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VORTRAG/092: Soziale Arbeit - Mehr Mensch ... Gegen die Ökonomisierung des Sozialen (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 148 - Heft 2/15, April 2015
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Mehr Mensch!
Gegen die Ökonomisierung des Sozialen

Von Ulrich Schneider


Der Direktor eines Großunternehmens erhielt eines Tages eine Gratiseintrittskarte für ein Konzert von Schuberts 'Unvollendeter'. Er konnte das Konzert selber leider nicht besuchen und schenkte deshalb die Karte seinem Prokuristen. Nach zwei Tagen erhielt der Unternehmer von diesem ein Memo mit folgendem Kommentar:

»Sehr geehrter Herr Direktor,
noch einmal darf ich mich ganz herzlich für die Überlassung Ihrer Eintrittskarte bedanken. Gleichwohl möchte ich festhalten:

1. Während längerer Zeit waren vier Flötisten nicht beschäftigt. Die Zahl der Bläser sollte deshalb reduziert werden. Die Arbeit könnte stattdessen auf die übrigen Musiker verteilt werden, um eine gleichmäßigere Auslastung zu gewährleisten.

2. Alle zwölf Geiger spielten, ich konnte es von meinem Platz aus genau beobachten, identische Noten. Dies stellt eine ineffiziente Doppelspurigkeit dar. Die Zahl der Geigenspieler sollte deshalb ebenfalls drastisch gekürzt werden. Für intensivere Passagen könnte gegebenenfalls ein elektronischer Verstärker eingesetzt werden.

3. Es wurde zu viel Mühe zum Spielen von Halbtonschritten verwendet. Empfehlung: nur noch Ganztonschritte spielen! Dadurch könnten auch billigere Anlernkräfte und sogar Auszubildende eingesetzt werden.

4. Es macht überhaupt keinen Sinn, mit Hörnern die gleichen Passagen zu wiederholen, die kurz zuvor bereits mit Trompeten gespielt wurden.

Wenn in diesem Sinne alle überflüssigen Passagen entfernt würden, könnte das Konzert von zwei Stunden auf zwanzig Minuten gekürzt werden. Hätte Herr Schubert solche Empfehlungen frühzeitig bekommen und sie beherzigt, hätte er seine Sinfonie wahrscheinlich auch vollenden können.«

Szenenwechsel: Stellen wir uns nun einmal vor, wir hätten es mit einem hilfebedürftigen Menschen zu tun. Er ist pflegebedürftig, und wir wollen ihm helfen, ihn pflegen. Und nun kommt jemand auf die Idee, uns zu erklären, dass wir dies am besten so tun, dass wir diese Pflege (und damit im Grunde den Menschen selbst) erst einmal aufteilen in »kleine Wäsche«, »große Wäsche«, »Nahrungsaufnahme«, »Absonderung und Ausscheidung«, »Lagern und Betten« und so weiter. Schließlich wird uns noch vorgerechnet, wie viel Minuten wir pro Arbeitsgang verwenden sollten. So zerlegt und berechnet, könnten wir, so erklärt man uns, ganz prima, nämlich auf die notwendigsten Verrichtungen beschränkt und damit wirtschaftlich sehr effizient, aber zugleich qualitativ hochwertig, pflegen.

Weit weg ist diese Vorstellung von der Orchesterposse nicht. Die Diskussionen haben durchaus Parallelen. Der Hauptunterschied ist der, dass wir sie in der Wohlfahrtspflege ganz real und mit einer Ernsthaftigkeit führen (müssen), mittlerweile auch mit einer Selbstverständlichkeit, die uns allzu häufig gar nicht mehr darüber nachdenken lässt, was uns hier zugemutet wird, wo wir überall über unseren eigenen fachlichen und ethischen Schatten springen und gegen Überzeugungen handeln sollen.

