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VORTRAG/090: Das "Hamburger Modell" - Linien der Entwicklung der Hamburger Sozialpsychiatrie (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 147 - Heft 1, Januar 2015
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Auf dem Weg zu einer Vision ...
Linien der Entwicklung der Hamburger Sozialpsychiatrie

Von Thomas Bock


Die Hamburger Sozialpsychiatrie feiert 2014 mehrfachen Geburtstag: 25 Jahre Trialog, 20 Jahre Sozialpsychiatrische Ambulanz, 15 Jahre 'Irre menschlich Hamburg', 10 Jahre EX-IN und 40 Jahre Hamburger Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (HGSP)! Aus diesem Anlass trafen sich am 1. November über 400 Teilnehmer zum Symposium »Spuren in die Zukunft - Sozialpsychiatrie!«, um die Erfahrungen und Erfolge der letzten Jahre »in die Zukunft weiterzuspinnen«. Wie dies gelingen kann, zeigt Thomas Bock in seinem Vortrag.


Der Titel erlaubt mir zu spinnen - mit Bezug auf das berühmte Zitat vom vermutlich berühmtesten Hamburger nach Störtebeker, Helmut Schmidt (aus der Zeit, als er noch nicht altersweise war): Wer Visionen hat, solle zum Arzt gehen. Der Untertitel (»Linien der Entwicklung«) erlaubt mir, die Linien nachzuzeichnen und damit auch die Jubiläen, aber auch sie anspruchsvoll hochzurechnen, vom kleinen Ansatz zu einer neuen Psychiatrie. Ich will die Gelegenheit nutzen, mich zugleich bei den vielen zu bedanken, die dabei mitwirken, nur einige kann ich hier nennen.


Etappen und Stationen

Die (Hamburger) sozialpsychiatrischen Jubiläen/Projekte stehen für wichtige Etappen, für neue Aspekte der Psychiatrie und weisen in die Zukunft. Gemeinsam entwickeln sie Kraft und bilden das »Hamburger Modell«.


25 Jahre Trialog - Begegnung als Experten nicht nur in Seminaren

Vor 25 Jahren startete in Hamburg gemeinsam mit Dorothea Buck das erste Psychoseseminar als neue Form der Begegnung als Experten auf Augenhöhe, als Ort für Subjektivität und Vielfalt, des Ringens um eine gemeinsame Sprache und den Abbau wechselseitiger Vorurteile (siehe unten), für Eigensinn und gegen einseitige Machtverteilung. Eine ständige Herausforderung an die Psychiatrie, ein Stachel im Fleisch, als unbeirrbare Ermutigung für Erfahrene und Angehörige, als Keimzelle für viele Projekte. Nach wie vor für mich ein einschneidendes Erlebnis, eine große Bereicherung, eine Erweiterung der Sichtweise. Mit unmittelbarer Wirkung auf die Anwesenden - durch die Vielfalt, auch durch die Fremdheit (man ist nicht unbedingt verantwortlich und verwickelt), vor allem aber durch den Respekt mit der Chance auf vollständigere Wahrnehmung und Einsicht in die Vielfalt der notwendigen Hilfen.

Auch mit vielen trialogischen Konsequenzen auf allen Ebenen: Trialog-Foren für andere Diagnosen, trialogischen Fortbildungen und Tagungen (Höhepunkt der Weltkongress für soziale Psychiatrie »Abschied von Babylon« 1994 in Hamburg - vor 20 Jahren), Büchern und Zeitschriften, Beschwerdezentren und Beiräten, bis hin zu Fachgesellschaften (Stimmenhörer-Netzwerk, Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen, DGBS) und - mit noch bescheidener Wirkung - dem Bereich Forschung (siehe unten).

Das eigentlich in Altenburg geplante Jubiläumsfest findet im nächsten Jahr statt. Dorothea Buck, mit der zusammen ich vor fünfundzwanzig Jahren das erste Seminar startete, war die wichtigste Lehrerin meiner eigenen Psychiatriegeschichte. Sie ist zu Hause im Bette, aber im Geiste hier.

