Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → PSYCHIATRIE

RECHT/041: Zwangsbehandung - "Aufforderung zum Rechtsbruch?", ein Gegenentwurf zur Stellungnahme der DGPPN (R&P)


R & P - Zeitschrift "Recht & Psychiatrie" 2/2012

Auforderung zum Rechtsbruch?

Von Dr. Martin Zinkler



Die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug vom 23.03.2011


Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) hat sich am 16.01.2012 zur Zwangsbehandlung geäußert (http://www.dgppn.de/aktuelles/startseite-detailansicht/article/100/zum-urteil-d.html).

Die Autoren dieser Stellungnahme argumentieren, dass mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug vom 23.03.2011 (2 BvR 882/09, R & P 2011, 29: 168) und weiteren Urteilen, etwa dem des Bundesverfassungsgerichts zum Baden-Württembergischen Unterbringungsgesetz vom 12.10.2011 (2 BvR 633/11, R & P 2012, 30: 31), die Grenzen für eine Zwangsbehandlung so eng gezogen würden, dass »Ärzte gezwungen werden, behandelbaren Menschen wirksame Hilfe vorzuenthalten«, dass »psychisch kranke Menschen einem eigengesetzlich verlaufenden Krankheitsschicksal überlassen werden« und dass »mechanische Zwangsmaßnahmen in zynischer Weise als zu bevorzugende humane Behandlungsformen dargestellt werden«. Die DGPPN fordert unter anderem eine »eindeutige gesetzliche Grundlage für eine erforderliche Zwangsbehandlung auch bei einwilligungsfähigen Patienten, die infolge einer psychischen Störung gefährlich geworden sind«.

Die DGPPN positioniert sich mit dieser Forderung außerhalb der aktuellen Interpretation des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht. Die Stellungnahme ist geeignet, die Akzeptanz und Gültigkeit des demokratisch zustande gekommenen Normbestandes zu untergraben.

Dabei wäre eine ganz andere Position denkbar, denn die Rechtsprechung der Verfassungsrichter schafft Klarheit und damit neue Möglichkeiten zur Verständigung in der Psychiatrie und zum Abbau von Stigma und Vorurteilen gegenüber psychisch Kranken. Wie hätte eine weniger defensive und mehr vorausschauende Stellungnahme ausfallen können?


Ein Gegenentwurf:

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde begrüßt ausdrücklich die Urteile des Bundesverfassungsgerichts vom 23.03.2011 und vom 12.10.2011 als wesentlichen Beitrag zu einer modernen Psychiatrie, in der die Grundrechte aller Patienten beachtet werden. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts tragen dazu bei, die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in der Gesetzgebung für psychisch Kranke zu verankern und eine Vertrauensbasis zwischen den in der Psychiatrie handelnden professionellen Helfern und ihren Patienten auf der Grundlage des Grundgesetzes zu schaffen.

1. Die engen Grenzen, unter denen eine Zwangsbehandlung noch stattfinden kann, stellt die deutsche Psychiatrie vor die Aufgabe, wirksame präventive Maßnahmen und wirksame Alternativen zur medikamentösen Zwangsbehandlung zu entwickeln.

2. Die klar definierten Bedingungen für eine Zwangsbehandlung stärken das Vertrauen zwischen Patienten und ihren professionellen Helfern in der Psychiatrie und schaffen damit die Basis für eine hilfreiche, auf therapeutischen Grundlagen basierende Beziehung, die wiederum eine Genesung in medizinischer und in sozialer Hinsicht begünstigt.

3. Die Gleichstellung von psychisch Kranken in ihren Rechten mit körperlich Kranken ist ein wesentlicher Schritt auf dem langen Weg, die Ausgrenzung von psychisch Kranken zu beenden. Zur Gleichstellung gehört auch die Verantwortung für gefährliches Handeln, soweit diese Verantwortung nicht durch die psychische Erkrankung eingeschränkt oder aufgehoben ist. Einwilligungsfähige psychisch Kranke werden damit einwilligungsfähigen nicht psychisch Kranken gleichgestellt.

4. In der Psychiatrie tätige Ärzte erhalten mit diesen Urteilen einen klaren Handlungsrahmen, unter welchen Umständen und mit welchen verfahrensrechtlichen Vorkehrungen eine Zwangsbehandlung infrage kommt.

5. Die Konfrontation mit gefährlichem Verhalten stellt hohe Anforderungen an die professionellen Helfer in der Psychiatrie. Für diese Aufgaben sind besondere Qualifikationen, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen erforderlich. Sie sind nur mit einer entsprechenden personellen Ausstattung der Kliniken zu erfüllen.