Vieles, was der Wohlfahrtspflege zugemutet wird, würde man einem Orchester nie antun. Eher würde man es schließen. Doch ist ein Pflegeheim nun mal kein Konzertsaal. Und nicht nur das Pflegeheim, auch die Beratungsstelle, der Kindergarten, die Behinderteneinrichtung oder die Beschäftigungsinitiative sind alles andere als Orchestergräben. Vergütung nach Minuten oder nach messbaren »Stückzahlen«, öffentliche Ausschreibung von sozialen Dienstleistungen, die sich erst einmal in kaum etwas unterscheiden von der Ausschreibung von Bauleistungen. Knallharte Kalkulationen, ein »Herunterbrechen« von Leistungsbeschreibungen sozialer und pädagogischer Tätigkeiten, sodass sie auch dem größten pädagogischen Banausen betriebswirtschaftlich gefällig werden. Für viele ist das mittlerweile wie selbstverständlich erlebter, nicht mehr ernsthaft hinterfragter Alltag in der sozialen Arbeit. Dass da etwas überhaupt nicht zueinander passen will, löst keinerlei Empörung mehr aus, bestenfalls noch ein gewisses Unwohlsein, ein diffuses Unbehagen. Stattdessen wird das Sichfreimachen von »pädagogischen Allüren« und das Sicheinlassen auf scheinbar objektive Effizienzkriterien eines modernen Marktes als Inbegriff einer ebenso modernen Professionalität begriffen; als unbefriedigende, aber nun einmal notwendige und hochrespektable Gratwanderung zwischen den Welten. Das Denken tatsächlicher, kompromissloser Alternativen liegt mittlerweile außerhalb jeglicher Vorstellungskraft, will man meinen.

Meine These ist, dass diese Taylorisierung der Arbeit mit Menschen eine Konsequenz der ökonomistischen Bestrebungen in der sozialen Arbeit(*) seit Anfang der 1990er-Jahre ist. Es ist der fast zwangsläufig zu nennende Ausfluss einer immer radikaleren Ökonomisierung, der wir uns ausgesetzt sehen.

Es geht nicht um die gute, wichtige und notwendige betriebswirtschaftliche Unterlegung sozialer Arbeit. Ich meine vielmehr jenen Prozess, in dessen Verlauf ökonomische Standards alternative Handlungslogiken immer weiter verdrängen und schließlich zum mehr oder weniger einzigen Maßstab sozialer Arbeit selbst werden, ihrer Menschenbilder, ihrer Methoden und ihrer Qualität. Es geht um nichts Geringeres als die Theorie sozialer Arbeit selbst, die hierbei »auf der Strecke zu bleiben« droht, mindestens jedoch ökonomistisch mutiert.


»Marktgängig machen heißt vergeldlichen«

Der Schlüssel zur Erklärung liegt, wie so oft, im Geld.

Um eine soziale Dienstleistung marktgängig zu bekommen, muss man sie, so wie unsere Märkte funktionieren, vergeldlichen. Ihr Wert muss in Geld ausgedrückt werden. Und wenn dies nicht so recht gehen sollte, weil der Charakter einer Leistung - etwa die Zuwendung zu einem Menschen - sich dem entzieht oder sogar widerspricht, muss diese halt so umdefiniert werden, dass es geht. Denn es ist eine Grundvoraussetzung für ihre Marktgängigkeit. Wer sich auf das Spiel von Angebot, Nachfrage und Preise einlassen will - und sei es auch nur in Teilen oder mit Brechungen, wie es in der Wohlfahrtspflege häufig der Fall ist -, muss zuallererst sein Angebot in Geld übersetzen.

Der Markt lebt vom Vergleich. Selbst an sich völlig Unvergleichbares wird mittels Geld vergleichbar gemacht. Geld ist der notwendige Schmierstoff für unseren universellen Markt. Die Vergeldlichung von allem und jedem ist seine Voraussetzung. Geld heißt Zählbares. Geld ist immer Quantität. Will ich meine Leistung auf den Markt bringen, muss ich sie daher so charakterisieren, dass sie zählbar wird, dass sie messbar wird. Ich muss sie quantifizieren. Ich muss im Zweifelsfalle sogar Beziehung und Moral in Arithmetik überführen - oder aber schlicht ausblenden, selbst wenn ich damit dem Charakter meiner Leistung überhaupt nicht mehr gerecht werden sollte. Das ist der »Eintrittspreis«, den unser Markt verlangt. Die Quantifizierung von Qualität ist Voraussetzung und Konsequenz der Ökonomisierung sozialer Arbeit zugleich. Es ist eigentlich die Quadratur des Kreises. Um zumindest so zu tun, als gelänge sie, braucht es eine ganz gehörige Verallgemeinerung, Abstraktion, das konsequente Ausblenden des Besonderen und der Konzentration auf das Vergleichbare.


