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INTERVIEW/042: Gesundheitswesen - Eskalation der Notlösungen ...    Tom Dahlke im Gespräch (SB)


Gespräch am 9. Oktober 2019 in Hamburg


Tom Dahlke war lange als Anästhesist, Schmerztherapeut und Palliativmediziner in Pinneberg tätig. Er ist bei ver.di organisiert und hat die Privatisierung des dortigen Krankenhauses und die Übernahme durch den Sana-Konzern als Betriebsrat miterlebt. Zusammen mit dem Allgemeinmediziner und Theologen Gerd Mohrmann, der in einer kleinen Gemeinschaftspraxis im Kreis Segeberg gearbeitet hat, hielt er beim Jour Fixe 179 der Hamburger Gewerkschaftslinken am 9. Oktober im Curiohaus einen Vortrag zum Thema "Gegen die Kommerzialisierung der Krankenhäuser und des Gesundheitswesens" [1]. Im Anschluß an die Diskussionsveranstaltung beantwortete Dahlke dem Schattenblick einige Fragen.


Im Gespräch - Foto: © 2019 by Schattenblick

Tom Dahlke
Foto: © 2019 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Wir sprachen heute auch über das Alter, das Ende des Lebens und die Kosten, die dabei entstehen. Bereits in den 90er Jahren hatte ein Ärztekammerpräsident das böse Wort vom "sozialverträglichen Ableben" geprägt. Die Gegenrechnung von Lebensqualität und Kosten wurde demnach schon vor Einführung des DRG-Systems geführt.

Tom Dahlke (TD): Uns ging es darum zu zeigen, welche Kosten am Lebensende entstehen, aber nicht in der Tendenz zu sagen, die sollen nicht anfallen, sondern daß man eine sinnvolle Alternative schafft. Die Palliativmedizin, die bisher stiefmütterlich behandelt worden ist, macht in diesem Zusammenhang sehr viel Sinn.

SB: Würde der hippokratische Eid absolut gesetzt, müßte es sich eigentlich verbieten, den ethischen Wert des Menschen mit einer ökonomischen Ratio ins Verhältnis zu setzen. In welchem Maße wird im Zuge der sogenannten Gesundheitswirtschaft dennoch die Frage gestellt, ob sich eine an sich sinnvolle Leistung am Patienten in einem bestimmten Lebensabschnitt überhaupt noch lohnt?

TD: Gottseidank ist diese Frage im Krankenhausbereich bislang wenig virulent. Diese Diskussion hat noch nicht Raum gegriffen. Es ist insofern eine schizophrene Situation, als das Verdienen am Altern diese Debatte erst einmal wegdrängt. Eine vernünftige Frage ist ja: An welcher Stelle ist Palliativmedizin eine sinnvolle Alternative zu dieser 50prozentigen Sterbewahrscheinlichkeit im Krankenhaus? Viele wollen ja nicht ins Krankenhaus, wollen vor allem nicht im Krankenhaus sterben und sich dort noch irgendwelchen Behandlungen unterziehen.

SB: Die im DRG-System angelegte Rationalisierung wird mit einer Effizienzsteigerung begründet. In welchem Umfang kann man angesichts der Kritik an diesem System von einer tatsächlich verbesserten Effizienz sprechen, die sich auf therapeutische Maßnahmen auswirkt? Werden Menschen wirklich schneller gesund, weil die Behandlung gezielter durchgeführt wird?

TD: Das DRG-System hat neben negativen auch einige positive Aspekte. Einerseits versucht man, die Diagnosen mit Nebenkrankheiten zu verschlimmern, um damit mehr Geld generieren zu können. Auch sucht man nach weiteren Diagnosen, mittels derer man zusätzliche geldbringende Therapien durchführen kann. Aber natürlich werden die Behandlungen auf der anderen Seite auch effizienter gestaltet, anders und besser organisiert. Allerdings hat dieses System gravierende Folgen: Oftmals lassen sich unter einer Diagnose nicht mehrere Krankheiten, mit denen der Patient ins Krankenhaus kommt, behandeln. Das führt dazu, daß der Fokus nur auf eine Diagnose gelegt wird. Mir sind beispielsweise Fälle von Patienten bekannt, die zu ihrem Operationstermin kamen, wo man ihnen noch einmal Blut abgenommen und dabei festgestellt hat, daß sie eine weitere schwerwiegende Erkrankung, eine Krebserkrankung, hatten. Dennoch wurde der Patient zunächst nur aufgrund der ersten Diagnose operiert und dann als neuer Fall zu einem anderen Zeitpunkt abermals einbestellt, wo man sich dann mit der weiteren Erkrankung befaßt hat. So findet eine Splittung zu Lasten des Patienten statt.

SB: Pharmakonzerne bewerben offensiv ihre Produkte und versuchen, die Ärzteschaft aktiv in den Absatz einzubinden. In den Medien wird die Wirksamkeit von Medikamenten bei bestimmten Erkrankungen breit diskutiert. Wäre mit einer besseren Prävention den Menschen nicht mehr geholfen als mit einer Dauermedikation?

