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BERICHT/032: Am Lebensrand - der assistierte Suizid ...    Kaum Annäherung an Karlsruher Urteil (SB)


Kaum Annäherung an Karlsruher Urteil

Hauptstadtsymposium der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) und kontroverse Orientierungsdebatte im Bundestag über assistierten Suizid

von Christa Schaffmann (19. Mai 2022) - aktualisierte Fassung vom 22. Juni 2022



Das Foto zeigt die Finger einer leblosen Hand und daneben ein umgekipptes Medizinfläschchen - Foto: 2013 by Manos Bourdakis, CC-BY-SA-3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/], via Wikimedia Commons

Die aktuellen politischen Diskussionen über eine künftige Regelung des assistierten Suizids lassen kaum eine Annäherung an das Karlsruher Urteil erkennen.
Foto: 2013 by Manos Bourdakis, CC-BY-SA-3.0
[https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/], via Wikimedia Commons

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat am 26. Februar 2020 entschieden, dass § 217 Strafgesetzbuch, der bis Anfang 2020 die "geschäftsmäßige Suizidhilfe" verbot, verfassungswidrig und nichtig ist. Jeder Mensch - freiverantwortliches Handeln vorausgesetzt - hat das Recht auf einen selbstbestimmten Tod, und das unabhängig davon, ob er schwer krank ist. Und da der Suizid nicht verboten ist, kann auch die Hilfe beim Suizid nicht strafbar sein. Im Karlsruher Urteil wurde kein neues Gesetz gefordert. Doch der Gesetzgeber entschied sich dafür und trat damit Debatten los, die den Karlsruher Richtern nicht gefallen dürften. Den krassesten Beitrag lieferte die DGPPN beim Hautstadtsymposium am 21. Juni 2022, bei dem sie Eckpunkte für eine Neuregelung der Suizidassistenz vorstellte.*) Sie fordert nun, dass "das Verfahren zur Prüfung der Freiverantwortlichkeit, also der Selbstbestimmtheit, Dauerhaftigkeit und Ernsthaftigkeit des Suizidwunsches, und die Überwachung der Einhaltung prozeduraler Vorgaben durch das zuständige Amts- und Betreuungsgericht gewährleistet werden." Das Vorliegen der Voraussetzungen für die Freiverantwortlichkeit müsse in zwei Untersuchungen, Mindestabstand von drei Monaten, durch zwei unabhängige Fachärztinnen oder -ärzte, von denen mindestens eine Person über die Facharztbezeichnung für Psychiatrie und Psychotherapie verfügt, festgestellt werden.

Soweit war bisher nicht einmal der restriktivste der drei vorliegenden Gesetzentwürfe gegangen. Die DGPPN plädiert zudem für eine obligatorische "umfassende und mehrzeitige suizidpräventiv ausgerichtete fachärztliche Beratung und Aufklärung hinsichtlich möglicher Entscheidungsalternativen und Behandlungsoptionen". Bei Fehlen einer terminalen Erkrankung empfiehlt sie eine Wartezeit von sechs Monaten. Ein lange gereifter Entschluss - und darum handelt es sich fast ausnahmslos bei den Menschen, die um einen assistierten Suizid bitten - wird, wenn man der DGPPN folgt, in Frage gestellt, der Suizident zu aufwendigen ärztlichen Untersuchungen durch mehrere Fachärzte gezwungen und zu Beratungsgesprächen genötigt, in denen die Suizidprävention ein Ziel ist. Man darf gespannt sein, wie die Verfasser der bisher vorliegenden Gesetzentwürfe darauf reagieren. Selbst wenn sie der DGPPN nicht folgen, dürften sich all die gestärkt fühlen, die sich eh schon ein großes Stück vom Karlsruher Urteil entfernt haben.