»Vergleichen, quantifizieren, messbar machen ...«

Um seine Leistung auf dem Markt anbieten zu können, muss die Beschreibung der Leistung zudem völlig unabhängig von spezifischen Kontexten erfolgen. Um beim Beispiel der Pflege zu bleiben: Um den Vorgang der »Hilfe bei der Nahrungsaufnahme« eines pflegebedürftigen Menschen marktgängig zu machen und mit einem Preis versehen zu können, muss ich ihn sehr konsequent aus seinem tatsächlichen und konkreten Zusammenhang reißen und ihn in seiner Beschreibung auf das Einfachste reduzieren. Dass bei diesem Vorgang der »Hilfe bei Nahrungsaufnahme« zwei Menschen eine Beziehung eingehen, die für den hungrigen pflegebedürftigen Menschen vielleicht allemal wichtiger ist als diese eine Mahlzeit selbst, wird ebenso ausgeblendet wie vielleicht die Tatsache, dass die Annahme dieser Hilfe mit sehr unterschiedlichen Gefühlen und Reflexionen verbunden sein kann oder aber dass der Besuch der Pflegerin oder des Pflegers vielleicht der einzige über viele Stunden ist. Freude, Scham, Angst, Stolz, Eitelkeiten, Verbundenheit, Zuwendung, Verlässlichkeit, Mitmenschlichkeit ... alles, was diesen Vorgang der Hilfe beim Essen sozialarbeiterisch und pflegerisch wirklich ausmacht, alles, was ihn zu etwas Besonderem macht, muss ebenso ausgeblendet werden wie die Tatsache, dass der Mensch, dem da geholfen wird, eine ganz individuelle Biografie hat, eine ganz individuelle Geschichte, genau wie auch die »Pflegekraft« selbst ein ganz besonderer Mensch ist. All das ist geflissentlich auszublenden, soll die Leistung »Hilfe bei der Nahrungsaufnahme« messbar, in Geld berechenbar und marktgängig werden. Nach zwanzig oder dreißig Minuten hat der Vorgang beendet zu sein, ganz egal, was sich alles bei dieser »Hilfe zur Nahrungsaufnahme« abspielte, ganz egal, was nun fachlich wirklich angezeigt wäre, ganz egal, wie es den Menschen geht. Es ist die kontextlose, verallgemeinerte, abstrahierte und abrechnungstechnisch entmenschlichte »Hilfe zur Nahrungsaufnahme«.

Wieweit dies ethisch und fachlich noch zu legitimieren und zu verantworten ist, ist eine Frage, die sich dabei nicht stellen darf, wollen wir an Marktmechanismen orientiert bleiben. Vergleichen, quantifizieren, messbar machen, in Entgelten ausdrücken, das ist die Kette, die die Sichtweise vorgibt.


»Systematische Banalisierung sozialer Arbeit«

Wir sind damit beim eigentlichen Kernproblem der Ökonomisierung sozialer Arbeit: die Überführung von Qualität in Arithmetik, die Vereinfachung des Komplexen, die Banalisierung des Besonderen oder genauer: die marktwirtschaftlich notwendige und daher systematische Banalisierung sozialer Arbeit. Dieses Kernproblem der Ökonomisierung führt zwangsläufig zu der sehr gewichtigen, wenn nicht entscheidenden Frage: Ist das, womit wir es in der sozialen Arbeit, in Pflege und Erziehung zu tun haben, ökonomistischen Prinzipien überhaupt zugänglich, ohne Pfusch zu betreiben? Jede pädagogische oder pflegerische Beziehung - und dies weiß jeder, der auf diesem Feld tätig ist, nur allzu gut - ist einzigartig. Weil jeder Mensch mit seiner ganzen Geschichte einzigartig ist. Häufig können wir am Anfang einer (pädagogischen) Beziehung gar nicht genau sagen, »wohin die Reise gehen« wird. Soziale Arbeit beginnt bereits mit der Beschreibung des Problems durch den Klienten. Das Bestimmen der Ziele und die Beschreibung des Weges dorthin sind häufig genug offene Prozesse. Geht es los, kann unterwegs viel Unvorhersehbares passieren. Die Überführung dieser Beziehung mit offenem Ausgang in ökonomistische Strukturen, die auf klare Leistungsbeschreibungen, Zielformulierungen und der Feststellung der Zielerreichung ausgerichtet sind, bedeutet für die Profis häufig genug, einen Gutteil ihrer Fachlichkeit mehr oder weniger hintanzustellen. Man stelle sich ein sichtlich gestresstes Elternpaar vor, das mit seinem Zögling in eine pädagogische Beratungsstelle kommt und klagt, der Sohn sei nur noch verstockt, in der Schule gebe es einen dramatischen Leistungsabfall, auch die Lehrer seien hilflos ... und ein Sohn, der klagt, dass er einfach keinen Bock mehr auf Schule habe und die Eltern ihn nicht verstehen wollten. Und überhaupt, wie soll da ein Kostenvoranschlag aussehen? Was ist überhaupt das Problem, wer hat eigentlich welche Ziele?