TD: Viele Erkrankungen sind bestimmt mit unserer Lebensweise verbunden: Ernährung, Bewegungsmangel, Haltungsschäden und manches mehr. Daraus resultieren viele Erkrankungen wie etwa Diabetes, Fettstoffwechselstörungen sowie Probleme am Muskel- und Skelettsystem. Ein großer Teil der Wirbelsäulenschäden, die operativ behandelt werden, können ursächlich auf fehlendes Training und eine ungünstige Bewegungsweise zurückgeführt werden. Daher wäre natürlich vor allem anderen geboten, viel stärker auf diese Prophylaxe hinzuarbeiten, so daß man auch ohne Medikamente auskommen würde.

SB: Verschiedene Krankenkassen haben Bonussysteme eingeführt, bei denen bestimmte Verhaltensweisen in die Beitragshöhe einfließen. Besteht da nicht die Gefahr, daß die Verantwortung für eine Erkrankung auf die Patienten abgewälzt wird, obgleich solche Krankheiten auch aus dem Arbeitsleben herrühren oder von Umweltfaktoren hervorgerufen sein können? Sehen Sie einen solchen Trend in der Medizin, daß gesellschaftliche Faktoren krankmachender Art ausgeblendet werden?

TD: Natürlich, diese Diskussion spielt ja beispielsweise bei Geräten wie der Pulsuhr und ähnlichem eine große Rolle. Diese Daten, die ich an mir selbst erhebe, werden an Computerfirmen übermittelt. Diese Daten könnten auch von Krankenkassen benutzt werden, um zu sehen, wie gut ich mich verhalte, wie häufig ich mich bewege und so weiter, um daraus dann Abstufungen in der Höhe des Krankenkassenbeitrags zu generieren. Es ist eine Riesengefahr, daß dies auf individuelle Verhaltensweisen festgeschrieben wird, die belohnt oder bestraft werden. Diese Diskussion wird schon sehr lange geführt, etwa daß Alkoholiker einen höheren Beitrag an die Krankenkasse bezahlen sollten. Solche Vorstöße sind glücklicherweise immer wieder abgebügelt worden. Die unkritische Anwendung solcher IT-Instrumente beim Messen von Streß, Puls und Blutdruck ist als konkrete Gefahr anzusehen, da diese Daten weitergegeben werden. Es besteht eine große Gefahr, daß dann verschiedene Risiken bewertet werden und alles individuell gesehen wird, ganz egal, ob dahinter nicht vielleicht soziale Verhältnisse, psychische Belastungen oder Arbeitsbedingungen stehen.

SB: Medizinkritische Initiativen. alternative Institutionen wie zum Beispiel das Medi-Büro und andere soziale Bewegungen kümmern sich darum, daß Menschen ohne Krankenversicherung oder ohne Aufenthaltsgenehmigung medizinische Versorgung erhalten. Sind diese Initiativen aus Ihrer Sicht unverzichtbar, weil unser Gesundheitssystem Lücken aufweist und manchen Menschen der Zugang verwehrt ist?

TD: Ja, es gibt Menschen, die gar keinen Zugang haben, die nicht versichert sind, die gibt es zunehmend. Und da finde ich diese Initiativen gut, obwohl natürlich die Krankenkassen und die Gesellschaft an sich auch dafür zuständig sein müßten. Solange das nicht erstritten wird, sind solche Initiativen eine gute Lösung.

SB: In der Diskussion um das Gesundheitswesen wird allenthalben die Frage aufgeworfen, ob die Gesellschaft die hohen Gesundheitskosten überhaupt noch schultern kann. Könnte sich unsere Gesellschaft ein Gesundheitssystem leisten, das nicht nach ökonomischen, sondern nach ethischen Kriterien ausgerichtet ist und die Bedürfnisse des Menschen in den Mittelpunkt stellt?

TD: Das, denke ich, könnte die Gesellschaft ohne Probleme leisten. Es gibt ja viele Kosten im Gesundheitssystem, die durchaus umstritten sind und die beispielsweise durch eine Prophylaxe zu reduzieren wären. Insofern sind ausreichende Mittel vorhanden, um eine ethische und gute Medizin zu machen, das ist nicht das Problem. Wir müssen Wege finden, der Prophylaxe mehr Raum einzuräumen und einer Verselbständigung bestimmter Mechanismen entgegenzuwirken, etwa wenn manche Operationen in einem unnötig hohen Kostenrahmen durchgeführt werden. Wie kann man so etwas verhindern? Schon vor dem DRG-System hat es anhand dieser Frage immer einen Wettstreit gegeben, wenn die Entscheidung anstand, wo Kosten reduziert werden könnten. Als die heutigen Mechanismen noch gar nicht wirksam waren, wurde bereits bei Operationen und anderen Behandlungen die Frage aufgeworfen, ob sie tatsächlich sinnvoll sind. In alten Zeiten wurden Patienten mit Bluthochdruck oder Diabetes stationär behandelt, was aus heutiger Sicht keinen Sinn macht, weil der Alltag dieser Patienten dann gar nicht in die Behandlung mit eingeht. Es ist genug Geld vorhanden, eine sehr humane und ethisch gute Medizin zu machen. Man muß nur dafür kämpfen, daß die richtigen Kriterien angelegt werden.