Die vorliegenden Gesetzentwürfe wurden beim Hauptstadtsymposium in Kurzform vorgestellt. Kirsten Kappert-Gonther berichtete, dass sie und ihre Co-Autoren parallel zu ihrem Entwurf einen Antrag zur Suizidprävention vorgelegt hätten. Sie begründete das so: "Wenn wir diese Debatte über assistierten Suizid führen, müssen wir uns auch ehrlich machen bezüglich der Lage der Suizidprävention in Deutschland." Diese sei nicht gut aufgebaut. "Viele Menschen finden nicht die adäquate Hilfe, wenn sie sich suizidal fühlen; es gibt beispielsweise keine 24-Stunden-Hotline, wo ein Suizident anrufen kann, es gibt nicht an allen Brücken Gitter, die hoch genug sind, um einen Suizid zu verhindern, um nur wenige Beispiele zu nennen." Der Antrag wird am 24. Juni 2022 im Bundestag vorgestellt.

Eine Orientierungsdebatte über die Gesetzentwürfe zum assistierten Suizid hatte am 18. Mai 2022 stattgefunden. Wer diese und die dazu in den vergangenen Monaten abgegebenen Erläuterungen und Kommentare einzelner Abgeordneter zu diesem Zeitpunkt bereits kannte, konnte in der Debatte zeitweilig den Eindruck gewinnen, dass auch unter jenen, die das Karlsruher Urteil über das Recht jedes Bürgers auf ein selbstbestimmtes Sterben einschließlich der Inanspruchnahme von Hilfe nicht begrüßt haben, mindestens verbal eine Annäherung an dessen Inhalt stattgefunden hat. So wurde dieses Recht mehrfach betont, ebenso eine ergebnisoffene Beratung, eine Rückkehr zu 2014 (als der 2020 vom BVerfG gestrichene § 217 beschlossen wurde, der Assistenz verbot) ausgeschlossen.

Dass hinderte Helge Lindh (SPD), Ansgar Heveling (CDU/CSU), Kirsten Kappert-Gonther (Bündnis 90/Die Grünen) jedoch nicht, erneut ein Netz staatlich anerkannter Beratungsstellen zu fordern, die Suizidwillige vollumfänglich beraten müssten, was auch - so Lindh - suizid-präventiv sein könne. "Wir wollen Anwälte der Sterbewilligen sein", sagte er. Fatal, dass man sich einen Anwalt normalerweise selbst sucht, wenn man das für nötig hält und ihm vertraut.

Suizidprävention wurde auch von anderen Abgeordneten in den Mittelpunkt gestellt, obwohl es bei dem Gesetz ja um die zum Suizid Entschlossenen geht, die Unterstützung auf ihrem letzten Weg wünschen. Lang und breit wurde über den Druck gesprochen, unter dem Suizidwillige in vielen Fällen stünden, weil sie ihren Angehörigen Kosten ersparen wollten, sowie über Menschen, die eigentlich nicht sterben, sondern sich "in einer psychischen Krise eine Pause wünschten", so Kappert-Gonther. Für sie sei es ein Horrorszenario, wenn es irgendwann mehr Suizidassistenz-Angebote als Präventions-Angebote geben würde. Offenbar erwartet sie das Ende des Sozialstaats, denn dessen Aufgabe wäre es, das zu verhindern. Nachdrücklich forderte sie deshalb eine Verankerung des künftigen Gesetzes im Strafrecht.

Dass manche der angesprochenen Probleme, die zu einem Suizidwunsch führen können - Armut, Personalmangel in Pflegeeinrichtungen, zu wenig Palliativ-Angebote und Hospiz-Plätze - durchaus die Aufmerksamkeit des Parlaments verdienen, ist unstrittig. In diese Orientierungsdebatte gehörten sie jedoch nicht.

Widerspruch kam daher u.a. von Katrin Helling-Plahr (FDP). Sie forderte die Achtung des Karlsruher Urteils. Dazu gehöre aus ihrer Sicht eine liberalere Lösung außerhalb des Strafrechts und mehr Respekt gegenüber den Suizidwilligen. Man sollte sie nicht bedrohen, sich nicht über sie stellen, stattdessen echte Anlaufstellen für sie schaffen, ihnen die Beratung durch vertraute Ärzte gestatten, statt sie dazu zu zwingen, anonyme Behörden aufzusuchen. Ihr Fraktionskollege Benjamin Strasser betonte, dass das Karlsruher Urteil den Rahmen des Diskurses grundsätzlich verändert habe: Es gehe nicht mehr um das "Ob" von assistiertem Suizid, sondern um das "Wie".