Vermarktung heißt Vergeldlichung, heißt Arithmetisierung, heißt Vergleich von Quantitäten. So ist es kein Zufall, dass überzogener Empirismus die Kehrseite des Ökonomismus darstellt. Es sind lediglich verschiedene Facetten ein und desselben.

Nehmen wir das Beispiel der Sprachförderung: Gerade in Kommunen mit einem großen Anteil an Kindern von Einwanderern ist Sprachförderung seit geraumer Zeit ein großes Thema. Es werden Didaktiken entworfen und vor allem Tests, die das Kind in aller Regel reduzieren auf jemanden, der spricht. Schließlich werden Punkte vergeben für gemessene Sprachfähigkeit. Nicht selten glaubt man, dadurch nicht nur die Sprachfähigkeit des Kindes bewerten zu können, sondern gleichsam Schlüsse auf die Leistungsfähigkeit und die Effizienz der Einrichtung, in der sich das Kind aufhält, ziehen zu können. So gut wie keine Rolle spielt dabei, wie es dem Kind geht, ob das Kind sich vielleicht quält, ob es ihm Spaß macht oder ob es vielleicht tief unglücklich ist. Es spielt erst einmal keine Rolle, ob das Kind am Ende vielleicht ein vorbildliches Hochdeutsch spricht, leider aber auch eine ziemlich neurotische Persönlichkeit darstellt. Mehr oder weniger ausgeblendet bleibt die basale pädagogische Einsicht, dass ich niemals einen einzigen Aspekt eines Menschen verändern kann, ohne ihn als Ganzes zu verändern, dass Bildung und Erziehung nur ganzheitlich funktionieren. Und Ganzheitlichkeit entzieht sich aufgrund ihrer Komplexität nun einmal weitestgehend versimplifizierender empirischer Messung. Und wo dann wirklich nichts mehr zu messen ist, wird zumindest noch so getan: siehe Pflegenoten. Schlimm daran: Je weiter wir auf diesem Pfad voranschreiten, umso mehr laufen wir Gefahr, die Fähigkeit qualitativen Denkens selbst zu verlieren, die Fähigkeit, Qualitäten zu vergleichen, in anderen Kategorien zu denken als in Zahlen. Vieles, was bisher »selbstverständliche« sozialpädagogische Standards waren, wird dabei »auf der Strecke bleiben«.

Im praktischen Alltag laden wir all das, was Pädagogik und Beziehungsarbeit wirklich ausmacht, was wir jedoch ökonomistisch ausblenden, um es marktgängig zu machen, letztlich auf das Personal ab: »Bitte achten Sie doch nebenbei darauf, dass unsere Kinder trotz all unserer messbaren Bildungsbemühungen und -erfolge noch halbwegs glücklich sind.« Wir verlassen uns darauf, dass unsere Erzieherinnen oder Pfleger es schon irgendwie möglich machen, trotz marktkonformer oder empirischer Messung zugänglicher Leistungsbeschreibungen noch irgendwie Zeit für das Wesentliche in der sozialen Arbeit zu finden.

Das Spannungsfeld zwischen Grundsatz und Umsatz hat sich verschoben - von der Managementetage mit Blick auf Unternehmensziele und Organisation der sozialen Arbeit zur einzelnen Erzieherin oder Pflegekraft. Das Spannungsfeld zwischen Grundsatz und Umsatz stellt sich für sie als Frage, wie sie trotz widriger Umstände noch ihren eigenen fachlichen Vorstellungen und ihrem Ethos gerecht werden kann. Es sind weit mehr die Pflegekraft, die Erzieherin und der Sozialarbeiter als das Management, die den Spagat zwischen Grundsatz und Umsatz, zwischen sozialpädagogischer Fachlichkeit und ökonomistischen Rahmenbedingungen auszuhalten haben, da eine sozialpädagogisch begründete, fachlich qualifizierte Arbeitsweise niemals in taylorisierten, messbaren und normierten Arbeitsabläufen aufgehen kann. Am Ende bleibt immer eine wesensmäßige Unvereinbarkeit von ökonomistischen Tendenzen in der sozialen Arbeit und ihrer methodischen Verpflichtung zur Ganzheitlichkeit.