SB: Wer sind die Hauptakteure, die dafür sorgen, daß unser Gesundheitssystem sehr stark ökonomisch orientiert ist und als Gesundheitswirtschaft bezeichnet wird, in der sich neoliberale Prinzipien durchsetzen? Ist es mehr die Politik oder sind es eher die Wirtschaftsakteure?

TD: Es sind in erster Linie die Wirtschaftsakteure, es sind Krankenhausbetreiber, es sind Pharmakonzerne, es sind Gerätekonzerne, die an dieser Entwicklung enorm verdienen, es sind natürlich auch Digitalkonzerne. Einen großen Bereich macht ja inzwischen in den Krankenhäusern die Digitalisierung samt allem aus, was damit verbunden ist wie teure Datenbanken und so weiter. Daran verdienen inzwischen ganz verschiedene Industrien ein Riesengeld und die sind natürlich interessiert, daß das so weitergeht. An Prophylaxe haben die kaum Interesse, denn damit ist wenig Geld zu verdienen.

SB: Welche Rolle spielen die Gewerkschaften als möglicher Gegenpol zur Gesundheitswirtschaft? Sind sie vor allem Interessenvertreter für mehr Lohn oder machen sie sich auch für eine humanere Medizin stark? Sind Sie damit zufrieden, was diesbezüglich im Rahmen Ihrer Gewerkschaft passiert, oder könnte da mehr getan werden?

TD: Da kann sicherlich noch mehr getan werden. Natürlich geht es der Gewerkschaft erst einmal um Tarifkämpfe, wobei die in den letzten Jahrzehnten fortschreitende Verschlechterung der Arbeitsbedingungen dieser auf Profit arbeitenden Gesundheitswirtschaft ganz vorn auf der Agenda stehen muß. Dazu hat sich ver.di inzwischen auch schon geäußert, aber da ist sicherlich noch viel Luft nach oben, wie man so schön sagt. Aber ich denke, ver.di bekommt ja diese Auseinandersetzung um die Privatisierung des Gesundheitswesens und diesen Vormarsch der Konzerne mit, und das spiegelt sich auch in den Diskussionen wider.

SB: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn will sogar in Mexiko Pflegekräfte anheuern. Gibt es in der Bundesrepublik nicht genügend Menschen, die Interesse an diesem Beruf hätten, wenn er denn angemessen honoriert würde?

TD: Ein Hindernis sind vor allem die Arbeitsbedingungen, diese Schizophrenie, die sich aus den ökonomischen Zwängen und Vorschriften ergibt, die sich im Krankenhausbetrieb widerspiegeln, und dem Anspruch, den viele Leute mit dieser Arbeit verbinden. Das hat dazu geführt, daß viele diesen Beruf nicht mehr ergreifen. Die Arbeitszeiten gehen oftmals über 24 Stunden, sie gehen über Wochenenden. Diese Schizophrenie des Alltags unter diesen Arbeitsbedingungen hat dazu geführt, daß solche Krankenhausjobs nicht mehr angetreten werden. Es ist gar nicht mal nur die Bezahlung, sondern es sind die schlechten Arbeitsbedingungen. Humane Arbeitsbedingungen innerhalb einer humanen Medizin - so kann man sich demgegenüber einen erstrebenswerten Beruf im medizinischen Bereich vorstellen.

Spahn hat in Mexiko angesichts des Pflegemangels Notlösungen auf den Weg gebracht, wobei man fürchten muß, daß sich solche Notlösungen als Billiglösungen erweisen. Oftmals werden die im Ausland angeworbenen KollegInnen erst einmal nicht als volle Pflegekräfte, sondern als Pflegehilfskräfte eingesetzt, weil ihre Berufsausbildung hier nicht anerkannt wird. Es gibt in vielen deutschen Kliniken ausländische Ärzte, die deutlich unter Tarif arbeiten. Wäre die Arbeit gut organisiert und nicht diesem Profitdenken unterworfen, würden außerdem die Arbeitsbedingungen verbessert, dann gäbe es auch hier genügend Leute, die diesen Beruf ergriffen.

SB: Herr Dahlke, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnote:


[1] http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/report/m0rb0030.html


Bericht und Interview zum Jour Fixe "Kommerzialisierung des Gesundheitswesens" im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → MEDIZIN → REPORT

BERICHT/030: Gesundheitswesen - die Klinik als Wirtschaftsbetrieb ... (SB)
INTERVIEW/042: Gesundheitswesen - Eskalation der Notlösungen ...    Tom Dahlke im Gespräch (SB)


24. Oktober 2019


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