Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 12/2015
Praxen ohne Grenzen
Politische Lösung gefordert
Von Dirk Schnack
Menschen ohne Krankenversicherung brauchen mehr Unterstützung
Die Praxen ohne Grenzen (PoG) haben bei einem Treffen in
Rendsburg Unterstützung für Menschen gefordert, die nicht
krankenversichert sind. Insbesondere Kinder und Jugendliche gehören
nach Ansicht der PoG-Ärzte in eine Krankenversicherung - unabhängig
vom Status der Eltern. Nach Schätzungen gibt es derzeit in Deutschland
insgesamt rund 800.000 Menschen ohne Krankenversicherung. Entsprechend
groß ist der Bedarf für unentgeltliche medizinische Leistungen. Aus
dieser Idee heraus gründete der Bad Segeberger Allgemeinmediziner und
Pädiater Dr. Uwe Denker vor fünf Jahren die bundesweit erste Praxis
ohne Grenzen. Inzwischen ist nicht nur diese Praxis fest etabliert und
wird von vielen hilfsbedürftigen Menschen aufgesucht. Auch in
Pinneberg, Stockelsdorf, Neustadt, Rendsburg, Preetz, Husum und
Flensburg gibt es inzwischen Praxen ohne Grenzen, in denen viele Ärzte
aus Schleswig-Holstein ehrenamtlich arbeiten. In Hamburg hat sich
ebenfalls eine Praxis ohne Grenzen etabliert. Vergleichbare
Einrichtungen existieren laut Denker außerdem in Solingen und Mainz,
demnächst auch in Remscheid und Karlsruhe.
Denker warnte in Rendsburg vor der Einstellung, dass mit der wachsenden Zahl an Standorten die Probleme für die Betroffenen behoben seien. Im Gegenteil: Je mehr Standorte mit Praxen ohne Grenzen, desto größer ist der Bedarf - und damit müsste eigentlich auch der politische Druck steigen, Lösungen zu finden. Denker wünscht sich, dass die staatlichen Regelungen die Hilfsbedürftigen so gut auffangen, dass die Praxen ohne Grenzen schließen könnten: "Wir fordern eine politische Lösung ein. Unser Ziel ist es, dass wir überflüssig werden. Wir dürfen nicht selbstverständlich werden", sagte Denker auf dem Treffen in Rendsburg.
Menschen, die in den Praxen ohne Grenzen Hilfe suchen, stammen Denker zufolge meist aus der Mittelschicht und sind aus unterschiedlichen Gründen in wirtschaftliche Not geraten. Folge ist meist, dass sie ihre Beiträge zur Krankenversicherung nicht mehr zahlen können. Deshalb suchen die Patienten keine Arztpraxen mehr auf und verschlimmern damit ihre Erkrankungen. In den PoG wird ihnen unbürokratisch geholfen. Allerdings stehen die Praxen vor dem Problem, dass auch extrem teure Behandlungen anfallen. Die Standorte sind finanziell sehr unterschiedlich aufgestellt, verzeichnen unterschiedlich hohe Spendenaufkommen und verfügen nicht alle über eine gute Klinikanbindung, über die solche Untersuchungen abgedeckt werden können. Die Flensburger PoG hat dafür die Regelung getroffen, dass für einen Patienten maximal die Hälfte der gerade zur Verfügung stehenden Spendensumme ausgegeben werden darf. Die Vertreter zeigten sich einig darin, dass im Extremfall eine Praxis ohne Grenzen auch bis zur Zahlungsunfähigkeit gehen sollte, um einem erkrankten Menschen zu helfen.
Die Ärzte in den PoG arbeiten unter unterschiedlichen Bedingungen, Träger und Ausstattung unterscheiden sich. Die Hamburger Praxis ohne Grenzen verfügt über eine komplette Etage, die ihr kostenfrei zur Verfügung gestellt wird. Dort gibt es mehrere fachärztliche Behandlungen und eine Sozialberatung. Insgesamt 40 Ärzte sind dort engagiert. Während in der Metropole vorwiegend behandlungsbedürftige Ausländer in die Praxis ohne Grenzen kommen, sind es in Schleswig-Holstein eher deutsche Mittelständler. Auch der Andrang ist unterschiedlich. An einigen Standorten ist nur alle 14 Tage eine Sprechstunde erforderlich, die von ein bis drei Patienten angenommen wird. In Bad Segeberg spürt man dagegen den steigenden Bekanntheitsgrad an einem höheren Patientenaufkommen. Auch viele Menschen aus anderen Bundesländern und Ausländer kommen dorthin. "Wir sind angekommen, dafür braucht man vier bis fünf Jahre", sagt Denker. Das gilt auch für die Zusammenarbeit mit Fachärzten, Kliniken und anderen Gesundheitsberufen. Ärzte der meisten Standorte berichteten in Rendsburg von großer Unterstützungsbereitschaft. Lücken gibt es trotzdem, so würde etwa die Stockelsdorfer PoG bei Bedarf gerne an einen Zahnarzt weitervermitteln, der unentgeltlich helfen könnte.
Neben der Finanzierung ihrer Arbeit müssen sich die Praxen ohne Grenzen auch mit Problemen beschäftigen, denen sich jede Arztpraxis stellen muss. Hygienebestimmungen, Gerätebetreiberverordnung, Haftpflichtversicherungen - hier wünschen sich die Ehrenamtler Unterstützung und Entgegenkommen. Schwer lösbar ist für sie die Frage der Medikamentenabgabe. Zwar gibt es jede Menge Spenden, aber die strengen deutschen Verordnungen erschweren ihnen die Abgabe an die Patienten aus den PoG heraus. Auch die hohe Mehrwertsteuer auf Medikamente in Deutschland (19 Prozent) sollte nach Ansicht der PoG-Ärzte auf sieben Prozent gesenkt werden. Solche Forderungen wollen die Ärzte aus den PoG künftig stärker in die Öffentlichkeit tragen. "Wir müssen deutlicher werden", sagt Prof. Peter Ostendorf, Gründer der Hamburger Praxis ohne Grenzen. Er verweist auf den hohen Beitrag, den die PoG für die Gesellschaft leisten und leitet daraus auch den Anspruch ab, dass dies von öffentlichen Stellen honoriert werden sollte.
BUCH
"Medizin in einem reichen Land" lautet der Untertitel zum Buch "Praxis
ohne Grenzen", das in der Edition Wartenau von Dr. Uwe Denker
herausgegeben wurde. Denker beschreibt darin die Entstehung der PoG
und listet die wichtigsten Forderungen auf.
ISBN 978-3-941308-12-1
Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 12/2015
im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2015/201512/h15124a.htm
Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de
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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
68. Jahrgang, Dezember 2015, Seite 16
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.
veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Januar 2016
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