Auch Petra Sitte (Die Linke) betonte die durch Karlsruhe sehr deutlich gemachte freie Entscheidung jedes Menschen darüber, was für ihn ein lebenswertes Leben sei. Wer sein Leben selbstbestimmt beenden wolle, der solle dies in Würde und auch mit Unterstützung tun können. Zu viele Hürden, wie andere Gesetzentwürfe sie aufbauten, widersprächen dem Geist von Karlsruhe, denn "ein Recht, das sich in der Praxis nicht ausüben lässt, ist kein Recht", so Sitte. Ihre Fraktionskollegin Kathrin Vogler hat sich dagegen der Gruppe um den SPD-Abgeordneten Lars Castellucci angeschlossen, deren Entwurf die meisten Hürden für ein selbstbestimmtes Sterben aufbaut. Vogler wähnt ein "Marktsystem von Anbietern" für Suizidassistenz. Castellucci selbst betont, er wolle assistierte Suizide ermöglichen, aber nicht fördern. Im Detail kommt das Ermöglichen aber sehr kurz in seiner Rede, die sich vor allem um den Lebenswillen dreht, den es zu unterstützen gelte, um Hilfe zum Leben und nicht zum Sterben, um momentane Sterbewünsche, die sich Organisationen angeblich zunutze machten, was man ve rhindern müsse.

Martina Stamm-Fibig (SPD) wies darauf hin, dass die Realität Menschen mit verschiedenen Gründen für einen selbst gewählten Todeszeitpunkt umfasst. Es sei nicht die Aufgabe des Bundestages, diese Gründe zu bewerten bzw. darüber zu entscheiden. Das Parlament solle im Karlsruher Urteil eine Chance zum Sterben in Würde sehen und das Recht darauf nicht durch behinderndes Verhalten untergraben.

Thomas Seitz (AfD) nutzte die Chance, seine Partei als besonders verfassungstreu - jedenfalls beim Thema "selbstbestimmtes Sterben", darzustellen. Nach den während der Pandemie entstandenen "Auswüchsen" staatlicher Eingriffe, böte sich endlich die Chance, den Bürgern wieder mehr Freiheit zu gewähren, selbst zu entscheiden, ob man das eigene Leben für lebenswert hält, und ihnen für den Freitod auch das beste verfügbare Mittel Natrium Pentobarbital (NaP) zur Verfügung zu stellen. Seine Fraktionskollegin Beatrix von Storch teilt diese Auffassung nicht.

Im krassen Gegensatz zur Mehrheit der Redner behauptete Marc Biadacz (CDU/CSU), es dürfe bei der Debatte nicht allein um das Recht des Individuums gehen. Der Tod sei keine Privatangelegenheit, er betreffe auch Angehörige, Freunde und überhaupt ginge es um den Umgang der Gesellschaft mit Leben und Tod. Der Staat müsse Menschen und ihr Leben schützen. Damit bewegte Biadacz sich jenseits des Urteils vom Bundesverfassungsgericht. Sein Fraktionskollege Thomas Rachel verlangt von den Suizidenten sogar, sie sollten Rücksicht auf das medizinische Personal nehmen und ihren Sterbewunsch daraufhin prüfen, ob er für dieses zumutbar sei. Sein Ziel ist es, dass Menschen nicht durch die Hand anderer, sondern an deren Hand sterben. Für Erich Irlstorfer (CDU/CSU) hat jedes Leben einen Wert. "Der Mensch stirbt, wenn Gott ein Leben vollendet hat", so sein Standpunkt.