Stephan Priebe unterstützte die erste internationale Veröffentlichung, begleitete auch weitere Neuigkeiten (SuSi-/Peer-Projekt) mit wissenschaftlichem Rat und ist aktuell vor allem ein Mahner an die Wissenschaft, auch politisch zu sein.


20 Jahre UKE-Psychosenambulanz - gelebter Trialog und Ringen um Vielfalt

Die Ambulanz für Psychosen und bipolare Störungen am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) versucht, den Trialog aufzunehmen und der Vielfältigkeit der Psychosen durch ein sehr differenziertes Angebot gerecht zu werden. Es gibt niedrigschwellige und aufsuchende Angebote, Stimmenhörer- und Bipolar-Gruppen, neuerdings sogar eine Gruppe, die die Partner integriert. Es gibt kreative, Tanz- und alltagsorientierte Gruppen. Und eine Krisentagesklinik für junge Menschen ist in die Ambulanz integriert - ein sehr empfehlenswertes Modell. Ich bedanke mich bei einem tollen Team, das nebenbei viele Projekte mitträgt, das auch der Integrierten Versorgung den Weg bereitet hat und nun an sich selbst nachweisen kann, wie nötig die damit verbundene andere Finanzierung und anderen Belohnungsmechanismen sind, um nicht durch ökonomische Zwänge erstickt zu werden. Und ich bedanke mich bei Martin Lambert, der unermüdlich die Integrierte Versorgung vorantreibt. Und mit dem ich die Hoffnung teile, dass es doch noch gelingt, dieses PEPP-System(*) zu verhindern und zu ersetzen durch eines, das die notwendige Ambulantisierung fördert und nicht behindert.


15 Jahre UKE-Vorlesungsreihe - anthropologische Sicht: alte Wurzeln und neue Chancen

Wird die Menschheit kränker oder die Krankheit menschlicher? Breitet sich die Psychiatrie aus und kolonialisiert jeden besonderen Gefühls- und Geisteszustand? Oder gelingt es umgekehrt, in ernsthaften psychischen Störungen neben der Pathologie auch (wieder) das zutiefst Menschliche zu sehen, neben dem Trennenden das Verbindende, neben der Störung die Bedeutung, neben der Dysfunktionalität den Sinn? Und in der jeweils aktuellen Fixierung auf bestimmte »Ursachen« nur eine Episode?

Das Psychoseseminar hat diese neue Sichtweise gebahnt; die 'Blaue Broschüre' »Es ist normal, verschieden zu sein« schuf eine erste sprachliche Basis.

Die Vorlesungsreihe »Anthropologische Psychiatrie« war der nächste Schritt. Bewusst trialogisch und als Brücke zwischen sozialer und biologischer Psychiatrie. 15 Jahre, jedes Semester, mit (fast) immer neuen Referentinnen und Referenten, weit über das Thema Psychosen hinaus - ein Dauerlauf mit klarer Botschaft, u.a. die, dass eine andere Sichtweise psychischer Erkrankung notwendig und möglich ist, um die Angst außen und innen, in der Umgebung, der Familie und in der eigenen Seele zu reduzieren. Und dass Daseinsanalyse und Phänomenologie (z.B. Binswanger und Jaspers früher, Thomas Fuchs heute) jetzt in der Psychiatrie mit dem Trialog und mit dem Erstarken der Betroffenen- und Angehörigenbewegung eine andere Machtbasis haben. Ich bin glücklich, diese Vorlesungsreihe gemeinsam mit Klaus Dörner zu verantworten, dessen Buch »Irren ist menschlich«, zusammen mit Ursula Plog, vieles schon vorgedacht hat.


