, bei welchem ein Wahrnehmungsobjekt an persönliche Erfahrung angeschlossen wird, assoziativ, emotional oder sonstwie umrisshaft. Ein Wesensaufschluss ist dabei illusionär. Erklären ist nur möglich bei Bestehen eines erprobten Begriffssystems, auf welches die Dinge reduktiv zurückgeführt werden können. Natürlich muss eine Erklärung verständlich im gewöhnlichen Sinne sein, sie ist jedoch kein psychologischer Sachverhalt.

Die Naturwissenschaften separieren einen Ausschnitt der Realität, wählen darin einen Gegenstand, schreiben diesem objektive Eigengestalt zu, führen die Einzelheiten seiner Bauart und seines Funktionierens reduktiv auf einfachere und bekannte Begriffe in einer Theorie bestimmter Bauart zurück und sagen das Verhalten in der Zukunft mit berechneten Prognosen voraus. Sie erklären eine Sachlage.

Die Geisteskrankheiten dagegen spielen sich im seelischen Innenfeld ab, ohne sachlich greifbare Spuren und ohne Verständlichkeit. Sie zerstören das Wohlbefinden, mindern die Leistungsfähigkeit und das Urteilsvermögen, verändern das Identitätsbewusstsein und die personale Verantwortlichkeit. Sie führen zu Entmündigung und Pflegebedürftigkeit. Ihre Objekte können, wie es scheint, nicht Arbeitsfeld für naturwissenschaftliche Methoden sein, sie verbleiben im Subjektiven. Auch die klinisch offenkundige Unregelmäßigkeit des Verlaufs erlaubt keine strukturanalytische Forschung. Die MDE haben in der klinischen Wirklichkeit ein überaus breites Spektrum von Möglichkeiten zur psychopathologischen Bildgestaltung, mit den neun von Kraepelin beschriebenen Grundzuständen. Das Manische (M) oder das Depressive (D) sind nur deskriptiv leicht fassbare Prägnanz typen. Daneben gibt es rein passive Zustände (3), melancholische (2) und verzweifelt-agitierte (G), skurril-explosive (4) oder vehement-aktionistische Zustände (1), unzugängliche schizoid-ekstatische Verfassungen (E) und die Normalität (N). Alle können in einen systematischen Zusammenhang gebracht werden mit der zentralen Hypothese der Dualität, nach der Intensitätsänderungen der Bildbeiträge sich unabhängig mit evtl. gegenläufigen Beiträgen der Psychoenenergie überlagern. Drei Regulationslagen (vermindert, unverändert, gesteigert) in zwei Systemen überlagern sich zu einem quadratischen Kombinationsschema mit neun Zellen ("Nonagramm"). Dessen Zweidimensionalität ist ein grundlegender Zug der ganzen Angelegenheit. Ein breites Spektrum an Möglichkeiten besteht auch für die chronopathologische Gestaltung. Das reicht von monotonen Verläufen mit siegelhaft geprägter Bildgestaltung bis zu turbulenten Erscheinungen, bei denen jeder Tag ein anderes Gesicht zeigt. Besonderes Interesse verdienen phasische Abläufe mit Tagen und Wochen akuter Psychose, denen ein erscheinungsarmes Intervall von beliebig erscheinender Länge in lebenslanger Reihung folgt. Als Beispiel für einen phasischen Ablauf dient der Phasenkalender von IR02 (Identifikationskürzel; siehe Tab.).


Nr.
Beginn
Ende
Phase
Intervall
Diagnose
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
25.05.50
22.07.57
25.05.58
10.09.59
29.04.64
28.12.64
16.11.65
01.08.67
03.01.69
24.12.78
07.08.81
06.09.82
21.07.84
07.02.85
18.11.85
21.03.86
04.12.86
15.04.87
14.12.87
17.06.88
28.08.88
03.07.50
06.10.57
30.07.58
03.11.59
27.06.64
25.03.65
22.01.66
14.10.67
23.03.69
16.02.79
10.09.81
09.10.82
03.09.84
12.03.85
23.01.86
14.05.86
27.01.87
09.06.87
03.03.88
31.07.88
13.10.88
39
76
66
54
59
87
67
74
79
54
34
33
44
33
66
54
54
55
80
44
46
2.576
231
407
1.639
184
236
556
447
3.563
903
361
651
157
251
57
204
78
188
106
28
-
M
M
M
M
M
M
M
M
M
M
M
D
D
D
D
D
D
D
D
D
D

Tab. 1: Phasenkalender von IR02 (aus dem Archiv der Psychiatrischen Universitätsklinik Hamburg)