Renate Künast (Bündnis 90/DieGrünen) erinnerte daran, dass es keinen Auftrag der Karlsruher Richter gegeben habe für ein neues Gesetz und somit auch nicht für dessen strafrechtliche Verankerung. Der Regelbedarf sei bereits erfüllt, wenn selbstverantwortliches Handeln vorliegt und keine Tötung auf Verlangen stattfindet. Man sollte es den Sterbewilligen weder zu schwer noch zu leicht machen. Der von ihr zusammen mit anderen Abgeordneten vorgelegte Gesetzentwurf weise deshalb zwei mögliche Wege: In einer medizinischen Notlage sollte die Beratung zu Alternativen und die Beurteilung (freiverantwortliches Handeln) durch zwei Ärzte ohne langen Aufschub zur Entscheidung und damit zur Verschreibung des Medikaments führen. In anderen Fällen, in denen ein glaubhafter Sterbewunsch vorliegt, sollten Ärzte des Vertrauens zugelassen sein.

Till Steffen (Bündnis 90/Die Grünen) betont in seiner Rede, es gebe keine Pflicht zu leben. An manchen Gesetzentwürfen und den darin aufgebauten Hindernissen kritisiert er vor allem den strafrechtlichen Aspekt und die Rolle des Staates sowie die Rolle durch ihn eingesetzter Ärzte und Berater, die der Sterbewunsch eines Menschen aus seiner Sicht solange nichts angehe, so lange dieser selbstbestimmt handelt.

Unter mehreren Abgeordneten ist die Sorge, geldgierige Menschen in der Pharmaindustrie und in Sterbehilfe-Organisationen könnten künftig an assistierten Suiziden Milliarden verdienen. Das sagt viel über das Bild aus, das sich einige Abgeordnete davon machen, wie jemand zu dem Wunsch nach einem assistierten Suizid kommt, wie wenig man diesen Menschen zutraut, überlegt zu handeln, wie sehr man ihnen unterstellt, mal schnell einer (übrigens nicht vorhandenen, weil verbotenen) Werbung zu folgen und sich dann das Leben zu nehmen, als handele es sich darum, ob man am Wochenende zum Fußballspiel geht oder einen Spaziergang im Wald macht. Auch die "väterliche Sorge" darum, dass der Suizid zum Trend werden könne, zur neuen Normalität, wurde ins Feld geführt.

Nina Scheer (SPD) denkt ganz anders über den Begriff "Normalität". Sie fürchtet, dass die lebensfremden Visionen von massenhaften Suiziden dazu führen werden, dass Karlsruhe den ganzen Prozess noch einmal aufrollen muss und erneut für lange Zeit ein Sterben in Würde durch einen assistierten Suizid unmöglich gemacht wird. Man könne noch so viele soziale oder medizinische Maßnahmen ergreifen - es werde immer Menschen geben, die ihr Lebens selbstbestimmt beenden wollen. Das war und ist Normalität. Sie ist damit nah bei all den Medizinern, die angesichts der wachsenden Möglichkeiten zur Lebensverlängerung schon seit mehr als zehn Jahren über noch eine andere Form der Normalität nachdenken, publizieren und sie praktizieren: Sterbehilfe durch Unterlassen. Alles, wirklich alles zur Erhaltung des Lebens zu tun, wird schon längst nicht mehr von allen Ärzten als sinnvoll angesehen und auch von vielen Patienten in Frage gestellt.

Die endgültige Entscheidung ist für den Herbst geplant. Auch der Ethikrat hat seinen Kommentar erst für den Herbst angekündigt.

*) https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_Verordnungen/Stellungnahmen_WP19/Suizidassistenz/Dt._Gesellsch._fuer_Psychiatrie_u.Psychotherapie_Psychosomatik_u._Nervenheilkunde_e.V._bf.pdf


Über die Autorin:

Christa Schaffmann ist Diplomjournalistin und arbeitet seit zehn Jahren als freie Autorin und PR-Beraterin, nachdem sie zehn Jahre Chefredakteurin von Report Psychologie, der Fach- und Verbandszeitschrift des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen, war.


Ein einleitender Text zum Sachstand sowie weitere Beiträge der Autorin zum Thema "Assistierter Suizid" in Form von Gesprächen mit Expert*Innen verschiedener Berufs- und Interessengruppen sind im Schattenblick unter dem kategorischen Titel "Am Lebensrand - der assistierte Suizid ..." zu finden unter:

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veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 175 vom 2. Juli 2022


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