15 Jahre 'Irre menschlich Hamburg' - von Antistigma zu Prävention und Politik

Der Verein 'Irre menschlich Hamburg' ist genau wie 'Irrsinnig menschlich Leipzig' unter anderem erwachsen aus dem Psychoseseminar, weil klar wurde, dass es nicht reicht, (zwischen Erfahrenen, Angehörigen und Profis) wechselseitige Bedenken zu überprüfen, sondern dass es nötig ist, gemeinsam gegen öffentliche Vorurteile vorzugehen, inklusive derer, die sich in der Psychiatrie anhäufen: mit inzwischen tausenden von Begegnungsprojekten in Schulen und Betrieben sowie regelmäßigen trialogischen Fortbildungsangeboten für Lehrer, Jugendhilfe, Gesundheitsberufe, Polizisten, Pastoren, seltener auch Wohnungsunternehmen, Arbeitslosenprojekte und Bewährungshilfe. Inzwischen als eine Bürgerinitiative auf dem Weg von Antistigma zur Prävention und damit auch in den politischen Kontext. 'Irre menschlich Hamburg' gewinnt einen Hamburger (Senator-Neumann-Preis 2009), einen deutschen (DGPPN 2009) und einen europäischen Best-Practice-Preis (2013). Die 'Blaue Broschüre' »Es ist normal, verschieden zu sein« verbreitet sich rasant - gedruckt und im Netz. Beglückwünschen möchte ich die mindestens 40 Referentinnen und Referenten, die uns ermöglichen, inzwischen wirklich alle Themen zu bedienen, und mich bedanken vor allem bei Robert Dorner, der unermüdlich organisiert.

Gemeinsam sind wir froh, uns hier inzwischen auf die Analysen von Georg Schomerus und Matthias Angermeyer beziehen zu können, dass medizinischer Reduktionismus in die Irre führt, die soziale Distanz der Bevölkerung vergrößert. Wir leben, was hier wissenschaftlich erwiesen wirkt: die Begegnung und den fließenden Übergang von gesund und krank. Im Rahmen des großen Forschungsprogramms 'Psychenet'(**) hatten wir die Chance, eine ganze Kampagne mitzugestalten - mit Plakaten, mit den Augen und den Sätzen von Erfahrenen und Angehörigen, die die Idee der Begegnung zu übertragen versuchten, und mit Filmspots, die vor allem von dem Mut von 'Irre menschlich' der vier 'Irre menschlich'-Akteure lebten. Es würde mich nicht verwundern, wenn am Ende herauskommt, dass die Wirkung der Kampagne von der Intensität der Begegnung abhängt.


Fast 10 Jahre EX-IN - die Experten kehren zurück, mit dreifacher Wirkung

EXperienced INvolvement ist die Ausbildungsbasis für Erfahrene und Angehörige als Peerberater und Genesungsbegleiter. Das UKE war gemeinsam mit F.O.K.U.S. Bremen (Jörg Utschakowski) von Anfang an beteiligt, erst bei dem Bemühen um ein passendes Curriculum und dessen regelmäßige Verankerung und später beim Aufbau von Strukturen zur Umsetzung der neuen Gesundheitsdienstleistung 'Genesungsbegleitung'. Auch hier bot 'Psychenet' eine große Chance, nämlich das neue Angebot doppelter Peer-Beratung (von Erfahrenen für Erfahrene und von Angehörigen für Angehörige) flächendeckend an allen Hamburger Kliniken zu etablieren und zu beforschen. Die Zielgruppe der eher Benachteiligten wird erreicht. Deren Rückmeldung ist supergut und ermutigend. Die harten Daten (im randomisierten Design!) werden aktuell mit Hochdruck ausgewertet; es geht um soziale Kompetenz, Selbsthilfeförderung, Vermeidung von Krankenhaustagen u.a.m.

Auf dieser Basis ringen wir mit den Kassen um eine Regelfinanzierung. Schon jetzt hat sich die Landschaft verändert, ist die neue Intervention und die neue Berufsgruppe nicht mehr wegzudenken. Die Botschaft ist elementar: Es hat Gründe, dass du bist, wie du bist! Es ist nicht sinnlos, was du erlebst! Hilfe geschieht immer auch innen.