Zu diesen Punkten im Einzelnen:

1. Die Anwendung einer Zwangsbehandlung mit Neuroleptika ist in ihrer Wirksamkeit, insbesondere hinsichtlich einer nachhaltigen Genesung, nicht belegt. Gerade bei Patienten, die neuroleptische Medikamente häufig an- und absetzen, scheinen psychotische Erkrankungen besonders ungünstig zu verlaufen (HEALY et al. 2006). Die Gefährlichkeit der intravenösen Anwendung von Neuroleptika wurde erst in den letzten Jahren bekannt (Übersicht bei ADERHOLD 2010). Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts schützen demnach nicht nur die Rechte, sondern auch die Gesundheit unserer Patienten.

Viel zu wenig wurde in den letzten Jahren in die Entwicklung, Erforschung und den Einsatz von präventiven Maßnahmen und Alternativen zur medikamentösen Zwangsbehandlung investiert. Dabei gibt es vielversprechende Ansätze zur Prävention, z. B. im Deeskalationstraining aller professionellen Helfer, im Einsatz schonender Haltetechniken, aber auch schon im Vorfeld einer stationären Aufnahme in aufsuchenden Hilfen (assertive community treatment), und Alternativen zur stationären Behandlung (home treatment). Patientenverfügungen und Behandlungsvereinbarungen sind möglich, kommen aber nur in wenigen Kliniken zum Einsatz und wurden in Deutschland bisher nicht systematisch wissenschaftlich untersucht (HENDERSON et al. 2008). Besondere Bedeutung kommt der Qualifizierung und Beteiligung von Psychiatrie-Erfahrenen auf allen Ebenen und in allen Bereichen der psychiatrischen Dienste zu: in home treatment Teams, als Patientenberater, in den stationären Teams, beim Design von Psychiatrie-Räumen und beim Planen von psychiatrischen Diensten.

2. Viel zu lange war die drohende Gefahr, zwangsbehandelt zu werden, ein Haupthindernis zur Schaffung von vertrauensvollen Beziehungen zwischen den professionellen Helfern und den ihnen anvertrauten Patienten. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts schaffen Sicherheit - für die Patienten, unter welchen Bedingungen eine Zwangsbehandlung überhaupt infrage kommt, und für die professionellen Helfer, wann eine Zwangsbehandlung zulässig ist. Die Anwendung von Zwang in der Psychiatrie war für viele Patienten eine tief greifende Erfahrung mit dem Ergebnis, dass sie sich vom psychiatrischen Hilfesystem abwendeten und die ihnen zustehenden Hilfen nicht mehr in Anspruch nahmen.

3. Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts stellen psychisch Kranke und körperlich Kranke rechtlich gleich. Eine Behandlung gegen den Willen kommt nur infrage, wenn die Einwilligungsfähigkeit aufgehoben ist, ganz gleich, ob es sich um eine psychische oder körperliche Erkrankung handelt. Die Freiheit der Willensentscheidung nivelliert sich nicht aufgrund einer psychiatrischen Diagnose, sondern ist immer im Einzelfall zu prüfen. Bei krankheitsbedingter Einwilligungsunfähigkeit ist es Aufgabe der behandelnden Ärzte, die Einwilligungsfähigkeit durch eine Behandlung nach Möglichkeit wieder herzustellen. Zur freien Willensentscheidung in einer freiheitlichen Gesellschaft gehört die Möglichkeit, sich entgegen den geltenden Normen zu verhalten. Die daraus folgenden Konsequenzen sind die gleichen für psychisch Kranke, körperlich Kranke und für Gesunde, und zwar so lange diese dazu in der Lage sind, einen freien Willen zu bilden und entsprechend zu handeln.

4. Psychiatrie-Erfahrene berichten seit Jahren, dass mit ihren Rechten in unterschiedlichen Einrichtungen und in verschiedenen Situationen unterschiedlich verfahren wurde. Gleiches war von Ärzten zu hören, die an verschiedenen Einrichtungen arbeiteten und dort mit höchst unterschiedlichen Behandlungskulturen und Haltungen konfrontiert wurden. Die große Varianz in der Häufigkeit von Zwangsmaßnahmen innerhalb Deutschlands bestätigt diese Angaben (STEINERT 2011). Es trifft eben nicht zu, dass ein Patient »fixiert werden musste« oder »zwangsbehandelt werden musste«, wie es so oft in den Morgenbesprechungen in psychiatrischen Kliniken zu hören ist. Eine Fixierung und eine Zwangsbehandlung ist immer eine Entscheidung der verantwortlichen Teammitglieder einer psychiatrischen Station - Ausdruck des freien Willens der Handelnden. Deshalb ist jede Anwendung von Zwang individuell zu begründen und vor den verfassungsrechtlichen Regelungen zu verantworten. Die DGPPN tritt dafür ein, dass alle Zwangsmaßnahmen - Fixierungen, Isolierungen und Zwangsbehandlungen - in den psychiatrischen Kliniken in Deutschland systematisch erfasst und rechtlich überprüft werden.