Die kalendarischen Datierungen für Beginn und Ende wurden durch chronopathologische Interpretation von klinischen Dokumenten gewonnen. Der Ablauf umfasst 21 Episoden in 38 Jahren, unterbrochen von einem Intervall (Nr. 9) von fast zehn Jahren. In diesem sind keine weiteren nicht-dokumentierten Episoden verborgen, es handelt sich um ein echtes ("endogenes") Intervall. Vom 25.05.1950 bis zum 03.07.1950 39 Tage (Phasenlänge), vom 03.07.1950 bis zum 22.07.1957 2.576 Tage (Intervall) usw. (sog. Urdaten, zwei Spalten links). Der Gesamtumfang beträgt 14.021 Tage. Die komplexen Vorgänge an einigen Tagen zu Beginn der Psychose werden auf ein Rechteckmodell reduziert, was bei langen Verläufen nur geringe Unsicherheiten in die Abbildung bringt, die daher weitgehend als repräsentativ für den psychotischen Prozess gelten darf. Diese Unsicherheiten begründen Möglichkeiten für hypothetische Umdatierungen. Primär geht es um unanschauliche Kalenderdaten (linke Spalten). Sie können leicht in Tageszahlen umgerechnet werden (rechter Teil). Diese Daten sind historisch verkettet: Die Umdatierung einer Phasenlänge etwa ändert notwendig und gegenläufig ein Intervall. Es fällt auf, dass die Phasenlängen für sich allein betrachtet den engen Range-Bereich zwischen 33 und 159 erfüllen bei einem Mittelwert von 66,12 Tagen und einer Standardabweichung von nur 28,66. Wenn man die Phasenlängen hypothetisch so ändert, dass sie alle den Wert 63 annehmen, was die im Mittel geringfügigen Beträge von 9,96 Tagen erfordert, ist das ohne weiteres möglich - wobei man in Kauf nehmen muss, dass die verketteten Intervall-Längen passiv gleichfalls verändert werden. Es ist ein fundamentaler Befund, dass die dermaßen geänderten IntervallLängen ihrerseits alle passiv den Wert 63 annehmen oder ein ganzzahliges Vielfaches davon. Es erweist sich mithin 63 als periodischer Elementarbaustein im Aufbau. Derlei Operationen sind bei nativen Phasenkalendern immer möglich, wobei 46 verschiedene Baustein-Längen auftreten (nicht allein, wenn auch häufig 63). In einem Kollektiv von mehreren Hundert Perioden fand sich keine Primzahl. Für die Frequenzanalyse von Phasenkalendern steht das Verfahren INKA zur Verfügung. Es erzeugt streng periodische Modelle und bestimmt deren Passgenauigkeit in allen Phasenlagen und stellt die Güte der Anpassung in einem Spektrum dar. Die Erfahrung zeigt, dass es bei nativen Phasenkalendern Extremwerte der Anpassung gibt, die innerhalb der geprüften Perioden ausreißerhaft hochsignifikant auftreten. Seit Kraepelin gelten die langfristigen Abläufe der MDE als psychotisch entordnet und unregelmäßig. Wenn man es nachprüft, wird deutlich, dass im Gegenteil die Abläufe eine einfache, durchlaufende und strenge Ordnung besitzen, die auch theoretisch verstanden werden kann. Diese Chronopathologische Theorie der phasischen Psychosen (ChTh) ist vielfach dargestellt und mitgeteilt worden. Es läuft darauf hinaus, dass ein duales Stimmung-/Antriebssystem ganztägige, aber frequenzdifferente Mehrtagesschwankungen ausbildet, die vom äußeren Tagesrhythmus resynchronisiert werden und daher "endogen" stabil sind. Es geht nicht um einen somatischen Hirnprozess, sondern um eine Zeitordnungsstörung. Auf dieser Basis kann eine neuartige Therapie konzipiert werden, für welche man ein Schlaflabor benötigt, das gegenüber dem äußeren Tagesablauf isoliert.

Name des Datensatzes = 63 (Daten von Nr. 1 bis 29)
Ausgezeichente Periode = 63 im Bereich von 20 bis 90
Auszeichnung = 4.45604509 Standartabweichung
Phasenlage = 21
Rechenzeit in Sekunden = 35.18
Programm MEGA (INKA), Version 3.10.
Geändert 10.04.1995


Die Frequenzanalyse (FA, INKA, KAL_ANA) arbeitet nicht allgemein mit den Normalgleichungen, sondern mit "number crunching", indem alles durchgerechnet wird und daraus das Minimum ausgesucht wird. Es wird ein periodenreines Modell bestimmt mit Anpassung an die Komplexitätstruktur und sodann die Summe der Abweichungen ("Fehler" nach GAUSS), und zwar in allen infrage kommenden Phasenlagen. Das Minimum wird als Gütemaß der Anpassung angesehen und auf der Ordinate des Spektrums dargestellt, nach z-Transformation und invertiert, sodass gute Werte sich nach oben erstrecken. Sodann wird das nächste Modell untersucht. Die Ordinate ist in Standardabweichungen geteilt und erlaubt daher die direkte Ablesung des Auszeichnungsgrades der untersuchten Perioden, bzw. der Ausreisserhaftigkeit einer hervorragenden Periode.


Literatur beim Verfasser oder im Internet unter www.aeksh.de

Weitere Information www.ulrich-supprian.de
Prof. Ulrich Supprian, Süderstapel,
E-Mail ulrich-supprian@t-online.de


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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 11/2010 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2010/201011/h10114a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt November 2010
63. Jahrgang, Seite 50 - 52
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Januar 2011