Und es ist klar, dass die Wirkung eine dreifache ist - gegenüber den Nutzern (Recovery und Stigmaresistenz), gegenüber den Peer-Beratern selbst (Empowerment, Inklusion) und gegenüber den Institutionen (Entstigmatisierung, Respekt bezüglich Selbsthilfe und Trialog). An diesem Prozess wirken viele mit auf vielen Ebenen: die Kliniken, die Landesverbände, vor allem aber die 24 Genesungsbegleiter, ein unschlagbares Forschungsteam (um Candelaria Mahlke, die zurzeit die Kontinuität sichert) und allen voran Gyöngyvér Sielaff, die Projektleiterin von EX-IN (Hamburg). Ich bin meiner Klinik dankbar, dass EX-IN nun Angebot der UKE-Bildungsakademie ist und damit zum ersten Mal in Deutschland einen universitären Stempel bekommt, und freue mich gemeinsam mit Gyöngyvér Sielaff über diesen Erfolg.


Fast 10 Jahre partizipative Forschung - SuSi ist erst der Anfang

Lassen Sie mich eine Entwicklungslinie hinzufügen, die noch dünn und nicht sehr gerade ist: Lange Zeit haben Trialog und Wissenschaft gefremdelt. Psychoseseminare sind sperrig; denn wer sich gerade als Subjekt wertgeschätzt fühlt, will nicht im nächsten Moment zum Objekt von Forschung werden. Das SuSi-Projekt zum subjektiven Sinn von Psychosen hat eine Brücke geschlagen: Hier waren zumindest am Anfang alle Gruppen des Trialogs (mit Fokusgruppen, Expertenbefragung und Probephasen) gemeinsam aktiv, um mit dem SuSi-Fragebogen ein Instrument zu schaffen, das die drei Zeitebenen, also den Blick auf die Gewordenheit, das gegenwärtige Erleben und die Zukunftserwartung, subjektiv zusammenfasst. Inzwischen ein anerkanntes und valides Instrument, das wir nun auch auf andere Diagnosen und auf Angehörige übertragen. Mit hoher praktischer Relevanz: Wir wissen, dass das, was wir aus der Antistigmaforschung bezüglich der sozialen Distanz der Umwelt kennen, auch für die innere Distanz zur Innenwelt gilt. Medizinischer Reduktionismus (»... ist doch nur der Stoffwechsel«) ängstigt und entfremdet auch die Betroffenen im Umgang mit sich selbst. Es gibt ein großes Sinnbedürfnis auch bei Psychosen - im Sinne des Wunsches, sich, das eigene Leben und die Psychose zusammenzubringen, auch die Einzigartigkeit der Erkrankung respektiert zu wissen. Und wir wissen jetzt empirisch, dass Menschen, die an dieser Stelle Unterstützung bekommen (egal ob durch Freunde, Angehörige, Genesungsbegleiter oder Psychotherapeuten), die sich also als geworden und damit auch ansatzweise (wieder) als kohärent begreifen, positiver auf ihre Gegenwart und zuversichtlicher in die Zukunft schauen. Ein Beleg für die Sinnhaftigkeit biografisch orientierter Psychotherapie (egal welcher Schule) und (mit eigenen Daten) auch für Psychoseseminare, nicht unwesentlich für Genesung (siehe das Buch »Sinnsuche und Genesung«(***)). Und ein Auftrag, eine andere Haltung im Umgang mit Psychosen, aber auch Depressionen und Manien zu entwickeln. Das SuSi-Projekt lief bisher weitgehend ohne große finanzielle Ressourcen (von einer kleinen Förderung durch die Unna-Hautarzt-Stiftung abgesehen, die Psychosen auch als besondere Form der »Dünnhäutigkeit« akzeptiert). Dafür gab es große Hilfe durch Kollegen/Institutionen, die sich regelmäßig bei den Tagungen zur »subjektiven Seite der Schizophrenie« (im Februar 2015 wieder in Berlin) treffen, durch engagierte Studierende, und hier vor allem durch Kristin Klapheck und Friederike Ruppelt. Zusammenfassung und Höhepunkt war das gemeinsame Buch »Sinnsuche und Genesung«.