5. Noch immer liegt es im Ermessen der Klinikleitungen, ob die Mitarbeiter in psychiatrischen Kliniken systematisch in Deeskalation und schonenden Haltetechniken trainiert werden. Qualitätsstandards gibt es zwar für die zum Festbinden erforderlichen Fixiergurte, aber nicht für das Training von Mitarbeitern, um Fixierungen zu vermeiden. Vielversprechende Ansätze zur stufenweisen Deeskalation wurden erst kürzlich beim Kongress der DGPPN vorgestellt und diskutiert (http://www.prodema-online.de/, aufgerufen am 11.02.1012).

Auf den meisten psychiatrischen Aufnahmestationen arbeiten nachts zwei Krankenschwestern oder Krankenpfleger. Für Fixierungen können von anderen Stationen Mitarbeiter zu Hilfe gerufen werden, die nach der Fixierung wieder auf ihre Station zurückkehren. Die mit den Ereignissen der Nacht konfrontierten Mitarbeiter kommen rasch an die Grenzen des Machbaren, wenn mehrmals nachts Patienten mit aggressivem Verhalten ins Krankenhaus gebracht werden. Für eine wirksame und nachhaltige Deeskalation sind fünf Mitarbeiter erforderlich. Daraus ergibt sich, dass in psychiatrischen Kliniken zu jeder Zeit fünf Mitarbeiter zur Verfügung stehen sollten, um wirksam zu deeskalieren und dem Stationsteam auch nach der Deeskalationsmaßnahme zur Seite zu stehen, ohne dass die Patientenversorgung auf den anderen Stationen vernachlässigt wird.


Literatur

Aderhold V (2010) Neuroleptika zwischen Nutzen und Schaden. Minimale Anwendung von Neuroleptika - ein Update. http://www.bgt-ev.de/fileadmin/Mediendatenbank/Themen/Psychopharmakadebatte/Aderhold_Neuroleptika_update.pdf (aufgerufen am 11.02.2012)

Healy D, Harris M, Tranter R et al. (2006) Lifetime suicide rates in the course of treatment of schizophrenia in North Wales: cohorts for 1875-1924 and 1994-1998. In: British Journal of Psychiatry 188: 223-228

Henderson C, Swanson JW, Szmukler G, Thornicroft G, Zinkler M (2008) A typology of advance statements in mental health care. In: Psychiatric Services 59: 63-71

Steinert T (2011) Nach 200 Jahren Psychiatrie: Sind Fixierungen in Deutschland unvermeidlich? In: Psychiatrische Praxis 38: 348-351


Bei allem, was Recht ist!

Recht & Psychiatrie dient der Verständigung zwischen den Berufsgruppen in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Psychiatrie. Als Diskussions- und Informationsforum für Mediziner, Juristen und Politik ist es Anliegen von Recht & Psychiatrie, die Chancen des geltenden Rechts zu nutzen und seine Weiterentwicklung voranzutreiben.

Themen von Recht & Psychiatrie:

Der Serviceteil von Recht & Psychiatrie enthält:

*

Quelle:
R & P - Zeitschrift "Recht & Psychiatrie" 2/2012
Editorial, Seite 62-63
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors
Psychiatrie Verlag GmbH, Ursulaplatz 1, 50668 Köln
Telefon: 0221 167 989-0, Fax: 0221 167 989-20
Redaktionsanschrift: Harnackstr. 47, 44139 Dortmund
E-Mail: rp(at)psychiatrie.de
 
Abonnement Printausgabe: Inland: 54 Euro
Geringverdienende: 38 Euro, Ausland Welt: 64 Euro, zzgl. Porto
Abonnement ePaper: Inland: 50 Euro, Geringverdienende: 38 Euro
Kombi-Abo Print und ePaper: Nur Inland: 89 Euro
Einzelpreis pro Heft (Printausgabe/ePaper): 19,90 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Dezember 2012