Umkehren!

Es ist daher ganz zweifelsfrei höchste Zeit, umzukehren und zurückzufinden zu Rahmenbedingungen, die ein fachlich fundiertes und anspruchsvolles Arbeiten ermöglichen, auch wenn damit zugegebenermaßen mit ziemlich lapidarem Worte eine wahre Herkulesaufgabe beschrieben ist.

Sie verlangt von der Wohlfahrtspflege zuallererst, innezuhalten und die vergangenen Jahrzehnte kritisch Revue passieren zu lassen. Sie verlangt, sich zu besinnen, und zwar noch einmal neu rückzubesinnen auf den Zusammenhang von Wertegerüsten, Menschenbildern, Methoden und Qualität.

Eine solche Besinnung erfordert es, Foren, Orte des Austausches und der Reflexion anzubieten über genau diese Themen und dabei anzuknüpfen an sozialpädagogische Traditionen. Ob auf Kongressen, in Veranstaltung der Fort- und Weiterbildung oder Angeboten der Supervision: Mit neuen Impulsen muss die Auseinandersetzung mit der eigenen Theoriegeschichte und dem Charakter der sozialpädagogischen Beziehungsarbeit neu belebt und intensiviert werden. Fragen der Theorie und der ethischen Grundlagen haben in Aus- und Fortbildung mindestens den gleichen Rang einzunehmen wie Fragen der betriebswirtschaftlichen Unternehmensführung.

Nur wenn sich die Wohlfahrtspflege derart ihrer selbst bewusst ist, wird sie auch in der Lage sein, kraftvoll die zweite Aufgabe in Angriff zu nehmen, die mit der Erstellung sachgerechter Rahmenbedingungen verbunden ist: nämlich öffentlich und offensiv die Wertediskussion und die Diskussion um den Stellenwert sozialer Arbeit in unserem Gemeinwesen zu führen. Dem kalten Utilitarismus ist gesellschaftspolitisch der eigene Wertekodex von Solidarität, Menschlichkeit und Barmherzigkeit entgegenzustellen. Konflikte sind einzukalkulieren und auch auszutragen (zu unvereinbar sind so manche Interessenlagen, um überall den Kompromiss suchen zu können). Es geht darum, zielbewusst mitzumischen im Kampf um Meinungsführerschaften und um Meinungsmehrheiten in dieser Gesellschaft. Es geht darum, auf Strömungen des Zeitgeistes nicht lediglich zu reagieren, sondern sie zu beeinflussen. Doch wird die Wohlfahrtspflege kaum um diese Auseinandersetzungen herumkommen, will sie für ihre Werte werben und Zeitgeist und Moral beeinflussen. Sie wird sich hierbei mit dem modernen Wirtschaftspopulismus auseinandersetzen müssen, sie wird auf die vielfachen Irrationalitäten hinweisen müssen, auf die Interessengeleitetheit so mancher Diskussion und ökonomischer These, vor allem aber auf den tatsächlich nur sehr begrenzten Horizont der Ökonomie. Sie wird dem ökonomisch intendierten Empirismus ihre eigene Betrachtungsweise der Welt und der Menschen entgegensetzen müssen. Immer wieder. En gros und en détail. Denn nur wenn es gelingt, den neoliberalen Ökonomismus zu entzaubern, wird es gelingen, den Zeitgeist in eine Richtung zu beeinflussen, die wieder Raum schafft für mehr Menschlichkeit und Solidarität.


Dr. Ulrich Schneider ist Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Berlin. Der Beitrag ist die verschriftlichte Fassung seines Vortrags auf der DGSP-Jahrestagung 2014 in Bremen. Mehr zum Thema in seinem Buch: »Mehr Mensch! Gegen die Ökonomisierung des Sozialen« (Frankfurt am Main: Westend-Verlag, 2014).
E-Mail: ulrich.schneider@paritaet.org

(*) Auch wenn ich mir damit mit ziemlicher Sicherheit den Protest unterschiedlicher Professionen und wissenschaftlicher Disziplinen zuziehe, subsumiere ich in diesem Text unter dem Terminus »soziale Arbeit« jegliche Tätigkeit in der Wohlfahrtspflege, bei der der Beziehungsaspekt von wesentlicher Bedeutung ist (oder zumindest sein sollte), sei es im Kindergarten, in der Suchtberatungsstelle oder im Pflegeheim.

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 148 - Heft 2/15, April 2015, Seite 4 - 7
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der
Redaktion
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Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
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Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Mai 2015

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