Visionen

Die andere (anthropologische) Sichtweise, die Form der Begegnung (auf Augenhöhe), die auf Kontinuität ausgerichtete Arbeit der Ambulanz (mit der Notwendigkeit integrierter Versorgung), die neue Kooperation (mit Genesungsbegleitern), die neuen Erfahrungen aus Psychoseseminar und SuSi-Projekt, das neue Erkenntnisinteresse in diesem Zusammenhang hängen zusammen und beeinflussen sich gegenseitig. Die daraus erwachsenden Visionen sind gesponnen (wenn man vom realen Zustand der Psychiatrie ausgeht) und zugleich sehr realitätsbezogen (wenn man die subjektiven Bedürfnisse, die internationalen Erfahrungen und unsere eigenen zarten Ansätze als Bezugsgröße nimmt). Versuchen Sie also mit mir, die kleinen Pflänzchen als den Anfang eines Waldes zu sehen.


Erste Vision: Neue Haltungen, Beziehungen und Strukturen reduzieren Angst und Zwang

• Hilfen finden so und dort statt, wo die Angst am kleinsten ist. Das Milieu ist so zu gestalten, dass es entweder vertraut (zu Hause) oder schützend, bergend und natürlich reizreduzierend (Soteria) ist: Hometreatment als ambulante Soteria, Soteria als stationäres Hometreatment.

• Die Menschen der Umgebung sind einbezogen, werden in ihren Fragen ernst genommen, in ihren Stärken unterstützt, zugleich entlastet und hinsichtlich ihrer eigenen Interessen ermutigt.

• Genesungsbegleiter helfen bei der Klärung, welche Art Hilfe angemessen ist, begleiten auf dem Weg nach Hause, unterstützen das Selbstvertrauen, die Stigmaresistenz und die Chancen der Selbsthilfe, überbrücken die Wartezeit, helfen zu motivieren.

• Die therapeutischen Beziehungen sind durch Kontinuität (Integrierte Versorgung) vertraut, werden behutsam und flexibel gestaltet, sodass das Ringen um Autonomie und das Wachsen am Gegenüber nicht zum Gegensatz wird. Neue, kreative Kooperationsformen zwischen Sozialpsychiatrie und Psychotherapie haben die Trag- und Konfliktfähigkeit beider Institutionen vergrößert, zugleich die Subjektorientierung der einen Seite verbessert und die selektiven Tendenzen der anderen reduziert.

• Die Sprache ist (vom Psychoseseminar geprägt) verständlich, die Diagnostik zielt auf die individuelle Besonderheit und die persönlichen Ressourcen, und die Therapie wird als Supervision von Selbsthilfe nicht von Standards geleitet, sondern vom Ringen um Dialog.

• Die psychiatrischen Institutionen sind von falschen Belohnungsmechanismen (belegtes Bett, Addition von Scheinen) weitgehend befreit, dieselben Mittel in sinnvollen Pauschalen (möglichst kostenträgerübergreifend) auf flexible, bedürfnisorientierte Hilfen ausgerichtet dadurch nun weit effektiver und nachhaltiger.

• Maßnahmen gegen den Willen sind (durch Integrierte Versorgung und Peer-Begleitung) deutlich reduziert; Institutionen ohne diese Qualitäten haben keine PsychKG-Zulassung mehr. Dem Ringen um Dialog wird mehr Raum gegeben. Wenn irgend möglich sind vertraute Therapeuten/Personen unmittelbar beteiligt. Anwesenheit und Nachbereitung sind bei Fixierungen Pflicht.


Zweite Vision: Eine andere Sichtweise auf seelische Not verändert die Politik und ermöglicht mehr Prävention

• Bürgerinitiativen zum Schutz der Innenwelt (wie 'Irre menschlich Hamburg', 'Irrsinnig menschlich Leipzig' u.a.) sind nicht mehr Ausnahme, sondern Regel. Begegnungsprojekte in Schulen sind fest integriert und verknüpfen altersgemäß die vertrauensbildenden und ermutigenden Berichte der Referenten sowie die Themen und Anliegen der Jugendlichen. Projekte in Betrieben (mit Depressions- und Mobbing-Erfahrenen) helfen zum Beispiel das Thema Burnout präventiv zu verarbeiten. Begegnungsprojekte in den Stadtteilen und gezielte trialogische Fortbildungen für verschiedene Ziel- und Berufsgruppen reduzieren die jeweiligen Berührungsängste, erhöhen die Kompetenzen und wirken zugleich präventiv und inklusiv.

• Das Bild von psychischer Erkrankung verändert sich langsam - in der Bevölkerung und in der Psychiatrie. Die Annahme einer Kontinuität zwischen gesund und krank hat den medizinischen Reduktionismus abgelöst: So werden zum Beispiel Psychosen als Lebenskrisen besonders dünnhäutiger Menschen verstanden und Depressionen als Ausdruck einer Eigendynamik von Mechanismen, die eigentlich der Bewältigung von tiefen Gefühlen und Konflikten dienen. Bei Manien wird stärker als bisher bedacht, dass die Überwindung der (depressiven) Überanpassung notwendig ist und reine Reglementierung zu kurz greift. Bei Borderlinern wird deren (An-)Spannung zwischen Nähe und Distanz, Autonomie und Bindung als besondere Ausprägung zutiefst menschlicher Ambivalenz gesehen. Und auch bei Psychosen rückt neben dem Fremden das Gemeinsame in den Vordergrund: die Parallelen zum Traum (nur ohne Schutz des Schlafes) und zu frühen Wahrnehmungsformen, die wir alle abgespeichert haben. Diese anthropologische Sichtweise hilft, Angst zu reduzieren - bei allen Beteiligten. Traumatische Erfahrungen sind damit nicht ausgeschlossen, werden aber frühzeitiger wahrgenommen und aufgefangen.

• In der Psychiatrie haben Erfahrene als Kollegen nachhaltig dazu beigetragen, tief sitzende Ängste und Vorurteile zu überwinden. Das Bild psychischer Erkrankung hat sich nachhaltig verändert - von abstrakten Entitäten (à la ICD oder DSM) hin zu sehr persönlichen Entwicklungen mit subjektiver Bedeutung und systemischem Kontext. Davon profitieren auch die Studierenden - nicht zuletzt durch die trialogische Konzeption der Lehre.

• Trialogische Qualitätszirkel haben ein Umdenken der Kostenträger eingeleitet: Hilfen sind zugleich auf Sozialräume bezogen, auf Inklusion und individuelle Entwicklung ausgerichtet. Auch in der Wiedereingliederung (SGB XII) hilft doppelte Peer-Beratung (von Erfahrenen für Erfahrene, von Angehörigen für Angehörige) besonderen Bedürfnissen und Problemlagen gerecht zu werden.

• Die Verteilung der Ressourcen ist neu ausgerichtet: Niedrigschwellige und präventive Hilfen haben einen hohen Stellenwert. Inklusion wird zum übergeordneten Ziel, das nicht nur den Einzelnen, sondern die Gemeinschaft durch Vielfalt bereichert. In der beruflichen sozialen Wiedereingliederung hat Zuverdienstarbeit eine hohe Priorität und Anerkennung.

• Die Politik hat begriffen, dass die Annäherung von Einkommen und Arbeitszeit sowie die Vorbeugung von Gewalt in hohem Maße präventiv sind.


Dritte Vision: Partizipative Elemente verändern Schwerpunkte und Ressourcenverteilung in der Forschung

• Das SuSi-Projekt hat dazu beigetragen, subjektiven Sinn, individuelle und familiäre Bedeutung der verschiedenen Erkrankungen als Forschungsgegenstand anzuerkennen. Das hat nicht nur den Stellenwert der Psychotherapie bei schweren psychischen Störungen nachhaltig verbessert, sondern auch die Ausrichtung der Forschung insgesamt erweitert.

• Trialogische Fokusgruppen zur Entwicklung neuer Fragestellungen und zur Überprüfung der Relevanz und Validität bestimmter Methoden sind zur Regel geworden.

• Module zur Vermittlung von Forschungskompetenz (wie lese ich Ergebnisse kritisch, was ist bei der Durchführung von eigenen Projekten zu beachten, welche Arten von Partizipation sind denkbar - mit welchen Voraussetzungen?) werden fester Bestandteil der EX-IN-Ausbildung. Neben der Qualifizierung als 'Genesungsbegleiter' (Peer-Beratung) und 'Lebenslehrer' (Antistigma, Prävention) ist nun auch eine Spezialisierung als 'Forschungsassistent' möglich.

• Kritische Stiftungen haben entdeckt, dass die Psychiatrie seit langem zu einseitig ausgerichtet ist und dass die Förderung von Partizipation ein (kleiner) Hebel sein kann, hier Korrekturen anzustoßen - hinsichtlich des Forschungsgegenstandes, -verständnisses und der -methodik. Mehrere Orte folgen dem Londoner und dann dem Hamburger Vorbild und schaffen finanzielle Pools und beratende Strukturen, um eigene kleine Forschungsprojekte zu fördern.

• Diese lebensnahen Projekte bringen eine neue Authentizität in die Forschung und fördern die Vielfalt der (auch qualitativen) Methodik. Die Frage nach dem Nutzen von Forschung bekommt neuen Aufwind. Nach britischem Vorbild entstehen partizipative Entscheidungsgremien zur Vergabe von Forschungsmitteln. Sie tragen mit dazu bei, die Verteilung zwischen Grundlagen- und Versorgungsforschung im Bereich psychischer Erkrankung/Gesundheit neu auszutarieren.

Die Visionen sind nicht unabhängig. Die Veränderungen in der Versorgung rufen nach passender Evaluation; das veränderte Erkenntnisinteresse bahnt neue Angebote. Und das gestiegene öffentliche Interesse unterstützt die Prozesse, auch weil nun die Belange einzelner Firmen nicht mehr so viel Macht haben.

Selbstverständlich kann man auch eine andere schreckliche Vision künftiger Psychiatrie entwickeln - mit hochgerüsteten Bettenburgen, expandierenden engen Krankheitskonzepten, autoritären Strukturen und invasiven Methoden. Doch am Geburtstag darf man - sich und anderen - Glück wünschen. Und positive Visionen kann man politisch infrage stellen, doch sie erlauben, in die Ferne zu sehen, eine Richtung zu ahnen. Damit niemand sagen kann, das was ist, sei alternativlos.


Prof. Dr. phil. Thomas Bock, Diplom-Psychologe, leitet die Spezialambulanz für Psychosen und bipolare Störungen sowie die Krisentagesklinik des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf.
E-Mail: bock@uke.de

Weiterführende Literatur beim Verfasser.

* PEPP = pauschalierendes Entgeltsystem in Psychiatrie und Psychosomatik.

** Psychenet = Netzwerk für psychische Gesundheit in der Region Hamburg zur Erarbeitung von »wegweisenden Versorgungsmodellen ... für Menschen mit psychischen Erkrankungen«: www.psychenet.de

*** Bock, T.; Klapheck, K.; Ruppelt, F.: Sinnsuche und Genesung. Erfahrungen und Forschungen zum subjektiven Sinn von Psychosen. Köln: Psychiatrie-Verlag, 2014.

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 147 - Heft 1, Januar 2015, Seite 17 - 20
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. April 2015

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